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Entscheidung im Pazifik:
Simon Füchtenschnieder widmet sich einer berühmten Meuterei und ihrer Nachgeschichte.
Im Jahr 1789 kam es zu einem Aufstand, der Seeschifffahrtsgeschichte schreiben würde: Die schon vorher nicht konfliktfrei verlaufene Reise der Bounty eskalierte in einer legendären Meuterei. Der Schauplatz war die Südsee, und die Aufgabe der Expedition war eigentlich gewesen, den Brotfruchtbaum von Tahiti in die Karibik zu bringen. Aber statt diese Mission zu erfüllen, setzten die Meuterer neunzehn Seeleute ihres Schiffes einschließlich des Kapitäns William Bligh in einem Beiboot aus, um sie herum nur der weite Pazifik. Während die Meuterer sich jetzt in die Klemme gebracht hatten, einen neuen Plan für den Rest ihres Lebens zu entwickeln, begann für die Ausgesetzten der Kampf ums Überleben.
Schon oft ist die Geschichte der Meuterei auf der Bounty erzählt worden, immer mit anderen Akzentuierungen. Auch der Bielefelder Historiker Simon Füchtenschnieder hat keine neuen Primärquellen oder grundstürzenden Einsichten, sondern vertraut dem unwiderstehlichen Mahlstrom der Ereignisse. Außerdem kann er immer noch ein paar populäre Geschichtsbilder abservieren, die vor allem das Kino des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgebracht hat. Denn an der Figur des Kapitäns Bligh entzweiten sich seit jeher die Gemüter: War er ein Tyrann an Bord oder im Gegenteil ein Meister seines nautischen Fachs?
Bligh hatte sein Schiff 1787 bekommen, und von Anfang an bohrte der Seewurm im Gebälk, mehr noch aber an der Mannschaftsmoral. Die Bounty war ein umgebautes Handelsschiff, das eigentlich für die Zahl der Männer zu klein war. Umso fataler war das Fehlen von Seesoldaten an Bord, die die daraus resultierenden Konflikte hätten unterdrücken können. So blieb alle Disziplinargewalt am Kapitän hängen, der darüber im offiziellen Logbuch des Schiffs chronologisch berichtete; außerdem konnte Füchtenschnieder noch Blighs bisher unveröffentlichtes privates Logbuch einsehen.
Bligh war bereits früh ungehalten über das Chaos in der britischen Admiralität, welches auf parallele Kriegsvorbereitungen gegen die Niederlande zurückging. Die dadurch verursachte wochenlange Verzögerung des Auslaufens setzte eine weitere Kette von Ärgernissen in Gang: In Teneriffa gab es wenig Nahrungsmittel und kein frisches Obst mehr; ebenso misslang die Passage beim sturmumtosten Kap Horn. Nach wochenlangen Versuchen, hier in den Pazifik zu gelangen, musste Bligh letztlich die Gegenrichtung einschlagen und segelte ostwärts über das Kap der Guten Hoffnung und Tasmanien nach Tahiti. Ein enormer Zeitverlust, zu schweigen von der Demoralisierung der Mannschaft.
Dass es auf Tahiti ausgesprochen schön war, während man auf das Wachsen der Setzlinge wartete, machte nach fünfeinhalb Monaten Aufenthalt die Rückkehr an Bord nicht leichter. Die Seemänner readaptierten sich nicht mehr an die maritime Disziplin, die Bligh von ihnen forderte und die durch die sogenannten Kriegsartikel (die an Bord gültigen Strafgesetze) geschützt war. Statt sich seiner Befehlsgewalt zu fügen, setzte ein Teil der Mannschaft ihn in einem weitgehend ungeplanten Handstreich ab (ausgerechnet bei den Freundschaftsinseln), wobei der nächtliche Alkoholisierungsgrad eine ermutigende Rolle gespielt hatte. Aufstände und Streiks hatte es in der Seefahrtsgeschichte zahllose Male gegeben - Füchtenschnieder zählt allein 150 Meutereien für die Jahre 1789 bis 1802 auf einzelnen Schiffen der britischen, niederländischen und französischen Marine -, hier aber machten die besonderen Umstände aus der Revolte eine einzigartige Szene der Seefahrtsgeschichte.
Dem skandalöserweise ausgebooteten Kapitän Bligh gelang es gegen alle Wahrscheinlichkeit, auf seinem winzigen, überladenen Gefährt 6700 Kilometer westlich zu segeln und im Niederländisch-Ostindischen Timor einen sicheren Hafen für seine völlig erschöpften, ausgehungerten und teilweise vom Tod gezeichneten Männer zu finden. Sechs würden die Strapazen nicht überleben. Von Batavia ging es weiter nach England, die Admiralität wurde über das unerhörte Ereignis benachrichtigt. Sie schickte eine Strafexpedition aus, die im weiten Pazifik nach den Meuterern suchen sollte.
Ob Bligh selbst verschuldet Opfer der Meuterei geworden war, ist bis heute eine offene Frage. Das Kriegsgericht der Admiralität sprach ihn 1790 jedenfalls juristisch frei; aber sogleich begann ein medialer Propagandafeldzug der Gegenseite, weil auch die Familien der Meuterer über Netzwerke verfügten, die sie mobilisieren konnten. Noch die Spielfilme schmückten 150 Jahre später die autoritäre Seite des Kapitäns so aus, dass er zum empathielosen, pedantischen Schiffstyrann mutierte, gegen den Widerstand jedenfalls moralisch gerechtfertigt war. Füchtenschnieder urteilt situativ und vermeidet eine Gesamtnote im Kapitänszeugnis.
Bereits 1791 fährt Bligh wieder zur See, und es ist tatsächlich seine Chance, den ursprünglichen Auftrag des Pflanzentransfers zu erfüllen: Immer noch sollen Brotfruchtbaum-Setzlinge vom Pazifik zu den Westindischen Inseln geschafft werden. Hier spiegelt sich das zu Ende gehende Zeitalter der Entdeckungen, über das Füchtenschnieder sachlich und nicht ohne Lehrbuchton informiert: Denn die englische Seeherrschaft verbindet im späten achtzehnten Jahrhundert ihre aufklärerische Neugier mit kapitalistischen Motiven. Bligh soll nicht nur wie schon Cook zuvor die noch unbekannten Weltgegenden kartographieren und naturkundlich erforschen, sondern soll gerade auch ein zutiefst mit der atlantischen Sklavenwirtschaft verbundenes Problem für die englische Krone lösen.
Der Abfall der Kolonien in Nordamerika hatte die Versorgungslage auf den höchst rentablen Zuckerrohrplantagen der Karibik infrage gestellt. Die Engländer hoffen, die Sklaven könnten sich stattdessen billig und autonom durch den Brotfruchtbaum ernähren, Bligh soll daher ausreichend Setzlinge um die halbe Welt schiffen. Dieser zweite Anlauf wird gelingen, weil die Admiralität aus den Fehlern vom ersten Mal gelernt hat. Das Schiff ist größer, für die Disziplinierung sind Seesoldaten an Bord, und auch die empfindlichen Pflanzen profitieren von der Professionalisierung maritimer Logistik. Das Schiff war ein schwimmendes Gewächshaus, urteilt Füchtenschnieder. Bloß weigern sich die Sklaven auf den karibischen Plantagen, ihre Ernährungsgewohnheiten auf die Brotfrucht umzustellen.
Die im Pazifik zurückgebliebenen Meuterer haben dramatische Schicksale. Sie versuchen zunächst auf einer polynesischen Insel eine Siedlung zu errichten, es kommt zweimal zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Indigenen, man tauft den Ort Blood Bay. Sie kehren nach Tahiti zurück, um Nutztiere zu erwerben, aber sie entführen dabei auch Einheimische. Sechzehn Meuterer bleiben freiwillig auf Tahiti zurück. Dort werden sie 1791 zur leichten Beute der britischen Admiralität, die sie aufspürt und 1792 daheim vors Kriegsgericht bringt. Zehn Angeklagte sind nach dem Rücktransport inklusive Schiffbruch übrig geblieben: Vier Freisprüchen für erwiesenermaßen unschuldige Seemänner, die gegen ihren Willen zur Meuterei gezwungen worden waren, stehen sechs Todesurteile gegenüber, von denen die Hälfte vollstreckt wurde. Drei Meuterer wurden begnadigt.
Der letzte Rest der Meuterer aber hatte sich auch von Tahiti abgesetzt und findet 1790 schließlich endgültige Zuflucht auf einer höchst einsam gelegenen und auf damaligen Karten falsch verzeichneten Insel im Pazifik: Auf Pitcairn bleiben sie jahrzehntelang unentdeckt und tragen weitere tödliche Konflikte untereinander und mit den von ihnen unterwegs versklavten Indigenen aus. In dieser ozeanischen Isolation vermag die schließlich stark dezimierte Zwangsgemeinschaft von Polynesierinnen und Meuterern ganze Zeitalter zu überdauern; ihre unmittelbaren Nachkommen finden sich auch noch heute dort. Die Bounty hatten die Meuterer in der Brandung versenkt, die Nachkommen reinszenieren heute jährlich ihre endgültige Aufgabe, indem sie Modellschiffe in Brand setzen.
Füchtenschnieder erzählt seine Geschichte nicht chronologisch, was dem Spannungsbogen leider den frischen Wind aus den Segeln nimmt. Das Buch beginnt mit einem "Prolog", der einen ersten Durchgang der Ereignisse bietet. Danach folgen in einzelnen Kapiteln schlaglichtartige Vertiefungen thematischer Kontexte, bevor am Ende ein Epilog folgt. So durchsegelt man also einmal alles in höchster Geschwindigkeit, um dann ein langsameres zweites Mal gegen den Wind kreuzend zu den Sachthemen zurückzukehren. Auch eine Strukturierung des Texts mit mehr Absätzen hätte geholfen. Ein anderer Verzicht erweist sich hingegen als Profit: Keiner der berühmten Südsee-Orte ist mit Fotos vertreten - sie hätten nur ein allzu idyllisches Bild von dieser maritimen Kriminal- und Passionsgeschichte entworfen. MILOS VEC
Simon Füchtenschnieder: "Meuterei im Paradies". Die Fahrt der Bounty und die globale Wirtschaft
im 18. Jahrhundert.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024.
304 S., Abb., geb.,
25,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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