In seinem faktenbasierten Buch liefert der Migrations-Experte Hein de Haas Wissen statt Meinung zu einem der drängendsten und umstrittensten Themen unserer Gegenwart: Migration. »Das Migrationsaufkommen ist so hoch wie nie zuvor«, »Die Klimakrise wird zu einer Massenmigration führen«, »Wenn der Wohlstand in Herkunftsländern wächst, wird es weniger Migration geben«. Hein de Haas zeigt: All das sind Mythen, die zwar gerne von Politik und Medien verbreitet werden, aber jeglicher Faktengrundlage entbehren. Ausgehend von jahrzehntelanger Forschung bringt er Klarheit in die Gemengelage von Panikmache und naivem Optimismus und räumt mit 22 gängigen Mythen auf. Er zeigt: Migration ist weder ein Problem, das gelöst werden müsste, noch eine Lösung für andere Probleme. Auf Basis unzähliger Daten erklärt Hein de Haas, wie Migration wirklich funktioniert und befähigt uns, fundierte und differenzierte Debatten führen zu können - jenseits von politischen oder ideologischen Interessen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dieses Buch von Hein de Haas scheint dem Rezensenten Tim Niedorf dazu geeignet, eine ganze Reihe vermeintlicher Wahrheiten über Migration in Frage zu stellen. Von den 22 Mythen des Titels, denen sich der Soziologe widmet, stellt Niedorf drei vor. Linksliberale könnte irritieren, dass de Haas Migration insbesondere nach Europa in Folge des Klimawandels für unwahrscheinlich hält, lesen wir, und auch, dassEntwicklungshilfe seiner Meinung nach Migration oft nicht stoppt, sondern befördert - und zwar weil nicht die Menschen aus den ärmsten Ländern auswandern, sondern bis zu einem gewissen Punkt mehr Wohlstand zu mehr Migration führt, liest Niedorf. Aber auch konservative vermeintliche Wahrheiten über Migration werden vom Autor hinterfragt, etwa wenn dargestellt wird, dass Versuche, Migration zu begrenzen, oft nicht zu weniger, sondern zu mehr Migration führen, fährt der Kritiker fort. Auch mit Blick auf die aktuelle Situation in der Ukraine und mögliche weitere ukrainische Flüchtlinge ist gerade letztere These interessant, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.02.2024Kein Grund zur Panik
Der niederländische Soziologe Hein de Haas räumt mit 22 populären Mythen zur Migration auf.
Mit konservativer Abschottungspolitik geht er ins Gericht – aber auch mit linken Versprechungen.
VON JAN BIELICKI
Es ist ein Thema, das die Menschen bewegt. Wenn es um Migration geht, schlagen Emotionen hoch – und wenn das passiert, müssen Fakten oft hintanstehen. Und so grassieren gerade in dieser Debatte „einseitige, holzschnittartige und oftmals falsche Vorstellungen von Migration, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun haben“, schreibt Hein de Haas.
Der niederländische Migrationsforscher, Professor an den Universitäten Amsterdam und Maastricht und zuvor lange Wissenschaftler an der britischen Elite-Uni Oxford, will damit aufräumen. „Migration“ heißt so schlicht wie ambitioniert das Buch, mit dem er das versucht. 22 populäre Mythen hat er erkannt und analysiert und will zeigen, „was wirklich hinter ihnen steckt“.
Das ist ihm über weite Strecken gelungen. Sein Buch ist ein gut lesbarer, stellenweise womöglich allzu leidenschaftlich geschriebener Aufruf, die von der Wissenschaft gesammelten Daten, Zahlen und Forschungsergebnisse in einer von Schwarz-Weiß-Klischees geprägten Debatte wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Und was lässt sich aus diesen Fakten schließen? „Als Allererstes: Es gibt keinen Grund zur Panik.“
Nein, so belegt er, wir leben nicht in einer Zeit, in der Migration immer neue Rekorde erreicht. Seit Jahrzehnten liegt die Zahl der internationalen Migranten, die im Ausland leben, bemerkenswert stabil bei drei Prozent der Weltbevölkerung. Gemessen daran begaben sich zwischen 1850 und 1950 vermutlich deutlich mehr Menschen auf Wanderschaft. Der Unterschied: Damals waren die meisten dieser Migranten Europäer, heute ist Europa Ziel vieler Einwanderer. Allerdings eben bei Weitem nicht aller: 80 Prozent aller Migranten bleiben im eigenen Land, und die, die sich über Grenzen wagen oder gar den Kontinent wechseln, sind nicht die Verelendeten, sondern diejenigen, die sich die teure Reise leisten können. Deswegen, so de Haas, lassen sich Fluchtursachen auch nicht mit Entwicklungshilfe bekämpfen.
Besonders lesenswert macht das Buch, dass sein Autor nicht wie viele andere mit einem eurozentrischen Auge auf ein angebliches Problem blickt, sondern die Perspektiven der Menschen beschreiben kann, die durch Auswanderung ihrem Leben eine Wende zum Besseren geben wollen.
De Haas hat nämlich jahrelang in Marokko gelebt und auch in Zentralamerika geforscht. Aus dieser Erfahrung heraus hat er das Hauptmotiv der Migranten ausgemacht: die Chance, am Ziel der Reise mit harter Arbeit das Leben für sich und die Familie verbessern zu können. Das ist möglich, weil die Nachfrage nach Arbeit in den reichen Ländern des Nordens steigt, und zwar nicht nur nach hochgebildeten Fachkräften, sondern gerade in oft gering bezahlten Berufen wie Erntehelfer, Gebäudereiniger oder Pflegekraft. Und weil die Wirtschaft auf die Zuwanderer angewiesen ist, haben die Regierungen in Europas und Nordamerika Migration immer mehr erleichtert – oft der eigenen Rhetorik zum Trotz und ganz egal, ob sie jetzt von linken oder von rechten Parteien gestellt wurden, wie die Auswertungen des Soziologen zeigen.
Weil aber dem Bedarf der Wirtschaft nach Arbeitskräften der Wunsch vieler Einheimischer entgegensteht, die Zuwanderung zu begrenzen, verfallen Politiker auf Maßnahmen, die de Haas für zum Scheitern verurteilte Scheinlösungen hält. Die teuren Versuche der EU und der USA, ihre südlichen Grenzen dichtzumachen, führt seinen Beobachtungen zufolge dazu, dass es nicht weniger, sondern mehr, auch irreguläre, Migration gibt.
Nicht nur sind Migranten mangels legaler Wege ins Zielland immer mehr auf die Dienstleistungen von Schleusern angewiesen, auch machen sich viele auf, bevor sich die Tore weiter schließen. Viele andere, die bereits da sind, reisen nicht mehr zurück und holen ihre Familien nach, aus berechtigter Furcht, vor geschlossenen Grenzen zu stehen und ihren Lebensunterhalt zu verlieren. Derartige Abschottungspolitik verschärft de Haas zufolge daher die Probleme, die sie zu bekämpfen vorgibt. Dass offenere Grenzen nicht unbedingt Massen von Migranten zur Folge haben, zeige die EU selbst: Als sie die Freizügigkeit zwischen Ost- und Westeuropa einführte, wirkte sich das trotz erheblicher Lohnunterschiede kaum auf die Migrationsbewegung aus. Diese war längst vorher im Gange.
De Haas ist dabei kein Träumer. Er spricht sich für die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber aus und er räumt viele Argumente linker Migrationsbefürworter ab. Sowenig er konservative Befürchtungen durch Zahlen belegt sieht, Migranten würden Arbeitsmarkt und Sozialstaat in nennenswertem Umfang belasten, so wenig hält er Migration für die Lösung von deren Problemen. Mit Migranten allein lassen sich demografische Lücken nicht stopfen. Auch der so modischen wie katastrophenseligen These, die Klimakrise könnte viele Millionen Menschen in Bewegung bringen, tritt er wissenschaftlich gut begründet entgegen.
Vor allem aber richtet er die Aufmerksamkeit darauf, wem – außer den Zuwanderern selbst – die Migration nützt. In den Zielländern sieht er als Nutznießer die Wirtschaft und Menschen der Mittel- und Oberschicht, denen Migranten in vielerlei Rollen zu Diensten sind. Die Lasten von Migration aber haben die ärmsten zehn Prozent zu tragen, etwa in der Konkurrenz um günstigen Wohnraum. Für de Haas ist Migration aber nicht Ursache solcher gesellschaftlichen Verwerfungen, sondern Spiegelbild der Zustände: „In einer echten Migrationsdebatte geht es immer auch darum, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen.“
Sein aufrüttelndes, aber auch beruhigendes Buch ist eine gute Basis für diejenigen, die eine solche Debatte faktenbasiert führen wollen.
Die Stärke der Analyse
besteht im Abschied vom
eurozentrischen Ansatz
In Europa nicht immer so willkommen: Bootsflüchtlinge auf der Kanareninsel El Hierro im Oktober 2023.
Foto: AFP
Hein de Haas:
Migration.
22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. Aus dem Niederländischen von Jürgen Neubauer. S. Fischer Verlage, Frankfurt 2023.
512 Seiten, 28 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der niederländische Soziologe Hein de Haas räumt mit 22 populären Mythen zur Migration auf.
Mit konservativer Abschottungspolitik geht er ins Gericht – aber auch mit linken Versprechungen.
VON JAN BIELICKI
Es ist ein Thema, das die Menschen bewegt. Wenn es um Migration geht, schlagen Emotionen hoch – und wenn das passiert, müssen Fakten oft hintanstehen. Und so grassieren gerade in dieser Debatte „einseitige, holzschnittartige und oftmals falsche Vorstellungen von Migration, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun haben“, schreibt Hein de Haas.
Der niederländische Migrationsforscher, Professor an den Universitäten Amsterdam und Maastricht und zuvor lange Wissenschaftler an der britischen Elite-Uni Oxford, will damit aufräumen. „Migration“ heißt so schlicht wie ambitioniert das Buch, mit dem er das versucht. 22 populäre Mythen hat er erkannt und analysiert und will zeigen, „was wirklich hinter ihnen steckt“.
Das ist ihm über weite Strecken gelungen. Sein Buch ist ein gut lesbarer, stellenweise womöglich allzu leidenschaftlich geschriebener Aufruf, die von der Wissenschaft gesammelten Daten, Zahlen und Forschungsergebnisse in einer von Schwarz-Weiß-Klischees geprägten Debatte wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Und was lässt sich aus diesen Fakten schließen? „Als Allererstes: Es gibt keinen Grund zur Panik.“
Nein, so belegt er, wir leben nicht in einer Zeit, in der Migration immer neue Rekorde erreicht. Seit Jahrzehnten liegt die Zahl der internationalen Migranten, die im Ausland leben, bemerkenswert stabil bei drei Prozent der Weltbevölkerung. Gemessen daran begaben sich zwischen 1850 und 1950 vermutlich deutlich mehr Menschen auf Wanderschaft. Der Unterschied: Damals waren die meisten dieser Migranten Europäer, heute ist Europa Ziel vieler Einwanderer. Allerdings eben bei Weitem nicht aller: 80 Prozent aller Migranten bleiben im eigenen Land, und die, die sich über Grenzen wagen oder gar den Kontinent wechseln, sind nicht die Verelendeten, sondern diejenigen, die sich die teure Reise leisten können. Deswegen, so de Haas, lassen sich Fluchtursachen auch nicht mit Entwicklungshilfe bekämpfen.
Besonders lesenswert macht das Buch, dass sein Autor nicht wie viele andere mit einem eurozentrischen Auge auf ein angebliches Problem blickt, sondern die Perspektiven der Menschen beschreiben kann, die durch Auswanderung ihrem Leben eine Wende zum Besseren geben wollen.
De Haas hat nämlich jahrelang in Marokko gelebt und auch in Zentralamerika geforscht. Aus dieser Erfahrung heraus hat er das Hauptmotiv der Migranten ausgemacht: die Chance, am Ziel der Reise mit harter Arbeit das Leben für sich und die Familie verbessern zu können. Das ist möglich, weil die Nachfrage nach Arbeit in den reichen Ländern des Nordens steigt, und zwar nicht nur nach hochgebildeten Fachkräften, sondern gerade in oft gering bezahlten Berufen wie Erntehelfer, Gebäudereiniger oder Pflegekraft. Und weil die Wirtschaft auf die Zuwanderer angewiesen ist, haben die Regierungen in Europas und Nordamerika Migration immer mehr erleichtert – oft der eigenen Rhetorik zum Trotz und ganz egal, ob sie jetzt von linken oder von rechten Parteien gestellt wurden, wie die Auswertungen des Soziologen zeigen.
Weil aber dem Bedarf der Wirtschaft nach Arbeitskräften der Wunsch vieler Einheimischer entgegensteht, die Zuwanderung zu begrenzen, verfallen Politiker auf Maßnahmen, die de Haas für zum Scheitern verurteilte Scheinlösungen hält. Die teuren Versuche der EU und der USA, ihre südlichen Grenzen dichtzumachen, führt seinen Beobachtungen zufolge dazu, dass es nicht weniger, sondern mehr, auch irreguläre, Migration gibt.
Nicht nur sind Migranten mangels legaler Wege ins Zielland immer mehr auf die Dienstleistungen von Schleusern angewiesen, auch machen sich viele auf, bevor sich die Tore weiter schließen. Viele andere, die bereits da sind, reisen nicht mehr zurück und holen ihre Familien nach, aus berechtigter Furcht, vor geschlossenen Grenzen zu stehen und ihren Lebensunterhalt zu verlieren. Derartige Abschottungspolitik verschärft de Haas zufolge daher die Probleme, die sie zu bekämpfen vorgibt. Dass offenere Grenzen nicht unbedingt Massen von Migranten zur Folge haben, zeige die EU selbst: Als sie die Freizügigkeit zwischen Ost- und Westeuropa einführte, wirkte sich das trotz erheblicher Lohnunterschiede kaum auf die Migrationsbewegung aus. Diese war längst vorher im Gange.
De Haas ist dabei kein Träumer. Er spricht sich für die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber aus und er räumt viele Argumente linker Migrationsbefürworter ab. Sowenig er konservative Befürchtungen durch Zahlen belegt sieht, Migranten würden Arbeitsmarkt und Sozialstaat in nennenswertem Umfang belasten, so wenig hält er Migration für die Lösung von deren Problemen. Mit Migranten allein lassen sich demografische Lücken nicht stopfen. Auch der so modischen wie katastrophenseligen These, die Klimakrise könnte viele Millionen Menschen in Bewegung bringen, tritt er wissenschaftlich gut begründet entgegen.
Vor allem aber richtet er die Aufmerksamkeit darauf, wem – außer den Zuwanderern selbst – die Migration nützt. In den Zielländern sieht er als Nutznießer die Wirtschaft und Menschen der Mittel- und Oberschicht, denen Migranten in vielerlei Rollen zu Diensten sind. Die Lasten von Migration aber haben die ärmsten zehn Prozent zu tragen, etwa in der Konkurrenz um günstigen Wohnraum. Für de Haas ist Migration aber nicht Ursache solcher gesellschaftlichen Verwerfungen, sondern Spiegelbild der Zustände: „In einer echten Migrationsdebatte geht es immer auch darum, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen.“
Sein aufrüttelndes, aber auch beruhigendes Buch ist eine gute Basis für diejenigen, die eine solche Debatte faktenbasiert führen wollen.
Die Stärke der Analyse
besteht im Abschied vom
eurozentrischen Ansatz
In Europa nicht immer so willkommen: Bootsflüchtlinge auf der Kanareninsel El Hierro im Oktober 2023.
Foto: AFP
Hein de Haas:
Migration.
22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt. Aus dem Niederländischen von Jürgen Neubauer. S. Fischer Verlage, Frankfurt 2023.
512 Seiten, 28 Euro.
E-Book: 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2024Alles Wissenswerte über Migration
Kommen bald Millionen Klimaflüchtlinge zu uns? Und ist eine Begrenzung möglich? Bei diesem Buch werden Linksliberale als auch Konservative ein ums andere Mal stutzen.
Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis Deutschland über eine Frage diskutiert, die bisher nur am Rande gestellt wurde: Sollten auch Ukrainer künftig Asylanträge stellen müssen? Denn bisher gilt für sie eine europäische Sonderregel, sodass Schutzsuchende aus dem von Russland überfallenen Land hierzulande direkt Bürgergeld erhalten. Aufgeworfen haben die Frage schon die Freistaaten Sachsen und Bayern. Sollte sich daraus ein ernsthafter Meinungsstreit entspinnen, könnten sich die verantwortlichen Politiker das jüngste Buch des niederländischen Migrationsforschers Hein de Haas auf ihren Schreib- oder Nachttisch legen. Wer es durchliest, wird auf interessante Gedanken, Beispiele und Argumente stoßen, die auch auf künftige Debatten anwendbar sind. Dazu gehören eben die Asylfrage und die Ukrainer - aber der Reihe nach.
Hein de Haas, Professor in Amsterdam und Maastricht, liefert mit "Migration - 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt" ein spannend erzähltes Werk, das komplexe Sachverhalte in verständlicher Sprache abhandelt. So ist das Buch nicht nur etwas für Politiker und Fachleute, sondern auch für all jene, die sich einfach so für das Thema Migration interessieren. Indem der Autor bekannte Migrationsthesen auseinandernimmt und sie als Mythos zu entlarven versucht, stößt er wohl Linksliberale und Konservative gleichermaßen vor den Kopf. Das ist eine der Stärken des Buchs: Jeder Leser und jede Leserin, gleich welcher politischen Richtung, wird die eigenen Vorstellungen von Migration während der Lektüre hinterfragen. Ob man am Ende alle Einschätzungen des Autors teilt, ist dabei zweitrangig.
Eine weit verbreitete These oder, wie de Haas schreibt, ein populärer Mythos betrifft die Auswirkungen des Klimawandels. Immer wieder tauchen Prognosen auf, bald machten sich Millionen Klimaflüchtlinge auf den Weg nach Europa. Schon der BBC-Fernsehfilm "Der Marsch" aus dem Jahr 1990 entwarf dieses Szenario, heute benutzen etwa die Aktivisten von Fridays for Future es als Argument für ihre Anliegen. Migrationsforscher de Haas aber nennt fünf Gründe, warum die Klimamassenfluchtthese aus seiner Sicht haltlos ist: Menschen können sich an langsame Veränderungen anpassen (1), sie können sich schützen, indem sie etwa Dämme bauen (2), sie müssen wegen einer Überschwemmung nicht weit fliehen (3), sie verlassen ihre Heimat meist nur vorübergehend, weil sie an ihr hängen (4), und sie haben meist gar nicht das Geld, um Hunderte Kilometer weiterzuziehen (5).
De Haas beschreibt in diesem Zusammenhang interessante Erfahrungen aus Marokko, wo er Feldforschung betrieb. Menschen aus wasserreichen Regionen gehen demnach häufiger nach Europa, andere ziehen eher in die Städte. Das deckt sich mit Recherchen dieser Zeitung in Bangladesch, wo Menschen wegen klimatischer Veränderungen oder Umweltkatastrophen vor allem in die Hauptstadt Dhaka ziehen. Geld für die Reise nach Europa (und für Schleuser) haben diese Menschen nicht, erst recht nicht, nachdem sie ihr bescheidenes Hab und Gut verloren haben. Selbst der UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sagte im vergangenen Jahr der F.A.Z., er halte nichts vom Begriff Klimaflüchtling. Flucht habe meist mehrere Ursachen, sagte er, und das schreibt auch de Haas. Wobei sich, das sollte man ergänzen, für klimabedingte Binnenmigration schon heute genug Beispiele auf der Welt finden lassen, etwa in den Slums von Dhaka.
Eine andere These, die sich de Haas vorknöpft, ist die, dass sich Migration durch Entwicklungshilfe eindämmen lässt. Diese These erfreute sich besonders vor rund zehn Jahren großer Beliebtheit, als außergewöhnlich viele Asylsuchende in Europa ankamen. Warum nicht also mit Entwicklungsgeld Flucht und Migration vorbeugen? Klingt auf den ersten Blick doch logisch.
"Tatsächlich ist das genaue Gegenteil der Fall", schreibt de Haas. "Wirtschaftliche Entwicklung führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Auswanderung." Auch an dieser Stelle greift der Autor auf seine Erfahrungen aus seiner Feldforschung in Marokko zurück. Und er bringt es auf einen Punkt: "Wenn Armut wirklich zu Migration führt, wie erklären wir uns dann die Tatsache, dass so wenige Menschen aus den ärmsten Ländern der Welt, zum Beispiel aus Subsahara-Afrika, in den Westen abwandern?"
Erst von einem bestimmten Punkt an nimmt Migration demnach wieder ab. Nämlich dann, wenn die Gebildeten und einigermaßen Wohlhabenden in ihrer Heimat attraktive Möglichkeiten haben. De Haas verweist auf den Wirtschaftswissenschaftler Michael Clemens, der herausgefunden hat, dass die Auswanderung erst bei einem kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt von etwa 10.000 Dollar je Kopf abnimmt.
Bei den Themen Klimaflucht und Entwicklungshilfe provoziert der Migrationsforscher Linksliberale. Aber auch die Konservativen werden manches Mal stutzen. Etwa beim Thema Begrenzung.
Oft führten Begrenzungsversuche gar zu mehr Migration, schreibt de Haas. Und er nennt Beispiele. Einst, schreibt der Autor, durften Marokkaner, Tunesier und Algerier frei nach Südeuropa einreisen, fanden dort Arbeit für ein paar Monate und kehrten immer wieder in die Heimat zurück. Diese "zirkuläre Migration" fand ein Ende, als Anfang der Neunzigerjahre für nordafrikanische Länder eine Visumpflicht eingeführt wurde. Nun entschieden sich Migranten, dauerhaft etwa in Italien zu bleiben. So war es auch im Fall vieler Lateinamerikaner in den Vereinigten Staaten. Je schärfer das Grenzregime wurde, desto mehr Migranten entschieden sich, dauerhaft zu bleiben - und ihre Familien nachzuholen.
Im Extremfall, schreibt de Haas, könnten Verschärfungen auch eine "Torschluss-Migration", auslösen, so wie im Fall Surinam. Bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1975 konnten Surinamer problemlos in die Niederlande einreisen. Aus Angst vor Einreisebeschränkungen im Zuge der Unabhängigkeit zogen dann plötzlich 40 Prozent der Surinamer binnen eines Jahrzehnts in die Niederlande. Da fragt man sich als Leser unweigerlich: Was könnte wohl passieren, wenn Ukrainer nun in Deutschland Asylanträge stellen müssten? TIM NIENDORF
Hein de Haas: Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt.
S.Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 512 S., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kommen bald Millionen Klimaflüchtlinge zu uns? Und ist eine Begrenzung möglich? Bei diesem Buch werden Linksliberale als auch Konservative ein ums andere Mal stutzen.
Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis Deutschland über eine Frage diskutiert, die bisher nur am Rande gestellt wurde: Sollten auch Ukrainer künftig Asylanträge stellen müssen? Denn bisher gilt für sie eine europäische Sonderregel, sodass Schutzsuchende aus dem von Russland überfallenen Land hierzulande direkt Bürgergeld erhalten. Aufgeworfen haben die Frage schon die Freistaaten Sachsen und Bayern. Sollte sich daraus ein ernsthafter Meinungsstreit entspinnen, könnten sich die verantwortlichen Politiker das jüngste Buch des niederländischen Migrationsforschers Hein de Haas auf ihren Schreib- oder Nachttisch legen. Wer es durchliest, wird auf interessante Gedanken, Beispiele und Argumente stoßen, die auch auf künftige Debatten anwendbar sind. Dazu gehören eben die Asylfrage und die Ukrainer - aber der Reihe nach.
Hein de Haas, Professor in Amsterdam und Maastricht, liefert mit "Migration - 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt" ein spannend erzähltes Werk, das komplexe Sachverhalte in verständlicher Sprache abhandelt. So ist das Buch nicht nur etwas für Politiker und Fachleute, sondern auch für all jene, die sich einfach so für das Thema Migration interessieren. Indem der Autor bekannte Migrationsthesen auseinandernimmt und sie als Mythos zu entlarven versucht, stößt er wohl Linksliberale und Konservative gleichermaßen vor den Kopf. Das ist eine der Stärken des Buchs: Jeder Leser und jede Leserin, gleich welcher politischen Richtung, wird die eigenen Vorstellungen von Migration während der Lektüre hinterfragen. Ob man am Ende alle Einschätzungen des Autors teilt, ist dabei zweitrangig.
Eine weit verbreitete These oder, wie de Haas schreibt, ein populärer Mythos betrifft die Auswirkungen des Klimawandels. Immer wieder tauchen Prognosen auf, bald machten sich Millionen Klimaflüchtlinge auf den Weg nach Europa. Schon der BBC-Fernsehfilm "Der Marsch" aus dem Jahr 1990 entwarf dieses Szenario, heute benutzen etwa die Aktivisten von Fridays for Future es als Argument für ihre Anliegen. Migrationsforscher de Haas aber nennt fünf Gründe, warum die Klimamassenfluchtthese aus seiner Sicht haltlos ist: Menschen können sich an langsame Veränderungen anpassen (1), sie können sich schützen, indem sie etwa Dämme bauen (2), sie müssen wegen einer Überschwemmung nicht weit fliehen (3), sie verlassen ihre Heimat meist nur vorübergehend, weil sie an ihr hängen (4), und sie haben meist gar nicht das Geld, um Hunderte Kilometer weiterzuziehen (5).
De Haas beschreibt in diesem Zusammenhang interessante Erfahrungen aus Marokko, wo er Feldforschung betrieb. Menschen aus wasserreichen Regionen gehen demnach häufiger nach Europa, andere ziehen eher in die Städte. Das deckt sich mit Recherchen dieser Zeitung in Bangladesch, wo Menschen wegen klimatischer Veränderungen oder Umweltkatastrophen vor allem in die Hauptstadt Dhaka ziehen. Geld für die Reise nach Europa (und für Schleuser) haben diese Menschen nicht, erst recht nicht, nachdem sie ihr bescheidenes Hab und Gut verloren haben. Selbst der UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi sagte im vergangenen Jahr der F.A.Z., er halte nichts vom Begriff Klimaflüchtling. Flucht habe meist mehrere Ursachen, sagte er, und das schreibt auch de Haas. Wobei sich, das sollte man ergänzen, für klimabedingte Binnenmigration schon heute genug Beispiele auf der Welt finden lassen, etwa in den Slums von Dhaka.
Eine andere These, die sich de Haas vorknöpft, ist die, dass sich Migration durch Entwicklungshilfe eindämmen lässt. Diese These erfreute sich besonders vor rund zehn Jahren großer Beliebtheit, als außergewöhnlich viele Asylsuchende in Europa ankamen. Warum nicht also mit Entwicklungsgeld Flucht und Migration vorbeugen? Klingt auf den ersten Blick doch logisch.
"Tatsächlich ist das genaue Gegenteil der Fall", schreibt de Haas. "Wirtschaftliche Entwicklung führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Auswanderung." Auch an dieser Stelle greift der Autor auf seine Erfahrungen aus seiner Feldforschung in Marokko zurück. Und er bringt es auf einen Punkt: "Wenn Armut wirklich zu Migration führt, wie erklären wir uns dann die Tatsache, dass so wenige Menschen aus den ärmsten Ländern der Welt, zum Beispiel aus Subsahara-Afrika, in den Westen abwandern?"
Erst von einem bestimmten Punkt an nimmt Migration demnach wieder ab. Nämlich dann, wenn die Gebildeten und einigermaßen Wohlhabenden in ihrer Heimat attraktive Möglichkeiten haben. De Haas verweist auf den Wirtschaftswissenschaftler Michael Clemens, der herausgefunden hat, dass die Auswanderung erst bei einem kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt von etwa 10.000 Dollar je Kopf abnimmt.
Bei den Themen Klimaflucht und Entwicklungshilfe provoziert der Migrationsforscher Linksliberale. Aber auch die Konservativen werden manches Mal stutzen. Etwa beim Thema Begrenzung.
Oft führten Begrenzungsversuche gar zu mehr Migration, schreibt de Haas. Und er nennt Beispiele. Einst, schreibt der Autor, durften Marokkaner, Tunesier und Algerier frei nach Südeuropa einreisen, fanden dort Arbeit für ein paar Monate und kehrten immer wieder in die Heimat zurück. Diese "zirkuläre Migration" fand ein Ende, als Anfang der Neunzigerjahre für nordafrikanische Länder eine Visumpflicht eingeführt wurde. Nun entschieden sich Migranten, dauerhaft etwa in Italien zu bleiben. So war es auch im Fall vieler Lateinamerikaner in den Vereinigten Staaten. Je schärfer das Grenzregime wurde, desto mehr Migranten entschieden sich, dauerhaft zu bleiben - und ihre Familien nachzuholen.
Im Extremfall, schreibt de Haas, könnten Verschärfungen auch eine "Torschluss-Migration", auslösen, so wie im Fall Surinam. Bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1975 konnten Surinamer problemlos in die Niederlande einreisen. Aus Angst vor Einreisebeschränkungen im Zuge der Unabhängigkeit zogen dann plötzlich 40 Prozent der Surinamer binnen eines Jahrzehnts in die Niederlande. Da fragt man sich als Leser unweigerlich: Was könnte wohl passieren, wenn Ukrainer nun in Deutschland Asylanträge stellen müssten? TIM NIENDORF
Hein de Haas: Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt.
S.Fischer Verlag, Frankfurt 2023. 512 S., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So liefert de Haas Buch Argumente, die sowohl der Panikmache, als auch naiven Optimismus Fakten entgegenstellen. Unbedingt lesenswert. ARD (ttt - Titel, Thesen, Temperamente) 20240721
Dieses Buch von Hein de Haas scheint dem Rezensenten Tim Niedorf dazu geeignet, eine ganze Reihe vermeintlicher Wahrheiten über Migration in Frage zu stellen. Von den 22 Mythen des Titels, denen sich der Soziologe widmet, stellt Niedorf drei vor. Linksliberale könnte irritieren, dass de Haas Migration insbesondere nach Europa in Folge des Klimawandels für unwahrscheinlich hält, lesen wir, und auch, dassEntwicklungshilfe seiner Meinung nach Migration oft nicht stoppt, sondern befördert - und zwar weil nicht die Menschen aus den ärmsten Ländern auswandern, sondern bis zu einem gewissen Punkt mehr Wohlstand zu mehr Migration führt, liest Niedorf. Aber auch konservative vermeintliche Wahrheiten über Migration werden vom Autor hinterfragt, etwa wenn dargestellt wird, dass Versuche, Migration zu begrenzen, oft nicht zu weniger, sondern zu mehr Migration führen, fährt der Kritiker fort. Auch mit Blick auf die aktuelle Situation in der Ukraine und mögliche weitere ukrainische Flüchtlinge ist gerade letztere These interessant, findet der Rezensent.
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