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Absurde Prosa, hinter der gelegentlich harte Wirklichkeit durchschimmert: Jan Snela strapaziert die Sprache in einem "Bestiarium der Liebe".
Von Jan Wiele
Kann ein Buch gleichzeitig Verärgerung und Begeisterung auslösen? Jan Snela macht es möglich: Verärgert kann man über sein Debüt aus experimentellen Prosastücken sein, weil es vielfach wirkt, als hätte ein Poetry-Slam-Teilnehmer mangels eigener Einfälle sein Fremdwörterbuch ausgepresst beziehungsweise mit der Funktion "Thesaurus" in seinem Schreibprogramm für gängige Ausdrücke die sonderbarsten Synonyme gesucht. "Da und dort sah ich ihre lasziv lancierten Mouchoirs spärlichen Leuchtens übers Geschwapp der Wassermassen flirren, die sich an Bouquinistenbuden vorbei gen Westen wälzten." Wir befinden uns, wer hätte das gedacht, in Paris! Es flirrt oder flimmert hier auf fast jeder Seite; kein einziges Substantiv kommt ohne ein äußerst kokettes Adjektiv, kein Verb ohne ein sehr gesuchtes Adverb daher. Da reicht es nicht, wenn Füße nach Käse riechen, sondern "ein Duft von Cheddar entschwebt den Wandersocken", auch der Hauch aus dem Kühlschrank ist "wurstwürzig wehend".
Zudem herrscht ein Durcheinander verschiedener Sprachstufen und Stile, was womöglich auch parodistische Funktion haben soll: Barocke Derbheit steht neben bienensingenden, honiglallenden Lyrismen, diese wiederum neben kühnen Neologismen; gelegentlich wird der Ton antikisierend, dann wieder folgt fast dadaistisches Sprachspiel: "Talwärts rollend, lallten wir Lieder von Huld und Muld". Kurz: Es ist die völlige Überladung eines Textes mit Stilelementen. Ob auch die mitunter sehr eigenwillige Rechtschreibung und Grammatik immer poetischer Absicht folgt, ist die Frage. Woher kann da also noch Begeisterung kommen?
Wenn man einmal akzeptiert hat, dass Snela in jedem Satz seiner ganz klar für den mündlichen Vortrag ausgelegten Texte gezielt die Übertreibung sucht, immer die sprachliche Opulenz und nie die Sparsamkeit, fragt man sich unweigerlich, was diese dauernde Akrobatik eigentlich soll - und dann dämmert einem bei fortschreitender Lektüre, dass sie für manche Figuren vielleicht den letzten Ausweg aus Verzweiflung und Depression darstellt, auch wenn man die Indizien dafür in dem großen Sprachrausch leicht überliest.
Das beginnt mit der Titelgeschichte "Milchgesicht", mit welcher der 1980 geborene Snela im Jahr 2010 den "Open Mike"-Wettbewerb gewann. Ihr groteskes Setting - der Erzähler möchte ein Milchbad nehmen und geht, mittels eines Stirnbandes und einer hindurchgesteckten Schraube als Einhorn maskiert, zur Tankstelle, um die dort vorrätigen siebzehn Liter Milch aufzukaufen -, das damals das Publikum amüsierte, lässt leicht darüber hinwegsehen, welche im Text nur kurz geschilderte Wirklichkeit dem Ganzen zugrunde liegt: Dieser Erzähler wurde jüngst von seiner Freundin verlassen, die beim Auszug alles mitgenommen hat, vom Hochbett bis zum Sandwichmaker. Seine Suada ist ein trotziges Aufbäumen gegen die traurige Situation, und genauso geht es wohl auch der vom Scheitern bedrohten Hauptfigur in der noch stärker in der Phantastik beheimateten Geschichte "Das Wiesel". Sie erzählt von einem Doktoranden namens Henri, der, verkatert einer Studentenparty der letzten Nacht nachsinnend, die Bekanntschaft mit ebenjenem Wiesel macht. Das Tier wird ihm zum übernatürlichen, geliebten Begleiter und lässt ihn schließlich der Welt völlig abhandenkommen, auch er verliert seine Freundin und verwahrlost in seiner Wohnung, bis der Strom abgestellt wird und es von außen wild an die Tür hämmert.
So absurd diese Geschichte zunächst scheint, für die freilich der Befund der stilistischen Überladung genauso gilt, auch sie hat spärlich durchscheinende Momente einer bitteren Wirklichkeit. Die Nöte des sich in seinem Projekt verlierenden Doktoranden könnte man wohl kaum besser beschreiben: "Fanfarisch dudelnd fährt das Programm hoch, erscheint die Kennwortfrage, tippt er ,heuteplatzter' ins Weiß der Antwortleiste und meint den Knoten seiner vermaledeiten Doktorarbeit, der sich so langsam gordisch ausnimmt." Und während er auf den Bildschirm starrt, wird ihm ganz schwindlig angesichts der "dort abgelegten wild titulierten Textdateien", die sich " zusammenbrauen wie fette Wolken, die ihre Schatten auf die Schönwetterlandschaft des scharfen Bildes werfen, das er als Desktopfoto festgelegt hat".
Von solchen eleganten Darstellungen lebensweltlicher Situationen hätte man sich mehr gewünscht, doch Snela verfolgt offenbar ein rigides Programm der literarischen Phantastik: Als "Bestiarium der Liebe" ist der Band untertitelt, weil die Menschen darin zu Tieren werden ("Wir grunzten, schrien. Ich pflanzte Eichen, schwenkte mit Dengeln, zuzelte Zitzen") oder tierisch abgehen wie jene Frau aus der Geschichte "Die Alte", die, ihres arthrosegeplagten Daseins überdrüssig, sich aus Gardinenstangen, Vorhängen und ihrem Einkaufstrolley einen Flugdrachen baut, mit dem sie am Ende durch die Lüfte schwebt.
In einer Geschichte erreicht diese Phantastik auch die Qualität des Unheimlichen, wie man es bei Kafka oder jüngst in den Werken von Clemens J. Setz vorfindet: Sie erzählt von einem offenbar alleinlebenden Kind, das schwarzen Tabak raucht, die Zeit in der Schule für das Schreiben von Einkaufslisten nutzt und sich zu Hause im Ofen ein Ferkel brät. Die Absurdität der Tagtraumliteratur weicht hier einer Ahnung vom albtraumhaften Dasein vernachlässigter Kinder in der Wirklichkeit.
Dass Snela seine Texte dann auch noch zusätzlich überlädt mit Figuren der Literaturgeschichte (da wird jemand mit E. T. A. Hoffmanns Kater Murr verglichen, ohne dass sich erschlösse, warum; ein alter Besen trägt den Namen Klopstock), das ist nun wirklich zu viel. Aber es passt zum Grundgestus dieses Erzählens: Hier will einer partout nicht akzeptieren, dass der Alltag grau ist, und er stemmt sich mit allen Mitteln der Sprachphantasie dagegen, mag sie auch Kraut und Rüben gebären.
Jan Snela: "Milchgesicht". Ein Bestiarium der Liebe.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 182 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
über der Haltestelle
Jan Snelas Debüt mit dem Erzählband „Milchgesicht“
„Es war ein Mittwoch und Zeit für mein Milchbad.“ Einen Erstling so zu eröffnen, unter dem Titel „Milchgesicht“, dazu mit einem Autorenfoto, das diesem Titel entspricht, ist eine der Frechheiten, an denen man einen erkennt, der ungeniert seine Marke setzt. Aber noch deutlicher macht es die Sprache: „Die Tankstelle war ein schon von weitem zu spürendes Glimmen von kleinen Stängeln, ein Pulsen des Safts in den Schläuchen, ein Sich-Umdreh’n von Bäuchen, ein Kotzen von Schlangen in Tanks rein, ein in Gesichter geschriebenes Bangen, das Geld möge reichen.“
Kann man so über eine Tankstelle sprechen? Sind das nicht zu viele Bilder in einem Satz? Sollte sich der Autor nicht zwischen Schläuchen und Schlangen entscheiden? Hat das „Sich-Umdreh’n von Bäuchen“ spezifisch mit dem Tanken zu tun? All diese Fragen sind Jan Snela, 1980 in München geboren, offensichtlich ziemlich egal. Fantastisch einfallsreich fabuliert er drauflos – sein Buch ist eine wilde, erfrischende Angelegenheit, gerade in Zeiten von Selbstoptimierung und Überanpassung, auch bei Schriftstellern.
Für „Milchbad“ hat Snela schon 2010 den Preis „Open Mike“ erhalten, doch er hat sich Zeit gelassen, auch an den anderen Geschichten seines ersten Erzählbandes zu arbeiten. Handlung ist jeweils da, aber nicht entscheidend. Die Hauptrolle fällt der Sprachmusik zu; was thematisiert wird: „die Sprache hier, der Erinnerung, ordnet mir alles zu gleißender Gleichzeitigkeit, Assonanz, und ich will sie gewähren lassen.“ Die Assonanz wird zum Motor eines Stils, der sich neben Erstlingen, die vor allem nichts falsch machen wollen, fremd ausnimmt, aber doch seine Ahnen hat. Snelas Auftakt erinnert an Peter Weber und seinen hochmusikalischen „Wettermacher“, an Arno Geigers übersprudelnden Erstling „Kleine Schule des Karussellfahrens“ oder auch an Paul Nizons legendäre Rom-Beschwörung „Canto“, sie alle waren, je auf ihre eigene Art, auf den Spuren Robert Walsers unterwegs.
Sprach- und Erzählfantasie hilft, uralte Geschichten neu abzumischen. Snelas erste drei kurze Erzählungen handeln von der Liebe: In „Milchgesicht“ tröstet sich das Ich mit dem Ritual des Milchbads über den Verlust der Freundin hinweg, weshalb es dieses Milchgesicht zur Tankstelle treibt, um die dort vorhandenen siebzehn Liter zu kaufen – ein Abenteuer.
Im zweiten Text, „Neulich im Spooky Speaker“, sitzt der Erzähler früh um halb acht in der S-Bahn: „Draußen hing Nebel. Kauernde Häuser, Weiblein mit Kräuterkörben, die über Wiesen staksten, stakende Vogelscheuchen, verblurrte Kühe geisterten fad vorüber im Dunst der Diesigkeiten.“ Während man sich, ob der „verblurrten“ Kühe, noch die Augen reibt, sieht der Ich-Erzähler, der gerade in der Gespenster-Fachzeitschrift Spooky Speaker blättert, ein Mädchen: Vera. Ansatzlos „jubiliert“ er „in die Morgenhelle über dem Quai der Haltestelle.“ Die beiden fallen bald übereinander her, eine ekstatische Zeit im Austausch der Säfte beginnt, ohne stilistische Peinlichkeiten erzählt, bis Vera „ihr Geisterwesen (. . .)“ offenbart, sie schwingt sich „zum Fenster hinaus“, ist, materiell, wohl nie gewesen.
Snela hat es in der Liebe mit den Losern, die, weil sie sonst zu nichts kommen, übersinnliche Welten entdecken dürfen. In der dritten Geschichte, in Paris, sehen sich Protagonist und Protagonistin nach aufwendiger Vorbereitung eine Nacht lang an. Das bleibt unvergesslich.
Etwas weniger überzeugt folgt man Henri, dem Doktoranden, der auf einer Kostüm-Party ein Mädchen kennenlernt, das, wie es behauptet, „ein Tier sei“. Nach der Heimkehr am nächsten Morgen wieselt für diesen Henri plötzlich ein Wiesel herum – trotz Hermine, seiner Freundin, und ihres Mini Cooper. „Das Wiesel“ ist die umfangreichste Erzählung des Bandes, aber hier verheddert sich Snela etwas in seinen Scherzen. Man realisiert, wie wichtig der Plot auch bei dieser Art Schreiben sein kann. Wenn die Grundgeschichte an den Haaren herbeigezogen wirkt, wird es schwierig mit der Geduld.
Doch Snela kommt zurück. Auch im zweiten Teil des Erzählbandes gibt es Glanzstücke. Etwa „Die Alte“. Etwas weniger verspielt, aber nicht weniger grotesk als die Liebeserzählungen. Die Alte lebt beinahe nicht mehr, scheint kaum Kontakt zu anderen Menschen zu haben. Am Anfang wirkt die Geschichte, als solle die arme Frau einfach ziemlich trocken und böse fertiggemacht werden. Doch als die Protagonistin ein paar junge Drachenflieger trifft, ist sie auf einmal wie gebannt, entwickelt Energie. Ohne dass explizit gesagt würde, warum sie so begeistert ist.
Allmählich begreift man: Die Alte weiß, dass sie sterben wird, und will es wohl auch, aber auf ihre Weise. Sie will in den Himmel hoch, fliegen. Es gelingt, aber irgendwo bleibt sie hängen. Eine Wolke? Endlich begreift sie: „sie schwelgt im dickichtlichten, weichen, im Wind bewegten, erdnahsten Bartzipfel Gottes. Sie muss sich darin verfangen haben. Als er sich niederbeugte, nach ihr zu sehen.“
Ein weiterer Höhepunkt des zweiten Teils ist „Klopstock“. So der kalauernde Titel einer Geschichte, deren Held, ein Taugenichts, gerade als Spitzenklöppler Erfolg hat: Nachtarbeit, höchste Ansprüche, feinste Ware, deren Fabrikation durch Konsum der einen oder anderen Droge erleichtert wird. Wieder schafft es Snela, einen Außenseiter zu zeichnen, dessen Haltung Unabhängigkeit beweist.
Klopstock, „ein Prachtbild an Kargheit, Ikonizität und Anmutsarmut“, entpuppt sich schließlich als der Besen, mit dem der Spitzenklöppler gelegentlich durch die Gegend streift. Aber nachdem sein Chef, Gaspard, sich in einer „mit Champagner gefüllten Badewanne, verpuppt mit Chinaseidenfäden, spätnachts ertränkt hat“, wie der Klöppler aus der Zeitung erfährt, ist sein Entschluss schnell gefasst: „Nach reiflicher Überlegung holte ich Klopstock aus seiner Zimmerecke, öffnete eines der Schallschutzfenster, und flog davon.“
Es steckt einiger Eskapismus in diesen überraschenden Flieger- und Zauber-Erzählungen. Macht doch das Leben interessanter, dann muss ich gar nicht fliehen, scheinen Snelas Helden dem Leser zuzu-rufen.
HANS-PETER KUNISCH
Jan Snela: Milchgesicht.
Ein Bestiarium der Liebe. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 184 Seiten. 17,95 Euro. E-Book 13,99 Euro.
Wird auch beim Bachmann-Preisdabei sein: Jan Snela.
Foto: Sebastian Marincolo
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