Der Zug stand abfahrbereit am Bahnsteig im Hauptbahnhof von Nürnberg; die Waggontüren schlugen zu. Ohne damit eine besondere Absicht zu verfolgen, hielt er einer mit Einkaufstüten heran hechelnden Frau ganz automatisch die Tür des Waggons auf. Als sie den Wagen erreichte, packte er sie am bloßen Oberarm, um ihr beim Einsteigen zu helfen. Es war ein warmer Frühlingstag und sie trug eine Bluse mit kurzen Ärmeln. Dankbar lächelte sie ihn an; sagen konnte sie nichts, weil sie durch den Lauf noch völlig außer Atem war. Auf keinen Fall wollte sie ihn vor den Kopf stoßen, zu lange schon war sie allein gewesen, und diese Einsamkeit erschien ihr ausschließlich als Folge ihres vermeintlichen Mangels an Attraktivität. Dieser Mann vor ihr war ein merkwürdiger Mensch, aber irgendwie schien er ihr Aussehen doch zu akzeptieren? Und er erregte sie sogar. Seine Griffe hatten eine Leidenschaft in ihr geweckt, wie sie sie früher noch nie gekannt hatte. Blitzschnell hatte er aber die Situation analysiert. Diese Frau bildete sich ein, hässlich zu sein. Sie verfügte über kein Selbstbewusstsein und war darum ideal für eine Beziehung. Sie sollte es als eine Gnade ansehen, wenn sich ein Mann trotz ihrer vermeintlichen Mängel überhaupt mit ihr beschäftigte. Sie selbst hatte ihm mit ihrem Minderwertigkeitskomplex eine Waffe geliefert, mit der er jeglichen mentalen Widerstand unterlaufen konnte, aber das reichte ihm noch nicht, sie würde noch viel mehr von sich preisgeben müssen; er würde ihr die intimsten Fragen stellen und sie würde ihm ihre Seele bis auf den Grund öffnen. Ihre ganze Existenz würde wie ein offenes Buch vor ihm liegen, und er würde unbarmherzig darin herum wühlen, vielleicht sogar für den Rest ihres Lebens. Oder zumindest so lange, bis er genug von diesem Buch hatte.
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