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"Milchmann" erzählt von uneindeutigen Grenzen
Als Anna Burns 2018 als erste Person aus Nordirland den Booker Prize gewann, kannte sie so gut wie niemand. Wegen anhaltender Rückenschmerzen hatte sie seit vier Jahren nichts mehr geschrieben. In ihrer Rede sagte Burns, sie werde das Preisgeld dafür nutzen, ihre Schulden zu begleichen, und dankte ihrer lokalen Tafel, die sie oft mit Essen versorgt hatte. Mehrere Verlage hatten "Milchmann", ihr drittes Buch, abgelehnt: Namenlose Orte und Protagonisten, die lediglich nach ihrer Funktion benannt werden, ein ewiger innerer Monolog, nicht enden wollende Absätze schienen nicht unbedingt auf einen Verkaufsschlager hinzudeuten. Es wurde dann aber doch einer. Was natürlich mit dem Booker Prize zu tun hatte, vielleicht aber auch damit, dass der Roman, der in den Unruhen der siebziger Jahre in Nordirland spielt, in so vieler Hinsicht aktuell ist. "Milchmann" sei eine #MeToo-Geschichte, sagten die einen, eine Brexit-Geschichte, die anderen. Vermutlich, weil der Roman von Macht, Überwachung, Hass und Unterdrückung erzählt.
Anna Burns wurde 1962 geboren und wuchs als eines von sieben Kindern in Ardoyne auf, einem überwiegend katholisch geprägten Bezirk der nordirischen Hauptstadt Belfast. Ardoyne wurde berühmt, weil die Unruhen während des Nordirland-Konflikts hier besonders heftig wüteten. Auch "Milchmann" spielt vermutlich dort, obwohl weder der Name des Bezirks noch der der Stadt jemals fallen. Es gibt ein "Land auf der anderen Seite der See", das die Leute hassen. Es gibt Regeln, die jeder kennt, aber niemals ausspricht: Welche Namen man seinen Kindern zu geben, welches Bier man zu trinken, welche Butter man aufs Brot zu schmieren hat: "Überall und mit allem, was man tat, gab man ein politisches Statement ab, ob man wollte oder nicht."
In dieser aufgeheizten Atmosphäre gerät Mittelschwester, die achtzehn Jahre alte Hauptperson, deren Namen man nie erfährt, plötzlich in den Fokus der nachbarschaftlichen Aufmerksamkeit. Darauf bedacht, sich aus allem herauszuhalten, wird sie umso auffälliger. Sie geht an die falschen Orte. Verhält sich merkwürdig, weil sie Französisch lernt und im Gehen liest - am liebsten Romane aus dem neunzehnten Jahrhundert, denn das zwanzigste mag sie nicht. Doch das größte Problem ist ein geheimnisvoller älterer Mann, Milchmann: "Ich wusste nicht, wessen Milchmann er war. Unserer jedenfalls nicht. Ich glaube, er war niemandes Milchmann. Er nahm keine Bestellungen auf. Hatte nie Milch dabei, lieferte keine Milch aus. Er fuhr nicht mal einen Milchwagen." Milchmann ist bei der IRA: "der Strippenzieher im Hintergrund, der Spitzel, der verfolgt, der beschattet, der observiert und Profile erstellt, der Informationen über eine Zielperson sammelt und sie an den Mann am Abzug weitergibt". Auch Mittelschwester wird von ihm beschattet, wenn auch nicht aus politischen Motiven. Milchmann hat sie ausgesucht, er will sie haben, er lauert ihr auf, wo immer sie ist. Denn Milchmann weiß alles über sie, was Mittelschwester liest, wo sie arbeitet, wer ihr "Vielleicht-Freund" und ihre Geschwister sind.
Bei all dem verletzt er scheinbar keine Grenze. Niemals fasst oder schaut er sie an, ist höflich. Was eine unhöfliche Reaktion, rein aus Höflichkeit, natürlich ausschließt. Und so sieht Mittelschwester keine Möglichkeit, Milchmann zurückzuweisen, sich jemandem anzuvertrauen: "Wenn keine körperliche Gewalt ausgeübt und man nicht direkt verbal beleidigt worden war und keiner in der Nähe blöd guckte, dann war auch nichts passiert. Wie konnte man Opfer von etwas sein, das es gar nicht gab?"
Mittelschwester selbst hat hingegen zu viele Grenzen überschritten: Sie hat die Aufmerksamkeit eines gefährlichen Mannes auf sich gezogen, durch ihr "Im-Gehen-Lesen", durch ihr Joggen im Park, was doch wirklich keine Frau tun sollte. Die Schuld für diese angebliche Affäre muss immer bei ihr liegen, schon allein deshalb, weil die Nachbarschaft Milchmann fürchtet. Wer sich auflehnt, gar in den Verdacht gerät, Informant zu sein, hat schnell eine Bombe unter dem Auto.
Nicht nur spielt "Milchmann" in einer Grenzgegend, in der die Bewohner es vermeiden, das eigene Viertel zu verlassen. Der Roman erzählt auch von Grenzen, solchen, die man kennt und meidet, und Grenzen, die man erst dadurch entdeckt, dass man sie versehentlich übertritt. "Vielleicht-Freund", Mittelschwesters Vielleicht-Beziehung, ein Automechaniker, der aus unbedachter Begeisterung heraus Teile eines Bentleys mit nach Hause nimmt, bekommt Probleme, weil der Bentley aus dem "Land auf der anderen Seite der See" kommt. Pa, Mittelschwesters Vater, ist eine Schande, weil er wegen Depressionen in die Psychiatrie muss, kein Versorger, kein Mann ist.
Wer nun einen Problemroman erwartet, in dem die Übel der Welt aufgezählt und abgearbeitet werden, irrt. Denn "Milchmann" ist auch sehr unterhaltsam. Wegen seiner Erzählstimme, deren Sätze so ungewöhnlich und rhythmisch sind, dass man sie gerne laut lesen möchte. Und wegen der skurrilen Beschreibungen und Figuren: Da gibt es die Verweigerer, Mitglieder des Paramilitärs, die auf mafiöse Weise den Bezirk erpressen und als Schutzgeld noch das letzte bisschen verlangen, "die Ersparnis, die man bei einem herabgesetzten Brötchen beim Bäcker oder der rabattierten Rolle Smarties im Laden an der Ecke hatte". Oder die Nonnen, die im einen Mundwinkel Rosenkränze beten, während sie mit dem anderen Gerüchte verbreiten.
Überhaupt, die Gerüchte. Obwohl "Milchmann" aus Sicht von Mittelschwester erzählt ist und man sich gänzlich auf ihre Sicht verlassen muss, liegt hinter ihren Worten ein permanentes Geraune und Geplapper, meist begleitet von Schuldzuweisungen. Zu besprechen, wer wann mit wem wo warum was tat, scheint das Einzige zu sein, das die klaustrophobische, hasserfüllte Nachbarschaft zusammenhält. Wer "übergeschnappt" ist, eine uneheliche Beziehung führt oder sich in irgendeiner Weise ungewöhnlich verhält, wird in der Gerüchteküche schnell verheizt. Und seine Familie gleich mit. Gerade darin liegt die Übergriffigkeit Milchmanns, die tatsächlich keinerlei Berührung bedarf, um in den privatesten Raum vorzudringen. Denn indem Milchmann Mittelschwester anspricht, stellt er sie ins Zentrum - des Geredes und der Staatspolizei. Nun offenbar eine Verbündete der Terroristen, klickt seit dem ersten Wort, das Milchmann mit ihr wechselt, wo immer Mittelschwester hingeht, eine Kamera.
Natürlich wird vor diesem Hintergrund des Konfliktes, der permanenten Todesgefahr, alles drastischer und bedrohlicher. Trotzdem, so zeigt der Roman, sind sowohl der Ort des Geschehens als auch die Namen der Protagonisten irrelevant. Denn die sozialen Dynamiken, die "Milchmann" abbildet, werden durch die politische Lage vielleicht befeuert, sind aber am Ende überall gleich. Mittelschwester ist Milchmann ausgeliefert, das Machtgefälle zwischen ihnen nimmt ihr jeglichen Handlungsspielraum: Sie kann Milchmann nicht ignorieren, er zwingt sie, zu reagieren, ihren Alltag zu ändern, sich zu erklären, zu rechtfertigen, zu berichten, sich zu schämen. So sehr, dass sie irgendwann nicht einmal mehr "Vielleicht-Freund" in ihrer Nähe ertragen kann. Sie beginnt, Milchmann überall zu sehen, vermutet ihn unter ihrem Bett, hinter der Zimmertür. Auch die Lesenden, die die Geschichte nur durch die Augen Mittelschwesters sehen, wissen irgendwann nicht mehr, wo Wahrheit, Gerüchte und Paranoia anfangen und aufhören. Denn gerade dort, wo die Grenzen scheinbar klar gezogen sind, ist immer noch viel Raum für Uneindeutigkeiten.
Es wäre deshalb schade, "Milchmann" nur als einen Kommentar zu Nordirland, zum Brexit, zu #MeToo zu sehen. Obwohl er all das sein könnte. Dass Burns aber nicht nur eine historische Begebenheit oder eine Debatte aufgreift, sondern ihre Handlung davon vollständig löst, macht "Milchmann" zu einer so guten Geschichte.
ANNA VOLLMER
Anna Burns: "Milchmann". Roman. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll, Tropen Verlag, 452 Seiten, 25 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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