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Nachdem seine Ex-Frau bei einem Bombenanschlag am Flughafen Heathrow getötet wurde, begibt sich der Psychologe David Markham auf die Suche nach den wahren Motiven in ein zeitgenössisches Herz der Finsternis: Chelsea Marina – eine Mittelklassesiedlung in London, deren Bewohner, angeführt von einem enigmatischen Kinderarzt und einer exzentrischen Filmdozentin, gegen ihre eigenen Lebensentwürfe rebellieren. Im Visier der verzweifelten Revolte stehen Reisebüros, Einkaufszentren, Katzenausstellungen, Videotheken, Parkuhren, Immobilienbüros, und die für bildungsbürgerliche Abgrenzung so integralen…mehr

Produktbeschreibung
Nachdem seine Ex-Frau bei einem Bombenanschlag am Flughafen Heathrow getötet wurde, begibt sich der Psychologe David Markham auf die Suche nach den wahren Motiven in ein zeitgenössisches Herz der Finsternis: Chelsea Marina – eine Mittelklassesiedlung in London, deren Bewohner, angeführt von einem enigmatischen Kinderarzt und einer exzentrischen Filmdozentin, gegen ihre eigenen Lebensentwürfe rebellieren. Im Visier der verzweifelten Revolte stehen Reisebüros, Einkaufszentren, Katzenausstellungen, Videotheken, Parkuhren, Immobilienbüros, und die für bildungsbürgerliche Abgrenzung so integralen Museen und Kulturinstitutionen der Stadt. Gelangweilt von ihrem Pflichtprogramm, empört über steigende Kosten und neue Parkverbotszonen führt sich die Mittelklasse dabei selbst ad absurdum und sieht sich als neues Proletariat, eine Revolte gegen die existenzielle Leere anzettelnd, die in ihren vom Konsumismus verödeten Habitaten umso greller scheint.
Im zentralen Roman seiner späten Gegenwarts-Tetralogie kehrt Ballard die unterschwellige Selbstverachtung einer gesellschaftlichen Generation nach außen und entlarvt, wie sich Konformität in Nihilismus verkehren kann.

Autorenporträt
J.G. Ballard begann als Science-Fiction-Autor in den späten 1950er-Jahren, ging aber schon sehr bald andere Wege, da die Zukunft für ihn nicht im 'outer space', sondern im 'inner space' lag. In den 1970ern veröffentlichte er 'Crash' (verfilmt von David Cronenberg), 'High-Rise' und 'Betoninsel', später 'Empire of the Sun' (verfilmt von Stephen Spielberg) und weitere Romane über die Auswirkungen technologischer und architektonischer Entwicklungen auf die Gesellschaft, mit denen er seiner Zeit immer weit voraus war.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018

J. G. Ballard Warum der Prophet der unvollkommenen Zukunft heute mehr zu sagen hat denn je
Revolutionen im
leeren Raum
Widerstand ist sinnlos, aber hat jemand
eine bessere Idee? J. G. Ballards Terrorismus-Roman
„Millennium People“ gibt es endlich auf Deutsch
VON FRITZ GÖTTLER
Es gibt Randale in Chelsea Marina, der Londoner gated community. Eine mittelständische, durch und durch bürgerliche Randale, die sich die äußerlichen Zeichen von Revolte aufpappt, aber mit Freiheit und Aufbruch nichts zu tun hat. Man geht auf die Straße, demoliert, irgendwann erklingt der Gefangenenchor aus „Nabucco“, es gibt neugierige Kinder, die Polizei sperrt ab, aber besonders ernst will sie das alles nicht nehmen. Aus der Diskrepanz zwischen Mitteln und Effekt holt J. G. Ballards „Millennium People“ seine böse Komik. Eine somnambule Komik, man befindet sich in vertrautem Ballard-Land, vom Autor seit Jahrzehnten immer wieder beschrieben, in Ballard-London, mit seinen düster-viktorianischen Gebäuden, zwischen die sich die neuen Bauten von Norman Foster und Richard Rogers zukunftsweisend einschmuggeln.
Damals hat der Suhrkamp Verlag in seiner „Phantastischen Bibliothek“ Ballard mit einigen Romanen und Erzählbänden in Deutschland bekannt gemacht. Schon damals war zu spüren, dass Ballard mit Fantasy eigentlich sehr wenig, mit sarkastischer Sozialkritik sehr viel im Sinn hatte. Im diaphanes-Verlag kam nun endlich „Millennium People“ heraus, als dritter Band einer Ballard-Ausgabe.
„Die Revolutionen heute sind Pseudorevolutionen“, hat Ballard erklärt, als der Roman „Millennium People“ in England herauskam, das war 2003. „Wenn sie nicht in erster Linie nur noch Medienereignisse sind.“ Damals war die Erinnerung an 9/11, die Attacke auf das World Trade Center in New York noch virulent, die brutal zeigte, dass terroristische Aktionen immer aufs Medienecho hin kalkuliert werden.
Auch in London waren Terrorgefahr und -angst gewachsen, das liefert Ballard den Hintergrund für seinen Roman. Es gibt anfangs einen Anschlag mit einer Bombe auf einem Gepäckband von Heathrow, dem die Exfrau des Helden, David Markham, zum Opfer fällt. Markham ist Psychologe, er stolpert orientierungslos durch die Wirren nach dem Bombenanschlag von Heathrow und die Tumulte in Chelsea Marina und begegnet einigen mehr oder weniger dezidierten revolutionären Figuren – darunter eine Filmdozentin, ein Geistlicher auf einer Harley und dessen chinesische Freundin. Sie alle folgen – und auch David wird das schließlich tun – dem Kinderarzt Richard Gould, dem „Doktor Moreau der Chelsea-Clique“. Im Umfeld seiner undurchsichtigen Aktivität gibt es einen Anschlag auf das NFT, die Kinemathek von London, das National Film Theatre, und die Tate Modern, die Ermordung einer TV-Journalistin.
Dr. Gould ist eine zerrissene Persönlichkeit, er redet von gewaltsamem Widerstand, aber er signalisiert immer auch dessen Sinnlosigkeit. Seine Revolution bewegt sich in einem leeren Raum, eine Revolution des Somnambulismus. Das Bürgertum agiert selbstzerstörerisch in seiner Aggressivität, es erledigt die Prinzipien der modernen, der postmodernen Gesellschaft, die es selbst sich geschaffen hat. Es attackiert das 20. Jahrhundert, das auch nach der Jahrtausendwende weiter andauert. David kriegt einen Crashkurs in aktueller Gesellschaftsanalyse, über die Entwicklung dieses Jahrhunderts: „Es prägt alles, was wir tun, die Art, wie wir denken. Man kann kaum etwas Gutes darüber sagen. Genozide, Kriege, die eine Hälfte der Welt mittellos, die andere schlafwandelt durch ihren eigenen Hirntod. Wir haben ihm seine billigen Träume abgekauft und jetzt können wir nicht mehr aufwachen.
All diese Einkaufszentren und Gated Communities. Schließen sich die Türen erst mal, kommt man nie mehr raus. Sie wissen das alles, David. So behalten sie ihre Firmenkunden.“ Und David versteht sofort und führt den Gedankengang weiter: „Aber es gibt ein Problem an dieser verkommenen Gesellschaft. Die Mittelklasse mag sie so.“ „Natürlich tun sie das … Sie wurden von ihr versklavt, Sie sind das neue Proletariat, wie Fabrikarbeiter vor hundert Jahren.“
Manche Leute, besonders hypermoralische Amerikaner, sähen ihn als Pessimisten und als humorlosen Typen, hat Ballard erzählt, dabei habe er einen fast manischen Sinn für Humor. Er ist begeistert, wenn Leser ihm versichern, sie hätten laut gelacht bei der Lektüre von „Millennium People“. Der Doktor Richard Gould hat Züge eines faschistischen Führers, aber er ist subversiv genug, um dieses Image selbst zu zersetzen. Er ist den Helden in Dostojewskis Romanen verwandt, seine Existenz ist reine Provokation. Er hat zwei Jahre mit kranken Kindern im Bedfont Hospital gearbeitet, „ein Meile südlich von Heathrow. Ein guter Platz für ein Irrenhaus – man kann niemand schreien hören“.
Die Kinder waren hirngeschädigt, Enzephalitis, Masernfälle mit schwerem Verlauf, inoperable Tumore, Hydrozephalus. Von den Eltern verlassen, die Sozialdienste wollten sich ihrer nicht annehmen. „Ich hoffe, wir haben ihnen ein gutes Leben ermöglicht.“
Das Bürgertum agiert immer amateurhaft, es ist seiner Kindheit nie entwachsen. Es ist Objekt einer unaufhörlichen Manipulation, hinter der keine dirigierende Instanz steckt. Sogar David Markham gesteht, dass er nie wusste, was sich wirklich abspielte, er war als Polizeispitzel in Chelsea Marina eingeschleust worden – aber diese Täuschung hat er selbst als letzter durchschaut. Bei seiner Geliebten wird ihm seine Situation bewusst, gespiegelt in einer Kinoerinnerung. „Hinter der Wohnzimmertür hing ein Poster von „Der dritte Mann“, ein Standfoto von Alida Valli, einer gequälten europäischen Schönheit, die die ganze Melancholie Nachkriegseuropas ausdrückte. Aber das Poster erinnerte mich an ein anderes Werk von Carol Reed, einen Film über einen verwundeten Mörder auf der Flucht, der von den Fremden, bei denen er Unterschlupf sucht, manipuliert und betrogen wird.“ Auch David ist ein Odd Man Out, er sieht sich „eingesperrt zwischen Träumen von Melodramen, die ich Jahre zuvor mit Laura im National Film Theatre gesehen hatte.“
In London wuchs die Angst.
Das lieferte den Hintergrund
für einen Roman
Hypermoralische Amerikaner
sehen in ihm einen
humorlosen Typen, sagt er
J. G. Ballard: Millennium People. Roman. Aus
dem Englischen von Jan Bender. Diaphanes,
Zürich 2018. 352 Seiten, 20 Euro.
Rückwärtsgewandte Zukunft, ganz wie bei Ballard: Norman Fosters Gherkin-Tower in London.
Foto: bloomberg
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»Ballards Sicht der Welt ist unübertroffen.« John Gray

Perlentaucher-Notiz zur Efeu-Rezension

Spürbar ungebührlich findet es Andreas Platthaus in der FAZ, dass der Leiter des Literaturhauses Leipzig, Thorsten Ahrend, den Schriftsteller Matthias Jügler vor einer Lesung aus dessen Roman "Maifliegenzeit" um einen Beleg gebeten hat für dessen in der Nachbemerkung zu seinem Roman gefallene Behauptung: "Seit einigen Jahren ist nachgewiesen, dass es in der DDR Fälle von vorgetäuschtem Säuglingstod gab." Ahrend beruft sich auf Studien, die keinen Nachweis dafür erbringen konnten, Jügler wiederum auf anekdotisches Wissen - die Lesung ist abgesagt. "Was ist das für ein Verständnis von Literatur, vor allem ihrer Fähigkeit, über Dinge, die nicht nach juristischen (oder auch journalistischen) Kriterien belegbar sind, zu erzählen und damit eine Debatte zu eröffnen", ärgert sich Platthaus. "Dass Jügler keine Lust hatte, sich von vorneherein auf unliterarisches Terrain zu begeben, ist verständlich. Er ist kein Archivar, er ist Romancier. Romane ziehen ihre Berechtigung nicht aus Wahrheit, sondern aus Wahrhaftigkeit." Dass systematisch Säuglinge entführt wurden, lege Jügler im übrigen eh nicht nahe: "'In der DDR' ist für Menschen, die lesen können, eine probate Orts- und Zeitbestimmung. Wer darin eine Systembeschreibung sieht, macht sich die Gleichsetzung von Diktatur und Alltag zu eigen, die gerade von Ostdeutschen immer wieder kritisiert wird."

© Perlentaucher Medien GmbH
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