Vom tristen Norwegen zur reichsten Familie Amerikas
Norwegen 1916: Thea ist das älteste von 6 Kindern und hilft ihrem Vater in der Bäckerei, die sie später übernehmen will. Doch wegen des Krieges gibt es kaum noch Mehl und wenn nicht ein Wunder geschieht, werden sie ihr Geschäft verlieren. Da
bietet ihr ihre Tante Augusta in Amerika eine Stelle an, mit freier Kost und Logis und einem viel…mehrVom tristen Norwegen zur reichsten Familie Amerikas
Norwegen 1916: Thea ist das älteste von 6 Kindern und hilft ihrem Vater in der Bäckerei, die sie später übernehmen will. Doch wegen des Krieges gibt es kaum noch Mehl und wenn nicht ein Wunder geschieht, werden sie ihr Geschäft verlieren. Da bietet ihr ihre Tante Augusta in Amerika eine Stelle an, mit freier Kost und Logis und einem viel besseren Verdienst als zu Hause. Thea ist hin- und hergerissen. Sie will nicht weg, aber die Arbeit ist die einzige Chance, um die Bäckerei zu retten.
Erst nach ihrer Ankunft erfährt Thea, dass sie für die Vanderbilts arbeiten wird, die reichste Familie Amerikas. „Nichts von dem, was sie hinter diesen Toren sah, erinnerte Thea an das Leben, das sie von zu Hause her kannte.“ (S. 119) Statt Bäckerin ist sie nur noch ein einfaches Küchenmädchen, muss Hilfsarbeiten machen und aufpassen, dass sie dabei nicht auch noch von den männlichen Hausgästen oder Dienern vergewaltigt wird. Sie steht auf der untersten Stufe der Hierarchie des Haushalts, muss für ihre Arbeitgeber und deren Gäste unsichtbar sein, sich im Notfall hinter einem Vorhang verstecken oder mit dem Gesicht zur Wand drehen – sie ist ein Nichts! Außerdem bekommt sie ihren Lohn erst nach 6 Monaten ausgezahlt – wie soll sie da Geld nach Hause schicken? „Sie war … nicht hergekommen, um sich ein neues Leben aufzubauen, sondern in der Hoffnung, die Reste von dem retten zu können, was ihr Zuhause war.“ (S. 134)
Ein Lichtblick könnten ihre beiden Tanten sein. Augusta ist ihre unmittelbare Vorgesetzte und deren Schwester Hulda lebt frisch verheiratet in der Nähe, doch beide umgibt ein dunkles Geheimnis, über welches sie beharrlich schweigen.
„Miss Marie“ von Ellen Vahr ist ein sehr aufwühlendes und anklagendes Buch, das die gesellschaftliche Stellung der Dienstmädchen in Amerika um 1900 beleuchtet. Während Frauen in Norwegen längst gleichberechtigt sind und das Wahlrecht haben, ist Amerika noch sehr rückständig. Die Dienstmädchen arbeiten von früh bis spät, haben kaum frei und werden beim kleinsten Vergehen fristlos ohne Lohn entlassen.
Thea ist von diesen Zuständen schockiert. „Diese beiden Leben waren so weit voneinander entfernt, wie das überhaupt nur möglich war.“ (S. 130) Nicht nur, dass man sie bei der Einwanderung einfach in Marie umgetauft und ihr mit dem Namen auch ein Stück ihrer Herkunft und Vergangenheit genommen hat, es gibt unter den Dienstboten auch keinen Zusammenhalt. „Sie Frauen gelten als weniger wert als die Männer, daher kümmert sich niemand, niemand setzt sich für sie ein, nicht einmal die anderen Dienstmädchen. Die … sehen zu, wie ihre Freundinnen wie Dreck behandelt werden.“ (S. 222) Jede ist sich selbst die nächste und versucht so schnell wie möglich aufzusteigen oder zu heiraten. Da ist es kein Wunder, dass sich Thea bald für die Frauenrechtsbewegung interessiert, zumal sich auch Consuelo Vanderbilt den Suffragetten angeschlossen hatte.
Schonungslos offen und ehrlich beschreibt Ellen Vahr Theas Leben, die Hoffnungslosigkeit und Tristesse, die Grabenkämpfe innerhalt des Personals inkl. geheuchelter Freundschaften und Verrat, nichts wird beschönigt oder romantisiert. In Norwegen hat Thea selbständig gearbeitet, im Haushalt der Vanderbilts muss sie sich anpassen und unterordnen. Sie will nur durchhalten, bis sie endlich wieder nach Haus kann und ihr wird erst spät bewusst, welche Freiheiten ihr Amerika bieten kann – wenn sie sich die einfach nimmt. Diese Entwicklung war sehr spannend zu verfolgen.
Genauso aufwühlend wie Theas Geschichte ist auch das Geheimnis ihrer Tanten, allerdings wurde es mir im letzten Drittel des Buches dann etwas zu übertrieben verwirrend und dramatisch.