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Aus Ohnmacht wird Selbstermächtigung durch Sprache: Jamaica Kincaids meisterhafte und gnadenlose Romanbiographie ihres Vaters
Eine unübersichtliche Schar junger Frauen hat sich um das Grab eines alten Mannes irgendwo auf Antigua versammelt. Alle Frauen haben dieselbe charakteristische Nase, die auch der eben Beerdigte hatte. Und alle jungen Frauen haben Mütter mit anderen Nasen. Und da stehen sie am Grab eines Mannes, der viele Mädchen in die Welt gesetzt hat, aber keines davon je lieben wollte. Nur einen kleinen Jungen konnte er lieben, dessen Vater er nicht gewesen ist. Und so nehmen die Frauen Abschied von einem großen Unbekannten, der ihr Leben nicht begleitet, aber eben doch beeinflusst hat. Sie nehmen auf einer karibischen Insel Abschied von Roderick Potter, genannt Drickie, später nur Mister Potter, um dessen Liebe sie noch am Grab buhlen. Und "Mister Potter", so lautet auch der Titel des 2002 erschienenen, jetzt in wellenförmigen Satzperioden voller gedanklicher Schaumkronen von Anna und Wolf Heinrich Leube kongenial übertragenen Romans. Geschrieben wurde er von einer der jungen Frauen mit den charakteristischen Nasen.
Elaine Cynthia Potter Richardson ist der Geburtsname von Jamaica Kincaid, die mit siebzehn als Au-pair nach New York ging und dort dann Erzählungen zu veröffentlichen begann - was gar keine Selbstverständlichkeit war. Denn Mister Potter, Elaines Vater, war Analphabet. Elaines Mutter hatte ihrem Kind das Lesen gegen alle Klassengebräuche beigebracht. Und so ist dieses Buch über einen abwesenden Vater auch ein Buch über die Fähigkeit zur Selbstobjektivierung geworden. Es sind die konstituierenden Kräfte des Schreibens selbst, die im Zentrum dieses Romans von der Peripherie stehen. Wer schreiben kann, beginnt sein Leben von außen zu betrachten. Eine Möglichkeit, die für Mister Potter nicht greifbar war, nach der er sich nicht sehnte.
Wenn es überhaupt so etwas wie das lebensgetreue Denkmal einer Tochter für ihren abwesenden Vater gibt, dann ist es das literarische von Jamaica Kincaid. Aus der Ohnmacht des ungeliebten Kindes wird schreibend die Macht einer Biographin, die dem Vater das schenkt, was er selbst nicht schenken konnte: Interesse.
"Ich habe seine Nase", heißt es einmal, "und gelernt zu lesen und zu schreiben, nur deshalb kennt man Mr. Potters Leben, deshalb wird seine Geringfügigkeit Größe, deshalb tritt er aus der Anonymität, deshalb wird sein Schweigen gebrochen. Mr. Potter selbst sagt nichts, gar nichts. Wie traurig ist es doch, nie wieder den Klang seiner Stimme zu hören, und noch trauriger ist es, von vorneherein nie eine Stimme gehabt zu haben." Mister Potters Gefühle sind in einer Kapsel verschlossen. "Morgen ist so wie heute, war die Devise, nach der Mr. Potter die Welt organisierte": So lebt er in einem Zustand naturalisierter Anspruchslosigkeit, die sich als dumpfes Einverständnis, manchmal als Lieblosigkeit, manchmal aber auch als mentale Stärke zu erkennen gibt.
Auf den ersten Seiten begegnen wir einem Mann, nicht glücklich, nicht unglücklich, der seiner Arbeit nachgeht, wie es die Rassen- und Klassengesetze seit Generationen verlangen. Er ist Chauffeur im Taxiunternehmen eines Libanesen, der auf Antigua gestrandet ist. Mister Shouls kleine Tochter heißt Elaine, und so nennt Elaines Kindermädchen auch ihre eigene Tochter, die sie mit Mister Shouls Chauffeur gezeugt hat. Aber Mister Potter will von Elaine nichts wissen, so wie er auch von den anderen Mädchen, die er gezeugt hat, nichts wissen will. So wie er auch von sich selbst nichts wissen will. Nur besser will er es haben als sein Vater Nathaniel Potter, der Fischer war und dessen Frau ins Meer ging und der über Mister Potter nicht wachen konnte, weswegen Mister Potter bei einer weißen Familie aufwuchs, wo man ihn zum subalternen Beruf eines Hausboys brachte.
Bei der Geburt seiner ersten Tochter empfand Mister Potter, der die Liebe nie kannte, so wie auch sein Vater die Liebe nie kannte, dies: "Und als er an diese Frau dachte, an Yvette, die gerade sein erstes Kind mit dem Namen Marigold zur Welt gebracht hatte, dachte er nicht, dass die Welt jetzt von Glück erfüllt war, dachte er nicht an den goldenen Schimmer, der die Welt bei ihrer Entstehung verwandelte, nicht an das neue, satte, durchsichtige Licht, nicht an das Wunder, das Geheimnis, das nie Erforschbare, die Kränkungen, auf die Zorn folgen würde, und wie der dann zu Leere führen würde, und wie es kam, dass er, Mr. Potter, in dieser Leere lebte." Denn Mister Potter führt ein Leben, das für andere und folglich für ihn selbst keinen Wert hat. Selbst für Doktor Weizenger, der den Lagern der Deutschen knapp entkommen war, ist das so. Der Mann aus einer fernen europäischen Stadt war es gewohnt zu handeln, nicht behandelt zu werden, und so behandelt er auch seinen Angestellten Mister Potter. "Weizenger dachte, wie schön Licht in jeder Form war, Licht, das nicht aus einem Hochofen kam, einem echten Hochofen, der mit Kohle oder Leichen befeuert wurde; Licht, echtes Licht, dessen Gegensatz Dunkelheit ist, echte Dunkelheit, keine Metapher für die Dunkelheit, aus der Mr. Potter und seine Ahnen gekommen waren."
Es ist meisterhaft, wie Jamaica Kincaid hier mit wenigen Pinselstrichen europäische Schicksale auf die Antillen einschleppt und dort dann ein Unrecht auf ein anderes Unrecht treffen lässt, ohne dass diese beiden Geschichten von Unterdrückung und Verfolgung auch nur die geringste Kontaktfläche zueinander bekämen. Jeder ist eingeschlossen in seinem eigenen Schmerz, begrenzt auf seine eigene Weise. Und so kann es geschehen, dass der eine, der alles hinter sich gelassen hat in Prag, Groll gegen den anderen hegt, der nie etwas besessen hatte, das er hätte hinterlassen können, und der dennoch oder gerade daraus eine ganz eigene Würde gewinnt: "Und der Klang von Mr. Potters Stimme, der seinen Namen aussprach, als wäre er eine Liebkosung (das fand jedenfalls Dr. Weizenger), machte Dr. Weizenger wütend, und er hasste Mr. Potter dafür, Mr. Potter, den die Geschichte zu einem Nichts gemacht hatte, zu etwas ohne geistigen Wert, einem Nichts, das nicht den Luxus von Eigenliebe kennen durfte, und die hörte Dr. Weizenger seiner Stimme an, als er sagte: ,Ich heiß Potter, Potter heiß ich.'"
Dieses Porträt eines Mannes, dem nichts geschenkt wurde, wird zusammengehalten von der Idee der Selbstermächtigung durch Sprache. Dieses Buch beschreibt die Machtverhältnisse jener Welt, die es porträtiert, ohne jede politische Empörung. Es zeigt bloß. Und darin ist es ebenso gnadenlos wie menschlich. "Er wird jetzt sein Leben im Schlaf hinter sich lassen", heißt es über den am Ende des Buchs verstorbenen Potter, "er geht hinaus in die Welt und ist mit sich völlig im Einklang, denn völliger Einklang ist die Domäne eines guten Gottes oder die Domäne der normal Erniedrigten. Mr. Potter, mein Vater, Roderick Nathaniel Potter, gehörte zu den normal Erniedrigten."
KATHARINA TEUTSCH
Jamaica Kincaid: "Mister Potter". Roman.
Aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube. Kampa Verlag, Zürich 2021. 220 S., geb., 22,- [Euro].
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