Wer in christlichen Kreisen unterwegs ist, kennt vermutlich das Problem: Irgendwann erwacht das eigene Interesse für die Bibel und einfach nur lesen ist nicht mehr genug. Man will mehr wissen, mehr verstehen und gerät entweder an Nacherzählungen (wie The Chosen), allegorische Auslegungen oder an
Leute, die darauf beharren, dass jedes Wort wörtlich zu verstehen ist und auch ihre Entstehungszeit…mehrWer in christlichen Kreisen unterwegs ist, kennt vermutlich das Problem: Irgendwann erwacht das eigene Interesse für die Bibel und einfach nur lesen ist nicht mehr genug. Man will mehr wissen, mehr verstehen und gerät entweder an Nacherzählungen (wie The Chosen), allegorische Auslegungen oder an Leute, die darauf beharren, dass jedes Wort wörtlich zu verstehen ist und auch ihre Entstehungszeit keine Rolle dafür spielt. Ist das nicht genug, bleibt eigentlich nur noch ein Theologiestudium – oder man landet einen Glücksgriff, wie dieses Buch, der einem einen tieferen Einblick in den historischen Kontext mancher Bibelstellen gewährt. Gerade in evangelikalen Kreisen wird die historisch-kritische Methode zwar immer noch mit etwas Skepsis betrachtet, doch dass eine solche Auslegung und ein tiefer Glaube sich nicht ausschließen müssen, zeigt dieses Buch.
Worum geht es in „Mit den Augen der Apostel“? Kurz gesagt darum, dass wir, wenn wir die Bibel lesen, nicht alles Wort für Wort auf die Gegenwart übertragen können – bzw. nicht so Wort für Wort, wie wir es vielleicht zunächst denken würden. Als Beispiel dafür sei auf den (auch in der Leseprobe enthaltenen) Abschnitt über den Brief an die Gemeinde an Laodizea aus der Johannesoffenbarung verwiesen: Dort wird der Gemeinde vorgeworfen, sie sei „weder heiß noch kalt“. Häufig wird diese Bibelstelle so auslegt, dass man also lieber gar keinen Glauben haben sollte, als einen lauwarmen. Schaut man sich jedoch den Ort Laodizea an, stellt man fest, dass er mitten zwischen zwei anderen Orten liegt, die jeweils eine heiße bzw. eine kalte Quelle haben. Alles, was in Laodizea ankommt, ist also nur noch lauwarmes Wasser. Die eben genannte Schlussfolgerung für den Glauben greift hier also viel zu kurz.
Randolph Richards, langjähriger Professor für biblische Studien in Indonesien und Florida und Brandon O‘Brien, der im Bereich Kirchengeschichte promoviert ist, führen ihre Leser behutsam an ein gestärktes Bewusstsein für die Ideen hinter den Bibeltexten heran. Dabei bedienen sie sich des Modells eines Eisbergs, der sich zum Teil über Wasser befindet (Einflussfaktoren, die uns vielleicht noch bewusst sind), zum Teil unter Wasser, aber noch sichtbar (Aspekte, die v.a. im Vergleich der Bibellektüre unterschiedlicher Kulturen deutlich werden) und zum Teil so weit unter Wasser ist, dass wir ihn gar nicht mehr auf dem Schirm haben. Dabei lassen sie auch immer wieder eigene Erfahrungen und Anekdoten aus dem Kontakt mit anderen Kulturen einfließen. Das ist nicht nur kurzweilig und unterhaltsam, sondern hilft auch ungemein dabei, sich auf die verschiedenen Überlegungen einzulassen. Während man zu Beginn selbst noch denkt: „Stimmt, da hätte ich auch darauf kommen können!“, werden die Themen umso komplexer, je tiefer man kommt. Dabei wird dem Leser nicht selten der Spiegel vorgehalten, sodass man beginnt, seine eigenen Ansichten reflektierter zu betrachten. Am Ende ist sicherlich nicht alles davon bequem, aber Augen öffnend und bereichernd.
Was bei der Lektüre an einigen Stellen an einigen Stellen negativ auffällt, ist lediglich das Verbergen der sehr amerikanisch geprägten Ansicht der Autoren unter dem Deckmantel des „westlichen“, was auch europäische Sichten einschließen soll. Das mag an manchen Stellen zwar stimmen, an vielen Stellen handelt es sich jedoch um die Sicht von amerikanischen Südstaatlern (beide Autoren stammen aus dem Bible Belt) auf die Dinge, die nur nicht so benannt werden möchte. Als Theologin mit den Schwerpunkten biblische Studien und frühes Christentum sind mir auch einige historische Unstimmigkeiten aufgefallen, insgesamt hat mich das Buch jedoch durch seine Vielseitigkeit und Reflektiertheit stark beeindruckt.
Wer also mehr darüber erfahren möchte, wie die ursprünglichen Adressaten vor zweitausend Jahren die Bibel verstanden haben könnte, dem sei dieses Buch unbedingt ans Herz gelegt! Anders als mancher Kommentar oder manches Studienbuch ist „Mit den Augen der Apostel“ keineswegs trocken und langweilig. Es holt seine Leser direkt dort ab, wo sie sind, führt sie behutsam an neue Gedanken heran und achtet auch dort, wo alte Sichten vielleicht nicht mehr greifen können, darauf, den persönlichen Glauben trotzdem zu erhalten und zu stärken. Insofern kann ich dieses Buch auch eher konservativ geprägten Lesern guten Gewissens sehr empfehlen.