"Mit Fremden sprechen" ist eine vom Autor selbst zusammengestellte Auswahl seiner besten Essays und Schriften aus fünfzig Jahren, die sowohl berühmte Texte als auch bislang Unveröffentlichtes enthält. Beginnend mit einer kurzen philosophischen Betrachtung, die er mit zwanzig schrieb, und schließend mit einer Reihe von politischen Texten über Themen wie Obdachlosigkeit, 9/11 oder den Zusammenhang zwischen Fußball und Krieg, bieten die 44 Stücke dieser Auswahl einen großen Überblick über Austers Ansichten zu klassischen und zeitgenössischen Schriftstellern, zur Hochseilartistik von Philippe Petit, zu seinen Kunstaktionen mit Sophie Calle und dem langen Weg, den er mit seiner geliebten mechanischen Schreibmaschine zurückgelegt hat. Ebenfalls enthalten sind jüngere Texte über die Notizbücher von Nathaniel Hawthorne, die Filme von Jim Jarmusch, eine Vorlesung zu Edgar Allen Poe, eine Tirade gegen den ehemaligen New Yorker Bürgermeister und Trump-Gehilfen Rudy Giuliani sowie die lustigste Einführung zu einer Dichterlesung, die in Amerika je gehalten wurde.. Hochintelligent und zutiefst menschlich - eine unverzichtbare Kollektion für alle Leser und Fans des "angesehensten amerikanischen Schriftstellers seiner Generation". (The Spectator)
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Kai Sina entdeckt in Paul Austers Essays aus 50 Jahren ein Ideal, das er in den USA lange vermissen musste. Auster formuliert es in Preisreden, Texten zur französischen Dichtung, zu Kafka und Hawthorne als Eintreten in einen Dialog - mit Texten, Lesern und mit der Zeit. Für Sina macht das aus dem Band mehr als eine Sammlung von bereits veröffentlichten Texten - ein Archiv des Autors für die Nachwelt. Dass Auster das Ideal eines homme de lettres ist, wird Sina beim Lesen einmal mehr bewusst, auch am unpolemischen Ton der Essays, deren politisches Engagement für Sina dennoch außer Frage steht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.11.2020Alle meine Freunde
Wenn Paul Auster Essays über Kafka und Hawthorne, Truffaut und Jim Jarmusch schreibt,
entwickelt er nicht nur einen Kanon. Er beschreibt die Koordinaten seiner Innenwelten
VON ANDRIAN KREYE
Im Amerikanischen gibt es für die Figur und das Werk Paul Austers den Begriff „bookish“. Das ist eines dieser Wörter, die man nicht übersetzen kann. Nicht einmal die künstlichen Intelligenzen kommen da weiter. Die bieten einem dafür „gelehrt“ an, „buchsprachlich“ oder gar „papieren“. Papieren ist bei Auster gar nichts. Aber was soll man schon von Maschinen erwarten, die einem für „what the fuck“ ein „was zum Teufel“ anbieten, was den Verdacht erregt, dass sie in der Zierbusch-Ödnis kalifornischer Gewerbegebiete von unsympathischen Protestanten programmiert wurden. Das wäre sozusagen die gegenteilige Lebensform zu Paul Austers zutiefst literarischem Dasein im Brooklyner Bildungsbürgerviertel Park Slope, in das man mit seiner neuen Textsammlung „Mit Fremden sprechen“ eintauchen kann.
Auch die deutsche Daseinsform des Belesen-seins greift da nicht, weil sie eine Art akademischer Kraftmeierei insinuiert. Paul Auster könnte vermutlich jeden mehrfachpromovierten Literaturwissenschaftler gegen die Wand exegetieren. Aber darum geht es ihm eben nicht. Im ersten und ausführlichsten Teil des Buches mit den Literaturbetrachtungen macht er das deutlich. Zum Beispiel in einem Text über Georges Perec. „Alle Kritiker erwähnen Perecs umwerfende Erfindungsgabe, seine Raffinesse“, schreibt er da. „So sehr mich diese Raffinesse beeindruckt, die überschäumenden Vertracktheiten seiner geistreichen Erfindungen – dies ist es nicht, was mich zu ihm hinzieht. Was mich an seinen Büchern anzieht, ist seine innige Verbundenheit mit der Welt, sein Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, seine Zärtlichkeit.“ Da liest einer, der Bücher in ihrer ganzen Tiefe erfassen will, der sie durchdringt wie ein Stück Musik, das seine Facetten erst beim mehrmaligen Durchhören preisgibt.
Man hat Austers Büchern sein Verständnis und den Einfluss verschiedenster Autoren immer angemerkt. Mit den Kritiken und Essays öffnet er in diesem Band für seine Fans seinen Werkzeugkasten. Für alle anderen ist der Band ein Einstieg in die Welt der „bookishness“. Auster schreibt über Edgar Allan Poe, Franz Kafka und Samuel Beckett, über Nathaniel Hawthorne und Salman Rushdie, aber auch über den Regisseur Jim Jarmusch, den Seiltänzer Philippe Petit und den Zeichner Art Spiegelman. Das ist mehr als ein Kanon. Es sind die Koordinaten für seine Innenwelten.
Den Text über Perec schließt er mit dem Fund, dass man in der Schlussszene von Truffauts „Jules und Jim“ hinter dem Auto, das ins Wasser stürzt, das Fenster erkennen kann, hinter dem Perec ein paar Jahre später an seinen Büchern arbeiten würde. Um dann die zufällige biografische Parallele der beiden für ihn größten französischen Geschichtenerzähler eben ohne Exegese stehen zu lassen. Auch die Metaphysik bemüht er nicht, die so gerne als Klammer missbraucht wird, wenn es keine Klammer gibt.
Ein Zufall ist ein Zufall. Überhaupt schreibt Auster in seinen Essays, Kritiken und Vorwörtern, ohne die immer hell erleuchteten Feuerwerke der Kontextualisierung abzufeuern, die den Essayismus der Gegenwart bestimmen. Das wirkt auf über 400 Seiten hin und wieder etwas aus der Zeit gefallen. Oder sogar rätselhaft.
Ohne die historische Einordnung wirkt zum Beispiel die Rede, die er im Oktober 1999 vor dem Brooklyn Museum für die Freiheit der Kunst gehalten hat, arg beliebig. Dabei war sie schon fast prophetisch auf den Punkt. In jenem Sommer hatte der damaliger New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani die Konservativen gegen eine Ausstellung dort aufgebracht. Der britische Künstler Chris Ofili hatte Elefantendung auf ein Madonnenbild verteilt.
Die Empörungswellen, die damals noch zwischen Zeitungen hin und her schwappten, waren ein Vorbote der Mechanismen, mit denen Giuliani später als Anwalt gemeinsam mit seinem Klienten Donald Trump Wut und Angst anstacheln würde. „Wir leben in einer Demokratie, Herr Bürgermeister. Bitte vergessen sie das nicht“, schloss Auster damals seine Rede.
Paul Austers Rolle als politische Figur nimmt in diesem Band erstaunlich wenig Raum ein. Ein Appell an den Gouverneur von Pennsylvania findet sich da, den er anfleht, den wegen Polizistenmordes verurteilten Aktivisten Mumia Abu-Jamal zu begnadigen. Er schreibt über Obdachlosigkeit, Krieg und die Anschläge des 11. Septembers 2001. Seine jüngsten Texte und Interviews zu den Zeitläuften fehlen. Nicht einmal taucht der Name Trump auf, an dem er sich so leidenschaftlich abgearbeitet hat. Wobei man oft überschätzt, wie viel die so sichtbare Rolle des öffentlichen Intellektuellen im Leben eines Literaten wirklich einnimmt.
Doch es ist der Text, den er am Abend des 11. Septembers schrieb, der zeigt, welche Kraft literarische Sprache in so einem „bookish“ Leben entwickelt. Zwei Buchseiten reichen Auster, um den Schrecken der Anschläge in die Erinnerung zu rufen. Zwei Seiten, die mit seiner 14-jährigen Tochter beginnen, die in Manhattan strandet. Auf denen sich zwei Sätze finden, die den ganzen Schrecken dieses Spätsommertages transportieren: „Der Wind weht heute Richtung Brooklyn, und der Brandgeruch hat sich in allen Zimmern des Hauses festgesetzt. Ein entsetzlicher, beißender Gestank: brennende Kunststoffe, Stromkabel, Baumaterialien, eingeäscherte Leichen.“ Und der mit dem Satz endet: „Und damit hat das einundzwanzigste Jahrhundert endgültig begonnen.“
Paul Auster: Mit Fremden sprechen. Rowohlt Verlag, Hamburg, 2020. Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Robert Habeck, Andrea Paluch, Alexander Pechmann und Marion Sattler Charnitzky. 416 Seiten, 26 Euro.
Nur zwei Seiten reichen ihm,
um den Schrecken von 9/11
in Erinnerung zu rufen
Innige Verbundenheit mit der Welt: der New Yorker Schriftsteller Paul Auster.
Foto: Jeff Pachoud/AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wenn Paul Auster Essays über Kafka und Hawthorne, Truffaut und Jim Jarmusch schreibt,
entwickelt er nicht nur einen Kanon. Er beschreibt die Koordinaten seiner Innenwelten
VON ANDRIAN KREYE
Im Amerikanischen gibt es für die Figur und das Werk Paul Austers den Begriff „bookish“. Das ist eines dieser Wörter, die man nicht übersetzen kann. Nicht einmal die künstlichen Intelligenzen kommen da weiter. Die bieten einem dafür „gelehrt“ an, „buchsprachlich“ oder gar „papieren“. Papieren ist bei Auster gar nichts. Aber was soll man schon von Maschinen erwarten, die einem für „what the fuck“ ein „was zum Teufel“ anbieten, was den Verdacht erregt, dass sie in der Zierbusch-Ödnis kalifornischer Gewerbegebiete von unsympathischen Protestanten programmiert wurden. Das wäre sozusagen die gegenteilige Lebensform zu Paul Austers zutiefst literarischem Dasein im Brooklyner Bildungsbürgerviertel Park Slope, in das man mit seiner neuen Textsammlung „Mit Fremden sprechen“ eintauchen kann.
Auch die deutsche Daseinsform des Belesen-seins greift da nicht, weil sie eine Art akademischer Kraftmeierei insinuiert. Paul Auster könnte vermutlich jeden mehrfachpromovierten Literaturwissenschaftler gegen die Wand exegetieren. Aber darum geht es ihm eben nicht. Im ersten und ausführlichsten Teil des Buches mit den Literaturbetrachtungen macht er das deutlich. Zum Beispiel in einem Text über Georges Perec. „Alle Kritiker erwähnen Perecs umwerfende Erfindungsgabe, seine Raffinesse“, schreibt er da. „So sehr mich diese Raffinesse beeindruckt, die überschäumenden Vertracktheiten seiner geistreichen Erfindungen – dies ist es nicht, was mich zu ihm hinzieht. Was mich an seinen Büchern anzieht, ist seine innige Verbundenheit mit der Welt, sein Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, seine Zärtlichkeit.“ Da liest einer, der Bücher in ihrer ganzen Tiefe erfassen will, der sie durchdringt wie ein Stück Musik, das seine Facetten erst beim mehrmaligen Durchhören preisgibt.
Man hat Austers Büchern sein Verständnis und den Einfluss verschiedenster Autoren immer angemerkt. Mit den Kritiken und Essays öffnet er in diesem Band für seine Fans seinen Werkzeugkasten. Für alle anderen ist der Band ein Einstieg in die Welt der „bookishness“. Auster schreibt über Edgar Allan Poe, Franz Kafka und Samuel Beckett, über Nathaniel Hawthorne und Salman Rushdie, aber auch über den Regisseur Jim Jarmusch, den Seiltänzer Philippe Petit und den Zeichner Art Spiegelman. Das ist mehr als ein Kanon. Es sind die Koordinaten für seine Innenwelten.
Den Text über Perec schließt er mit dem Fund, dass man in der Schlussszene von Truffauts „Jules und Jim“ hinter dem Auto, das ins Wasser stürzt, das Fenster erkennen kann, hinter dem Perec ein paar Jahre später an seinen Büchern arbeiten würde. Um dann die zufällige biografische Parallele der beiden für ihn größten französischen Geschichtenerzähler eben ohne Exegese stehen zu lassen. Auch die Metaphysik bemüht er nicht, die so gerne als Klammer missbraucht wird, wenn es keine Klammer gibt.
Ein Zufall ist ein Zufall. Überhaupt schreibt Auster in seinen Essays, Kritiken und Vorwörtern, ohne die immer hell erleuchteten Feuerwerke der Kontextualisierung abzufeuern, die den Essayismus der Gegenwart bestimmen. Das wirkt auf über 400 Seiten hin und wieder etwas aus der Zeit gefallen. Oder sogar rätselhaft.
Ohne die historische Einordnung wirkt zum Beispiel die Rede, die er im Oktober 1999 vor dem Brooklyn Museum für die Freiheit der Kunst gehalten hat, arg beliebig. Dabei war sie schon fast prophetisch auf den Punkt. In jenem Sommer hatte der damaliger New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani die Konservativen gegen eine Ausstellung dort aufgebracht. Der britische Künstler Chris Ofili hatte Elefantendung auf ein Madonnenbild verteilt.
Die Empörungswellen, die damals noch zwischen Zeitungen hin und her schwappten, waren ein Vorbote der Mechanismen, mit denen Giuliani später als Anwalt gemeinsam mit seinem Klienten Donald Trump Wut und Angst anstacheln würde. „Wir leben in einer Demokratie, Herr Bürgermeister. Bitte vergessen sie das nicht“, schloss Auster damals seine Rede.
Paul Austers Rolle als politische Figur nimmt in diesem Band erstaunlich wenig Raum ein. Ein Appell an den Gouverneur von Pennsylvania findet sich da, den er anfleht, den wegen Polizistenmordes verurteilten Aktivisten Mumia Abu-Jamal zu begnadigen. Er schreibt über Obdachlosigkeit, Krieg und die Anschläge des 11. Septembers 2001. Seine jüngsten Texte und Interviews zu den Zeitläuften fehlen. Nicht einmal taucht der Name Trump auf, an dem er sich so leidenschaftlich abgearbeitet hat. Wobei man oft überschätzt, wie viel die so sichtbare Rolle des öffentlichen Intellektuellen im Leben eines Literaten wirklich einnimmt.
Doch es ist der Text, den er am Abend des 11. Septembers schrieb, der zeigt, welche Kraft literarische Sprache in so einem „bookish“ Leben entwickelt. Zwei Buchseiten reichen Auster, um den Schrecken der Anschläge in die Erinnerung zu rufen. Zwei Seiten, die mit seiner 14-jährigen Tochter beginnen, die in Manhattan strandet. Auf denen sich zwei Sätze finden, die den ganzen Schrecken dieses Spätsommertages transportieren: „Der Wind weht heute Richtung Brooklyn, und der Brandgeruch hat sich in allen Zimmern des Hauses festgesetzt. Ein entsetzlicher, beißender Gestank: brennende Kunststoffe, Stromkabel, Baumaterialien, eingeäscherte Leichen.“ Und der mit dem Satz endet: „Und damit hat das einundzwanzigste Jahrhundert endgültig begonnen.“
Paul Auster: Mit Fremden sprechen. Rowohlt Verlag, Hamburg, 2020. Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Robert Habeck, Andrea Paluch, Alexander Pechmann und Marion Sattler Charnitzky. 416 Seiten, 26 Euro.
Nur zwei Seiten reichen ihm,
um den Schrecken von 9/11
in Erinnerung zu rufen
Innige Verbundenheit mit der Welt: der New Yorker Schriftsteller Paul Auster.
Foto: Jeff Pachoud/AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.2021Weiter auf der literarischen Winterreise
Er hörte Amerika erzählen und zerbrach fast daran: In einer Essaysammlung zieht Paul Auster die Summe seines kritischen Schaffens
Vor zehn Jahren erschien Paul Austers bis dahin persönlichstes, nicht nur im übertragenen Sinne intimstes Buch. Es trägt den Titel "Winterjournal" und erzählt die eigene Lebensgeschichte anhand von Körpererfahrungen. Sein Ausgangspunkt ist die ans eigene Ich gerichtete Frage, "wie das für dich war, in diesem Körper zu leben - vom ersten Tag, an den du dich erinnern kannst, bis heute". Der Schreiber, der sich unverrätselt als Paul Auster zu erkennen gibt, versteht sein Journal als einen "Katalog an Sinnesdaten", der am Ende auf eine Frage und eine Erkenntnis hinausläuft: "Wie viele Morgen bleiben noch?" Und: "Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten." Das Buch trifft ins Mark.
Auster war vierundsechzig Jahre alt, als er sein Journal schrieb, und seine literarische Winterreise setzte sich seither fort. In einem dokumentarisch angelegten "Report from the Interior" schilderte er die politischen und religiösen, ästhetischen und emotionalen Prägungen seiner Jugend im Zusammenspiel von Text und Bild, und im Großroman "4 3 2 1" erkundete er, indem er die Biographie seines Helden in vier komplex zusammengestrickten Versionen erzählte, die lebensentscheidende Bedeutung des Zufalls. In diesen Werken vereinen sich rückblickende Selbstbetrachtungen und Epochenporträts, Existenzphilosophie und literarische Spielfreude - ohne jenen sentimentalen Narzissmus, der Spätwerke in der Literatur manchmal schwer genießbar macht.
Nur vor diesem Werkhintergrund wird verständlich, dass Austers nun erschienene Sammlung von Essays aus fünfzig Jahren mehr ist als nur ein publizistischer Wiederaufguss. Unübersehbar wird dies im Fall eines bisher unveröffentlichten Stücks über Edgar Allan Poe, dem Auster einen kleinen Einführungstext voranstellt: Es handele sich um handschriftliche Notizen zu einem Vortrag aus dem Jahr 1982, den ein Archivar der New York Public Library bei der Erschließung von Austers Papieren, also seines Vorlasses, "entdeckt" habe. Daran anschließend folgt ein langer Brief über den Lyriker George Oppen von 1984, den Auster ebenfalls vorneweg kommentiert: "2012 fand ich in einer Schachtel mit alten, unveröffentlichten Texten diesen Brief." So betrachtet ist "Mit Fremden sprechen" ein buchförmiges Archiv in eigener Sache, dessen Adressatenkreis nicht allein die heutige Leserschaft, sondern auch eine imaginierte Nachwelt ist.
Nun, welches Bild entwirft Paul Auster von Paul Auster in und mit seinem Buch? Unverkennbar das eines Menschen, der seine Existenz ganz und gar der Literatur verschrieben hat. Ausdrücklich spricht er dies in einer Preisrede von 2006 aus, die der Essaysammlung ihren Titel gibt und außerdem herausgehoben am Ende des Bandes abgedruckt ist: "Der Roman ist der einzige Ort auf der Welt, an dem zwei Fremde sich in uneingeschränkter Zweisamkeit begegnen können. Ich habe mein Leben im Gespräch mit Menschen verbracht, die ich nie gesehen habe . . . und hoffe, dies bis zu meinem letzten Atemzug zu tun. Es ist das Einzige, was ich jemals wollte."
Damit schließt Auster die Klammer um seine Textsammlung, wenngleich die vermeintliche Sonderstellung des Romans darin keine größere Rolle spielt. Ob er gelehrt über die moderne französische Dichtung schreibt, deren Vermittlung in die Vereinigten Staaten er zeitweise hauptverantwortlich betrieb, ob er sich zu Kafkas Briefen, Hamsuns "Hunger" oder zur Hochseilartistik eines Philippe Petit äußert - stets hat man den Eindruck, er tue dies mit dem aufrichtigen Vorsatz, sich von der Kunst etwas sagen zu lassen, in einen Dialog eintreten zu wollen.
Ein gutes Beispiel hierfür ist der lange Essay über Nathaniel Hawthornes 1851 geschriebene Erzählung "Zwanzig Tage mit Julian und Little Bunny". Es handelt sich um einen für das neunzehnte Jahrhundert ganz außergewöhnlichen Bericht eines Vaters, der sich allein um seinen kleinen Sohn (nebst Häschen) zu kümmern hat. Austers Lektüre ist langsam, eingehend und schließt mit der Bemerkung, dem Autor sei auf "bescheidene, trockene Art" gelungen, wovon alle Eltern träumten, nämlich "die Erinnerung an das Kind immer lebendig zu halten". Hier gelingt etwas, das der Philosoph Hans-Georg Gadamer als höchstes Ziel aller Verstehensbemühungen begreift, nämlich die "Teilhabe" eines heutigen Lesers und eines historischen Textes "am gemeinsamen Sinn".
Aber die besondere "Empfänglichkeit" eines Lesers, um noch einmal mit Gadamer zu sprechen, erschwert zugleich die Abgrenzung - was schlimmstenfalls zum Kollaps führt. Auster beschreibt eine solche Erfahrung im Zusammenhang mit dem "National Story Project", das er um die Jahrtausendwende herum gemeinsam mit einem Radiosender durchführte. Auf seinen Aufruf hin schickten ihm mehr als viertausend Amerikaner ihre Alltagsgeschichten, eine wahre "Flut an Manuskripten", aus der jeweils nur eine kleine Zahl für die Lesungen im Radio auszuwählen war - eine für ihn fast unmögliche Aufgabe: "Mit zu vielen Emotionen musste ich fertig werden, zu viele Fremde hatten ihr Lager in meinem Wohnzimmer aufgeschlagen, zu viele Stimmen drangen von allen Seiten an mein Ohr." Mit Rekurs auf Walt Whitman und das neunzehnte Jahrhundert beschreibt er seine Lage so: "Ich hörte Amerika nicht singen, ich hörte es Geschichten erzählen."
"Mit Fremden sprechen" - für Auster verbindet sich mit diesem Titel unverkennbar eine Ethik der Anerkennung, was sich nicht zuletzt im milden, wohltemperierten Ton seiner Essays bemerkbar macht. Einen durchweg agonal gestimmten Text sucht man in dieser Sammlung vergeblich, ja selbst die politischen Interventionen, die sich in ihr finden, verzichten auf alle Polemik. Man könnte dies als monoton kritisieren, würde damit aber unterschätzen, wie politisch dieses Buch bei aller Selbsthistorisierung zugleich ist: Indem er es selbst praktiziert, geht es Paul Auster um die Formulierung eines Diskursideals, von dem Amerika in den letzten Jahren nicht weiter hätte entfernt sein können.
KAI SINA
Paul Auster: "Mit Fremden sprechen". Ausgewählte Essays und andere
Schriften aus 50 Jahren.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz u.a.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2020.
412 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er hörte Amerika erzählen und zerbrach fast daran: In einer Essaysammlung zieht Paul Auster die Summe seines kritischen Schaffens
Vor zehn Jahren erschien Paul Austers bis dahin persönlichstes, nicht nur im übertragenen Sinne intimstes Buch. Es trägt den Titel "Winterjournal" und erzählt die eigene Lebensgeschichte anhand von Körpererfahrungen. Sein Ausgangspunkt ist die ans eigene Ich gerichtete Frage, "wie das für dich war, in diesem Körper zu leben - vom ersten Tag, an den du dich erinnern kannst, bis heute". Der Schreiber, der sich unverrätselt als Paul Auster zu erkennen gibt, versteht sein Journal als einen "Katalog an Sinnesdaten", der am Ende auf eine Frage und eine Erkenntnis hinausläuft: "Wie viele Morgen bleiben noch?" Und: "Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten." Das Buch trifft ins Mark.
Auster war vierundsechzig Jahre alt, als er sein Journal schrieb, und seine literarische Winterreise setzte sich seither fort. In einem dokumentarisch angelegten "Report from the Interior" schilderte er die politischen und religiösen, ästhetischen und emotionalen Prägungen seiner Jugend im Zusammenspiel von Text und Bild, und im Großroman "4 3 2 1" erkundete er, indem er die Biographie seines Helden in vier komplex zusammengestrickten Versionen erzählte, die lebensentscheidende Bedeutung des Zufalls. In diesen Werken vereinen sich rückblickende Selbstbetrachtungen und Epochenporträts, Existenzphilosophie und literarische Spielfreude - ohne jenen sentimentalen Narzissmus, der Spätwerke in der Literatur manchmal schwer genießbar macht.
Nur vor diesem Werkhintergrund wird verständlich, dass Austers nun erschienene Sammlung von Essays aus fünfzig Jahren mehr ist als nur ein publizistischer Wiederaufguss. Unübersehbar wird dies im Fall eines bisher unveröffentlichten Stücks über Edgar Allan Poe, dem Auster einen kleinen Einführungstext voranstellt: Es handele sich um handschriftliche Notizen zu einem Vortrag aus dem Jahr 1982, den ein Archivar der New York Public Library bei der Erschließung von Austers Papieren, also seines Vorlasses, "entdeckt" habe. Daran anschließend folgt ein langer Brief über den Lyriker George Oppen von 1984, den Auster ebenfalls vorneweg kommentiert: "2012 fand ich in einer Schachtel mit alten, unveröffentlichten Texten diesen Brief." So betrachtet ist "Mit Fremden sprechen" ein buchförmiges Archiv in eigener Sache, dessen Adressatenkreis nicht allein die heutige Leserschaft, sondern auch eine imaginierte Nachwelt ist.
Nun, welches Bild entwirft Paul Auster von Paul Auster in und mit seinem Buch? Unverkennbar das eines Menschen, der seine Existenz ganz und gar der Literatur verschrieben hat. Ausdrücklich spricht er dies in einer Preisrede von 2006 aus, die der Essaysammlung ihren Titel gibt und außerdem herausgehoben am Ende des Bandes abgedruckt ist: "Der Roman ist der einzige Ort auf der Welt, an dem zwei Fremde sich in uneingeschränkter Zweisamkeit begegnen können. Ich habe mein Leben im Gespräch mit Menschen verbracht, die ich nie gesehen habe . . . und hoffe, dies bis zu meinem letzten Atemzug zu tun. Es ist das Einzige, was ich jemals wollte."
Damit schließt Auster die Klammer um seine Textsammlung, wenngleich die vermeintliche Sonderstellung des Romans darin keine größere Rolle spielt. Ob er gelehrt über die moderne französische Dichtung schreibt, deren Vermittlung in die Vereinigten Staaten er zeitweise hauptverantwortlich betrieb, ob er sich zu Kafkas Briefen, Hamsuns "Hunger" oder zur Hochseilartistik eines Philippe Petit äußert - stets hat man den Eindruck, er tue dies mit dem aufrichtigen Vorsatz, sich von der Kunst etwas sagen zu lassen, in einen Dialog eintreten zu wollen.
Ein gutes Beispiel hierfür ist der lange Essay über Nathaniel Hawthornes 1851 geschriebene Erzählung "Zwanzig Tage mit Julian und Little Bunny". Es handelt sich um einen für das neunzehnte Jahrhundert ganz außergewöhnlichen Bericht eines Vaters, der sich allein um seinen kleinen Sohn (nebst Häschen) zu kümmern hat. Austers Lektüre ist langsam, eingehend und schließt mit der Bemerkung, dem Autor sei auf "bescheidene, trockene Art" gelungen, wovon alle Eltern träumten, nämlich "die Erinnerung an das Kind immer lebendig zu halten". Hier gelingt etwas, das der Philosoph Hans-Georg Gadamer als höchstes Ziel aller Verstehensbemühungen begreift, nämlich die "Teilhabe" eines heutigen Lesers und eines historischen Textes "am gemeinsamen Sinn".
Aber die besondere "Empfänglichkeit" eines Lesers, um noch einmal mit Gadamer zu sprechen, erschwert zugleich die Abgrenzung - was schlimmstenfalls zum Kollaps führt. Auster beschreibt eine solche Erfahrung im Zusammenhang mit dem "National Story Project", das er um die Jahrtausendwende herum gemeinsam mit einem Radiosender durchführte. Auf seinen Aufruf hin schickten ihm mehr als viertausend Amerikaner ihre Alltagsgeschichten, eine wahre "Flut an Manuskripten", aus der jeweils nur eine kleine Zahl für die Lesungen im Radio auszuwählen war - eine für ihn fast unmögliche Aufgabe: "Mit zu vielen Emotionen musste ich fertig werden, zu viele Fremde hatten ihr Lager in meinem Wohnzimmer aufgeschlagen, zu viele Stimmen drangen von allen Seiten an mein Ohr." Mit Rekurs auf Walt Whitman und das neunzehnte Jahrhundert beschreibt er seine Lage so: "Ich hörte Amerika nicht singen, ich hörte es Geschichten erzählen."
"Mit Fremden sprechen" - für Auster verbindet sich mit diesem Titel unverkennbar eine Ethik der Anerkennung, was sich nicht zuletzt im milden, wohltemperierten Ton seiner Essays bemerkbar macht. Einen durchweg agonal gestimmten Text sucht man in dieser Sammlung vergeblich, ja selbst die politischen Interventionen, die sich in ihr finden, verzichten auf alle Polemik. Man könnte dies als monoton kritisieren, würde damit aber unterschätzen, wie politisch dieses Buch bei aller Selbsthistorisierung zugleich ist: Indem er es selbst praktiziert, geht es Paul Auster um die Formulierung eines Diskursideals, von dem Amerika in den letzten Jahren nicht weiter hätte entfernt sein können.
KAI SINA
Paul Auster: "Mit Fremden sprechen". Ausgewählte Essays und andere
Schriften aus 50 Jahren.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz u.a.
Rowohlt Verlag,
Hamburg 2020.
412 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Mit Fremden sprechen" erweist sich mit seiner Vielfältigkeit und Eloquenz als ein Kompass des Erzählens. Man kann dem großen Meister der amerikanischen Literatur förmlich beim Denken zusehen. Paul Auster ist mit Leib und Seele Leser und Autor. Maria Winkler Cicero 20210128