Muss man die Mitte besetzen, um die Macht zu sichern? Oder ist sie eher der Ort, an dem die größte Gefahr droht, nämlich von allen Seiten? Behindert eine starke Mitte den Fortschritt der Geschichte? Was genau bedeutet «Mitte» überhaupt? Warum ist sie zum politischen Schlüsselbegriff geworden? Und inwiefern hängt sie mit der Tugend des Maßhaltens zusammen? Herfried Münkler zeigt, wie sich die Ideen von Mitte und Maß gemeinsam entwickelten, von der Antike bis in die Gegenwart: von Aristoteles bis zur Gierdebatte unserer Tage, vom Selbstverständnis Chinas als «Reich der Mitte» bis zum Deutschen Reich als «Mittelmacht», von der mittelalterlichen Stadt, deren Mitte durch Kirchturm und Rathaus markiert wird, bis zur schrumpfenden Mittelschicht in den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts. So entsteht ein facettenreiches Bild jener Verbindung von Mitte und Maß, die unsere Kultur auf so besondere Weise durchdringt. Die Frage, die gleichsam Fluchtpunkt aller Überlegungen ist, beunruhigt: Wird die «Mitte der Gesellschaft» deshalb so lebhaft beschworen, weil sie in Gefahr ist zu verschwinden? Und falls ja - was tritt an ihre Stelle? Ein Buch, das historische Analyse, Gegenwartsdiagnose und Zukunftsprognose souverän verbindet.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2010Zähe Spießer
sind im Glück
Von Mitternacht bis Mittag: Der Politikwissenschaftler
Herfried Münkler vermisst die Mitte Von Jens Bisky
Wenn einer es mit der Vernunft hält und alles seinen Gang geht, dann wird er über kurz oder lang ein Spießer. Das bringt der Lauf der Dinge mit sich. – So kann man zumindest einige Bemerkungen Georg Wilhelm Friedrich Hegels über die Helden des prosaischen Zeitalters zuspitzen. Selbstverständlich empören sich die besseren Seelenteile gegen diese Einsicht. Nein, erwidern sie, keineswegs muss man als Kleinbürger oder Mittelschichtsexistenz enden; die von hohen Idealen getragenen Bestrebungen zur Weltbesserung und die Liebe retten uns vor dem Vertrocknen und der Herabstufung zum mittleren Charakter.
Ach, erwidert Hegel, gewiss streitet jeder Jüngling – gleichsam als neuer Ritter – gegen den Weltlauf und die Beschränkungen durch bürgerliche Gesellschaft und Staat. Aber diese Kämpfe seien in der modernen Welt, die die „Zufälligkeit des äußeren Daseins“ in eine „feste sichere Ordnung“ verwandelt hat, „nichts weiter als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit“. Das Subjekt laufe sich die Hörner ab, es trete kämpfend, mit Wünschen und Meinen in die bestehenden Verhältnisse und die Verkettung der Welt.
Es folgen in den Vorlesungen über die Ästhetik Sätze von großer Kaltherzigkeit und Hellsicht zugleich: „Mag einer auch noch so viel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein – zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch: die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da.“
Als Hegel dies schrieb, waren die Mittelschichten eine zahlenmäßig kleine Gruppe, eingezwängt zwischen Oben und Unten. Inzwischen stellen sie, zumindest in Deutschland und den meisten Ländern Europas, die Mehrheit, bis zu zwei Drittel der Bevölkerung. Die ironische Huldigung, die Hans Magnus Enzensberger 1976 den Kleinbürgern und der „Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums“ zukommen ließ, ist längst klassisch geworden.
Die Mittelschichten, deren Triumphmarsch so groß war, weil sie sich klein machten, haben, wie wir heute wissen, nicht nur den Durchbruch der Industriegesellschaft, sondern auch deren Ende, nicht nur die Zeit der Weltanschauungsdiktaturen und deren Untergang überlebt. Sie sind aus all dem gestärkt hervorgegangen. Dank ihrer Wandlungsfähigkeit und Kompromissbereitschaft, dank Zähigkeit, Fleiß und Liebe zu Regeln wie Institutionen. Aber Unbehagen meldet sich doch an diesem Weltzustand, und es ist in jüngster Zeit lauter geworden. Es kommt wie gewohnt aus der Mittelschicht selbst: Zum einen wird die Furcht artikuliert, die Mitte könne – von globalem Konkurrenzdruck und Sozialstaat zugleich in die Zange genommen – immer kleiner, stetig zerzauster und gestresster werden. Dabei schwingt die Drohung mit, dies werde auch politisch gefährlich. Schließlich bilde die Mitte das Fundament der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Schwächele sie, würden die Extreme stark. Das klingt einleuchtend, verkennt aber die Lage. In einem Land, in dem endlos darüber gestritten wird, ob die Hartz-IV-Sätze um fünf oder fünzig Euro erhöht werden sollten, stehen schwerlich politische Grundsatzentscheidungen an. Die Sozialdemokratisierung aller politischen Parteien war offenkundig so erfolgreich, der Sozialstaatskonsens ist so groß, dass selbst dessen Gegner, die sogenannten links- oder rechtspopulistischen Parteien, nicht aus eigenem Recht existieren, sondern von der Schwäche der anderen oder den Freuden der Triebabfuhr gegen die Mehrheit.
Intellektuell ist auf diese mit viel Nervosität verbundene Gleichförmigkeit in jüngster Zeit mit der Revitalisierung von Gespenstern reagiert worden. Peter Sloterdijk hat der Gegenwart ein neue Vertikalorientierung und ein Trainingsprogramm aus nietzscheanischem Geist verordnet – „Du musst Dein Leben ändern“; andere versuchen unverdrossen, dem alten Liberalismus neue scharfe Klingen in die Hand zu geben (auch wenn man den Eindruck gewinnt, dass wir vorerst mit groben Keulen vorlieb nehmen müssen); auf der Linken raunt es wieder leninistisch von Avantgarde und Erlösung. Da freut man sich über ein Buch wie das des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler, der auf Irritationen und Zeitungsmeldungen nicht mit verschärfter Erregungsproduktion reagiert, sondern mit Analyse.
Die Mitte, sagt man, sei gefährdet. Was aber ist damit gemeint? Was bedeutet „Mitte“ sozial, kulturell, politisch? Der Begriff ist ja, wie alle mit langem Leben und vielfältigen Einsatzmöglichkeiten, vieldeutig. Seit Aristoteles steht „Mitte“ für Maßhalten und Tugend eines Bürgers, dem das Gemeinwesen und die eigene Glückseligkeit gleichermaßen wichtig ist. Er sucht die Mitte zwischen dem „Zuwenig“ und dem „Zuviel“. Mathematisch bestimmen, arithmetisch oder mit Lineal und Zirkel, lässt sich „das Gute des rechten Maßes“ gleichwohl nicht. Die zu treffende Mitte liegt eben nicht immer in derselben, sondern einmal näher bei diesem einmal näher beim anderen Extrem. Münkler zitiert aus Aristoteles’ „Nikomachischer Ethik“: „So ist der Tapferkeit nicht die Tollkühnheit am gegensätzlichsten, die ein Übermaß ist, sondern vielmehr die Feigheit, die ein Mangel ist; der Besonnenheit steht umgekehrt nicht die Stumpfheit ferner, die ein Mangel ist, sondern die Zügellosigkeit als das Übermaß.“
Es gibt keinen Automatismus oder Schematismus, der es uns erleichtern würde, das rechte Maß zu finden. Aristoteles erinnert an den Bogenschützen, der über das Ziel hinausschießen müsse, um es zu treffen, der links oder rechts am Ziel vorbei anlegen müsse, um auch die Windverhältnisse berücksichtigt zu haben. Botho Strauß hat das Gleichnis 1993 in seinem Stück „Das Gleichgewicht“ entfaltet – eine Frau zwischen dem Dasein als Professorengattin und dem Abenteuer als Rockmusikerliebchen. Wenn das Gleichnis aber stimmt, dann haben Mitte und Mittelmaß wenig gemein. Das Anstrengungslose, routiniert und risikolos Verfahrende, das man mit der Mittelmäßigkeit verbindet, wäre der Mühe und dem Training entgegengesetzt, deren es bedarf, um das Richtige richtig zu treffen. In der Gegenwart haben vor allem die Propagandisten der Neuen Bürgerlichkeit den Zusammenhang von Kultur und Training betont.
Münkler streift sie kurz, wie er es überhaupt vermeidet, sich auf eine Seite zu schlagen. Vielmehr will er den Fundus der Ideengeschichte nutzen, um die Mitte neu zu vermessen und zu verstehen, warum diese seit Beginn des neuen Jahrtausends so verängstigt wirkt, so defensiv agiert, warum die Stimmung schlechter ist als die Lage. Vier Essays beleuchten Für und Wider, „Nutzen und Nachteil der Mitte für die Gesellschaft“. In „Mitte und Maß“ geht es um das Verhältnis einer Mitteorientierung zu den Fortschrittserzählungen – die Mitte ist enttäuschungsresistenter, aber eher auf der Seite der Alten; ihr drohe die Erhebung der Durchschnittlichkeit zur Norm; die größte Bedrohung des Maßhaltens und der Mäßigung komme aber aus der Eigenlogik kapitalistischen Wirtschaftens, das eben aufs Maßlose zielt.
Das Paradox der Mitte – je umworbener und mächtiger, desto verunsicherter – findet darin nur zum Teil seine Erklärung. Es dürfte mit der unvermeidlichen Differenzierung in der Mitte, zwischen den Aufstiegsbremsen Fürchtenden oben und den in den Abstiegsabgrund Starrenden unten ebenso zusammenhängen wie mit Paradoxien des Konsums: Dieser wirkt zwar als größte und effizienteste Integrationsmaschine und stärkt somit die gesellschaftliche Mitte, zugleich aber zwingt er zu immer neuen Distinktionen, zur Überschreitung des Maßes. Außerdem sind Glück und Frustration beim Konsum verschwistert: Die erste Stereoanlage machte das Leben besser und glücklicher, von der dritten erinnert man nur noch die technischen Macken.
Münkler argumentiert mit großer Vorsicht, relativiert als wahrhafter Theoretiker der Mitte alle Übertreibungen, Einseitigkeiten und nimmt sich leider nicht viel Zeit für die genauere Beschreibung einzelner Phänomene. Sobald er diese eingeordnet hat, scheinen sie ihn nicht weiter zu interessieren. Was aber schon im ersten Essay dieses Buches besticht und es zu einem wirklichen Leitfaden im Labyrinth der Gegenwartshysterien macht, ist sein Bemühen, die Mitte nicht als Zustand, als ein Bestehendes, Festes, Unveränderliches zu fassen, sondern in ihr das Ergebnis dynamischer, teils auch dramatischer Vorgänge zu erkennen. Einen Vorgänger hat er darin in dem Soziologen Helmut Schelsky, der in den fünfziger Jahren die Formel von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ prägte. Besser hätte er vielleicht gesagt, was er sagen wollte, wenn er von der sich immer neu nivellierenden Mittelschichtsgesellschaft gesprochen hätte.
Denn durch Krieg, Vertreibung, Wiederaufbau und Demokratisierung, so Schelskys Beobachtung, haben sich Verluste und Gewinne, Abstiegskarrieren und aufsteigende Lebensläufe so gemischt, dass die Mitte gesellschaftsbestimmend wurde. Eine weitere Beobachtung Schelskys könnte helfen, manche derzeitige Übellaunigkeit zu verstehen. Menschen kämpfen, glaubte er zu beobachten, nicht so sehr für gegenwärtige Interessen als an „Vergangenheitsfronten“: Sie entnehmen ihr Maß an früheren Zuständen. Zwanzig Jahre nach der Vereinigung scheint das doch ziemlich zutreffend. Und die Mitte lebt auch und gerade von den Extremen, die sie zu Unterhaltungszwecken benötigt, und um immer wieder sich selbst zu generieren, Maß und Ordnung wieder zu erzeugen. Wer sich für Ideengeschichte interessiert, wird seine Freude finden an Münklers Überlegungen zu „Mitte und Macht“ sowie „Mitte und Raum“. Hier erfährt man, wie die richtige Ordnung als Macht der Mitte gedeutet wurde, warum Marx im Kleinbürgertum ein Hindernis für die proletarische Revolution sah und warum er glaubte, die Mitte werde zwischen Kapital und Arbeit zerrieben. Man kann mit Nietzsche dem Pathos der Distanz und der Entscheidung frönen und die Herrschaft der Mediokren, der Herdentiere verabscheuen. Längere geostrategische Gedankenspiele belehren, wie die Lage in der Mitte Europas die Deutschen und ihre Militärstrategie geprägt hat.
Münkler endet mit einem Schluss-Essay über die Gegenwart der Berliner Republik, die ja mit Gerhard Schröders Kampf um die „neue Mitte“ erst richtig begann. Er endet einerseits beruhigend: „Seit sich die Deutschen mit dem Mittelmaß abgefunden haben, sind sie selbst zur Ruhe gekommen und mit ihnen der ganze Kontinent.“ Und dann deutet er doch an, dass es keinen Grund gibt, sich an Ankunftsidyllen zu erfreuen: Die politischen Konstellationen seien keineswegs beruhigt: „Die mit links und rechts verbundenen politischen Erwartungen bestehen fort. Sie haben sich bloß von den Extrempositionen der Ränder in die Mitte verlagert.“
Das Auseinanderdriften von oberer und unterer Mittelschicht dürfte, so Münklers Prognose, die kommenden Jahre ebenso bestimmen wie der Kampf innerhalb der Volksparteien. Er wird, so darf man schließen, an Bissigkeit zunehmen, gerade weil die Unterschiede kleiner geworden und weniger grundsätzlich sind. Und die Jünglinge und Mädchen stehen nun nicht nur vor der Aufgabe, in die Verkettung der Welt einzutreten und Spießer zu werden, sie müssten dabei auch noch Idealisten und Romantiker bleiben.
Herfried Münkler
Mitte und Maß
Der Kampf um die richtige Ordnung.
Rowohlt Berlin, Berlin 2010.
301 Seiten, 19,95 Euro.
Warum ist die Stimmung
der Mitte schlechter
als ihre Lage?
Die Deutschen sind ein wenig
zur Ruhe gekommen. Doch der
Kampf wird bissiger werden
Dieses Buch ist ein
Leitfaden im Labyrinth
der Gegenwartshysterien
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
sind im Glück
Von Mitternacht bis Mittag: Der Politikwissenschaftler
Herfried Münkler vermisst die Mitte Von Jens Bisky
Wenn einer es mit der Vernunft hält und alles seinen Gang geht, dann wird er über kurz oder lang ein Spießer. Das bringt der Lauf der Dinge mit sich. – So kann man zumindest einige Bemerkungen Georg Wilhelm Friedrich Hegels über die Helden des prosaischen Zeitalters zuspitzen. Selbstverständlich empören sich die besseren Seelenteile gegen diese Einsicht. Nein, erwidern sie, keineswegs muss man als Kleinbürger oder Mittelschichtsexistenz enden; die von hohen Idealen getragenen Bestrebungen zur Weltbesserung und die Liebe retten uns vor dem Vertrocknen und der Herabstufung zum mittleren Charakter.
Ach, erwidert Hegel, gewiss streitet jeder Jüngling – gleichsam als neuer Ritter – gegen den Weltlauf und die Beschränkungen durch bürgerliche Gesellschaft und Staat. Aber diese Kämpfe seien in der modernen Welt, die die „Zufälligkeit des äußeren Daseins“ in eine „feste sichere Ordnung“ verwandelt hat, „nichts weiter als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit“. Das Subjekt laufe sich die Hörner ab, es trete kämpfend, mit Wünschen und Meinen in die bestehenden Verhältnisse und die Verkettung der Welt.
Es folgen in den Vorlesungen über die Ästhetik Sätze von großer Kaltherzigkeit und Hellsicht zugleich: „Mag einer auch noch so viel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein – zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch: die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da.“
Als Hegel dies schrieb, waren die Mittelschichten eine zahlenmäßig kleine Gruppe, eingezwängt zwischen Oben und Unten. Inzwischen stellen sie, zumindest in Deutschland und den meisten Ländern Europas, die Mehrheit, bis zu zwei Drittel der Bevölkerung. Die ironische Huldigung, die Hans Magnus Enzensberger 1976 den Kleinbürgern und der „Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums“ zukommen ließ, ist längst klassisch geworden.
Die Mittelschichten, deren Triumphmarsch so groß war, weil sie sich klein machten, haben, wie wir heute wissen, nicht nur den Durchbruch der Industriegesellschaft, sondern auch deren Ende, nicht nur die Zeit der Weltanschauungsdiktaturen und deren Untergang überlebt. Sie sind aus all dem gestärkt hervorgegangen. Dank ihrer Wandlungsfähigkeit und Kompromissbereitschaft, dank Zähigkeit, Fleiß und Liebe zu Regeln wie Institutionen. Aber Unbehagen meldet sich doch an diesem Weltzustand, und es ist in jüngster Zeit lauter geworden. Es kommt wie gewohnt aus der Mittelschicht selbst: Zum einen wird die Furcht artikuliert, die Mitte könne – von globalem Konkurrenzdruck und Sozialstaat zugleich in die Zange genommen – immer kleiner, stetig zerzauster und gestresster werden. Dabei schwingt die Drohung mit, dies werde auch politisch gefährlich. Schließlich bilde die Mitte das Fundament der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Schwächele sie, würden die Extreme stark. Das klingt einleuchtend, verkennt aber die Lage. In einem Land, in dem endlos darüber gestritten wird, ob die Hartz-IV-Sätze um fünf oder fünzig Euro erhöht werden sollten, stehen schwerlich politische Grundsatzentscheidungen an. Die Sozialdemokratisierung aller politischen Parteien war offenkundig so erfolgreich, der Sozialstaatskonsens ist so groß, dass selbst dessen Gegner, die sogenannten links- oder rechtspopulistischen Parteien, nicht aus eigenem Recht existieren, sondern von der Schwäche der anderen oder den Freuden der Triebabfuhr gegen die Mehrheit.
Intellektuell ist auf diese mit viel Nervosität verbundene Gleichförmigkeit in jüngster Zeit mit der Revitalisierung von Gespenstern reagiert worden. Peter Sloterdijk hat der Gegenwart ein neue Vertikalorientierung und ein Trainingsprogramm aus nietzscheanischem Geist verordnet – „Du musst Dein Leben ändern“; andere versuchen unverdrossen, dem alten Liberalismus neue scharfe Klingen in die Hand zu geben (auch wenn man den Eindruck gewinnt, dass wir vorerst mit groben Keulen vorlieb nehmen müssen); auf der Linken raunt es wieder leninistisch von Avantgarde und Erlösung. Da freut man sich über ein Buch wie das des Berliner Politikwissenschaftlers Herfried Münkler, der auf Irritationen und Zeitungsmeldungen nicht mit verschärfter Erregungsproduktion reagiert, sondern mit Analyse.
Die Mitte, sagt man, sei gefährdet. Was aber ist damit gemeint? Was bedeutet „Mitte“ sozial, kulturell, politisch? Der Begriff ist ja, wie alle mit langem Leben und vielfältigen Einsatzmöglichkeiten, vieldeutig. Seit Aristoteles steht „Mitte“ für Maßhalten und Tugend eines Bürgers, dem das Gemeinwesen und die eigene Glückseligkeit gleichermaßen wichtig ist. Er sucht die Mitte zwischen dem „Zuwenig“ und dem „Zuviel“. Mathematisch bestimmen, arithmetisch oder mit Lineal und Zirkel, lässt sich „das Gute des rechten Maßes“ gleichwohl nicht. Die zu treffende Mitte liegt eben nicht immer in derselben, sondern einmal näher bei diesem einmal näher beim anderen Extrem. Münkler zitiert aus Aristoteles’ „Nikomachischer Ethik“: „So ist der Tapferkeit nicht die Tollkühnheit am gegensätzlichsten, die ein Übermaß ist, sondern vielmehr die Feigheit, die ein Mangel ist; der Besonnenheit steht umgekehrt nicht die Stumpfheit ferner, die ein Mangel ist, sondern die Zügellosigkeit als das Übermaß.“
Es gibt keinen Automatismus oder Schematismus, der es uns erleichtern würde, das rechte Maß zu finden. Aristoteles erinnert an den Bogenschützen, der über das Ziel hinausschießen müsse, um es zu treffen, der links oder rechts am Ziel vorbei anlegen müsse, um auch die Windverhältnisse berücksichtigt zu haben. Botho Strauß hat das Gleichnis 1993 in seinem Stück „Das Gleichgewicht“ entfaltet – eine Frau zwischen dem Dasein als Professorengattin und dem Abenteuer als Rockmusikerliebchen. Wenn das Gleichnis aber stimmt, dann haben Mitte und Mittelmaß wenig gemein. Das Anstrengungslose, routiniert und risikolos Verfahrende, das man mit der Mittelmäßigkeit verbindet, wäre der Mühe und dem Training entgegengesetzt, deren es bedarf, um das Richtige richtig zu treffen. In der Gegenwart haben vor allem die Propagandisten der Neuen Bürgerlichkeit den Zusammenhang von Kultur und Training betont.
Münkler streift sie kurz, wie er es überhaupt vermeidet, sich auf eine Seite zu schlagen. Vielmehr will er den Fundus der Ideengeschichte nutzen, um die Mitte neu zu vermessen und zu verstehen, warum diese seit Beginn des neuen Jahrtausends so verängstigt wirkt, so defensiv agiert, warum die Stimmung schlechter ist als die Lage. Vier Essays beleuchten Für und Wider, „Nutzen und Nachteil der Mitte für die Gesellschaft“. In „Mitte und Maß“ geht es um das Verhältnis einer Mitteorientierung zu den Fortschrittserzählungen – die Mitte ist enttäuschungsresistenter, aber eher auf der Seite der Alten; ihr drohe die Erhebung der Durchschnittlichkeit zur Norm; die größte Bedrohung des Maßhaltens und der Mäßigung komme aber aus der Eigenlogik kapitalistischen Wirtschaftens, das eben aufs Maßlose zielt.
Das Paradox der Mitte – je umworbener und mächtiger, desto verunsicherter – findet darin nur zum Teil seine Erklärung. Es dürfte mit der unvermeidlichen Differenzierung in der Mitte, zwischen den Aufstiegsbremsen Fürchtenden oben und den in den Abstiegsabgrund Starrenden unten ebenso zusammenhängen wie mit Paradoxien des Konsums: Dieser wirkt zwar als größte und effizienteste Integrationsmaschine und stärkt somit die gesellschaftliche Mitte, zugleich aber zwingt er zu immer neuen Distinktionen, zur Überschreitung des Maßes. Außerdem sind Glück und Frustration beim Konsum verschwistert: Die erste Stereoanlage machte das Leben besser und glücklicher, von der dritten erinnert man nur noch die technischen Macken.
Münkler argumentiert mit großer Vorsicht, relativiert als wahrhafter Theoretiker der Mitte alle Übertreibungen, Einseitigkeiten und nimmt sich leider nicht viel Zeit für die genauere Beschreibung einzelner Phänomene. Sobald er diese eingeordnet hat, scheinen sie ihn nicht weiter zu interessieren. Was aber schon im ersten Essay dieses Buches besticht und es zu einem wirklichen Leitfaden im Labyrinth der Gegenwartshysterien macht, ist sein Bemühen, die Mitte nicht als Zustand, als ein Bestehendes, Festes, Unveränderliches zu fassen, sondern in ihr das Ergebnis dynamischer, teils auch dramatischer Vorgänge zu erkennen. Einen Vorgänger hat er darin in dem Soziologen Helmut Schelsky, der in den fünfziger Jahren die Formel von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ prägte. Besser hätte er vielleicht gesagt, was er sagen wollte, wenn er von der sich immer neu nivellierenden Mittelschichtsgesellschaft gesprochen hätte.
Denn durch Krieg, Vertreibung, Wiederaufbau und Demokratisierung, so Schelskys Beobachtung, haben sich Verluste und Gewinne, Abstiegskarrieren und aufsteigende Lebensläufe so gemischt, dass die Mitte gesellschaftsbestimmend wurde. Eine weitere Beobachtung Schelskys könnte helfen, manche derzeitige Übellaunigkeit zu verstehen. Menschen kämpfen, glaubte er zu beobachten, nicht so sehr für gegenwärtige Interessen als an „Vergangenheitsfronten“: Sie entnehmen ihr Maß an früheren Zuständen. Zwanzig Jahre nach der Vereinigung scheint das doch ziemlich zutreffend. Und die Mitte lebt auch und gerade von den Extremen, die sie zu Unterhaltungszwecken benötigt, und um immer wieder sich selbst zu generieren, Maß und Ordnung wieder zu erzeugen. Wer sich für Ideengeschichte interessiert, wird seine Freude finden an Münklers Überlegungen zu „Mitte und Macht“ sowie „Mitte und Raum“. Hier erfährt man, wie die richtige Ordnung als Macht der Mitte gedeutet wurde, warum Marx im Kleinbürgertum ein Hindernis für die proletarische Revolution sah und warum er glaubte, die Mitte werde zwischen Kapital und Arbeit zerrieben. Man kann mit Nietzsche dem Pathos der Distanz und der Entscheidung frönen und die Herrschaft der Mediokren, der Herdentiere verabscheuen. Längere geostrategische Gedankenspiele belehren, wie die Lage in der Mitte Europas die Deutschen und ihre Militärstrategie geprägt hat.
Münkler endet mit einem Schluss-Essay über die Gegenwart der Berliner Republik, die ja mit Gerhard Schröders Kampf um die „neue Mitte“ erst richtig begann. Er endet einerseits beruhigend: „Seit sich die Deutschen mit dem Mittelmaß abgefunden haben, sind sie selbst zur Ruhe gekommen und mit ihnen der ganze Kontinent.“ Und dann deutet er doch an, dass es keinen Grund gibt, sich an Ankunftsidyllen zu erfreuen: Die politischen Konstellationen seien keineswegs beruhigt: „Die mit links und rechts verbundenen politischen Erwartungen bestehen fort. Sie haben sich bloß von den Extrempositionen der Ränder in die Mitte verlagert.“
Das Auseinanderdriften von oberer und unterer Mittelschicht dürfte, so Münklers Prognose, die kommenden Jahre ebenso bestimmen wie der Kampf innerhalb der Volksparteien. Er wird, so darf man schließen, an Bissigkeit zunehmen, gerade weil die Unterschiede kleiner geworden und weniger grundsätzlich sind. Und die Jünglinge und Mädchen stehen nun nicht nur vor der Aufgabe, in die Verkettung der Welt einzutreten und Spießer zu werden, sie müssten dabei auch noch Idealisten und Romantiker bleiben.
Herfried Münkler
Mitte und Maß
Der Kampf um die richtige Ordnung.
Rowohlt Berlin, Berlin 2010.
301 Seiten, 19,95 Euro.
Warum ist die Stimmung
der Mitte schlechter
als ihre Lage?
Die Deutschen sind ein wenig
zur Ruhe gekommen. Doch der
Kampf wird bissiger werden
Dieses Buch ist ein
Leitfaden im Labyrinth
der Gegenwartshysterien
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2011Reiselust und Lesefrust
Auf der Suche nach der deutschen "Mittebesessenheit"
Herfried Münkler liebt es, mit Stoffmassen umzugehen: Mythen, Imperien, Kriegstheorien. Das breiteste Thema wählte er sich jetzt mit der "Mitte" aus. Ein Buch, das den Mittediskursen seit den Anfängen des politischen Denkens nachspürt, die Ambivalenz der Mitte im Allgemeinen und die Folgen der Mitte-Suche bei den Deutschen im Besonderen untersuchen und dazu noch einen Beitrag zur Neuvermessung der Mitte leisten will, hat Schwierigkeiten, sich thematisch abzugrenzen. Wenn - wie der Verfasser zu Recht feststellt - die Mitte "auf die sie umgebenden Extreme angewiesen" ist, kann alles relevant sein.
In drei großen Essays arbeitet Münkler das Thema ab, im wesentlichen ideengeschichtlich, aber auch immer wieder im Rückgriff auf aktuelle politiktheoretische Diskurse: "Mitte und Maß", "Mitte und Macht" sowie "Mitte und Raum". Alles, was der Zettelkasten zum Thema hergibt, wird ausgebreitet, sozialgeschichtlich, soziopolitisch, politökonomisch, geopolitisch, philologisch und sogar theologisch. Vieles wird nur gestreift, die Auswahlkriterien sind nicht immer klar. Es fehlt an analytischer und begrifflicher Präzision, nicht zuletzt im Hinblick auf das Verhältnis von Mitte und Maß. Am kompetentesten ist der Verfasser, wenn er einzelne Klassiker der Ideengeschichte knapp interpretiert. Es erfordert schon einige literarisch-bibliographische Reiselust des Lesers, dem Parforceritt von der Geschichte der Stadt seit der Antike über mittelalterliche Weltkarten und die europäischen Kriege der frühen Neuzeit bis zum Schlieffen-Plan und Hitler-Stalin-Pakt etwas abgewinnen zu können. Wenn es einen Fluchtpunkt des Buches gibt, dann ist es wohl die Frage nach der Mitte als dem "ewigen Thema der Deutschen" im Sinne einer "Suche nach der Seele Deutschlands". Folgerichtig mündet das Buch in den letzten und kürzesten Abschnitt: "Das neue Deutschland - eine Republik der Mitte?"
Zunächst skizziert Münkler Weimar als "Republik der Extreme". Die politische Mitte ging verloren, weil ihr die soziale Mitte, aber auch Künstler und Intellektuelle die Gefolgschaft verweigerten. Um eine Wiederholung von Weimar zu vermeiden, sei der "politische Kampf gegen die Extremisten von links und rechts zur Verfassungsräson der Bonner Republik" geworden. Helmut Schelsky habe mit dem Begriff der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" bis in die achtziger Jahre die Bundesrepublik treffend beschrieben. Eine "zwanghafte Fixierung auf die Mitte" habe den Geist der Adenauerzeit geprägt, "die im Rückblick als eine Periode der sozialen und politischen Stabilisierung, aber auch kulturellen Spießigkeit und politischen Heuchelei" erscheine. Die gesellschaftliche und politische Mitte sei zwar von rechts und links kritisiert, aber letztlich akzeptiert worden. Sie habe sich allerdings als Folge der 68er-Revolte neu definiert, mit einem Gewinn an "kultureller und mentaler Vielfalt". Zudem habe sich die Mitte in eine "obere und untere Mitte" gespalten. Dieser Entwicklung im Parteiensystem widmet Münkler seinen letzten Abschnitt. Vor allem im Rückgriff auf Arbeiten des Parteienforschers Franz Walter schildert er die Diversifikation der Parteien in der Mitte mit den Vor- und Nachteilen für das politische System.
Münkler hält die Deutschen für "mitteversessen" und geht davon aus, dass sie sich "auf die Suche nach neuen Mitten machen werden, auch wenn im Augenblick nicht abzusehen ist, wo sie diese finden wollen oder finden können". Die Diagnose der "Mittebesessenheit" wirkt recht konstruiert; so wie manche Logik sich als rein verbales Assoziationsspiel entpuppt, so die These vom "Mittetausch": Die Westdeutschen hätten für die "Mittelstandsgesellschaft" auf die "geopolitischen Mittevorstellungen" verzichtet, für die sie zwei verheerende Kriege geführt hätten. Die Essays sind thematisch unausgewogen. Zwar soll die Argumentation auf Deutschland ausgerichtet sein; der Großteil aber reicht mit ausholendem Anspruch darüber hinaus. Wenn beispielsweise China und ganz Asien geopolitisch einbezogen werden, dann würde es sich auch empfehlen, die großen Geistesströmungen Asiens wenigstens anzusprechen, die wesentlich von den Normen Maß und Mitte geprägt sind wie der Buddhismus und der Konfuzianismus. Der Prozess der Globalisierung ist nicht zuletzt eine Auseinandersetzung zwischen westlichem und asiatischem Denken. Nichts davon bei Münkler, trotz stupender Materialfülle. Das Buch erweckt den Eindruck eines flott formulierten Brainstormings, das zum Nachdenken anregen mag. Seiner eingangs formulierten Fragestellung wird der Verfasser kaum gerecht.
WOLFGANG JÄGER
Herfried Münkler: Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung. Rowohlt Verlag, Berlin 2010. 304 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Suche nach der deutschen "Mittebesessenheit"
Herfried Münkler liebt es, mit Stoffmassen umzugehen: Mythen, Imperien, Kriegstheorien. Das breiteste Thema wählte er sich jetzt mit der "Mitte" aus. Ein Buch, das den Mittediskursen seit den Anfängen des politischen Denkens nachspürt, die Ambivalenz der Mitte im Allgemeinen und die Folgen der Mitte-Suche bei den Deutschen im Besonderen untersuchen und dazu noch einen Beitrag zur Neuvermessung der Mitte leisten will, hat Schwierigkeiten, sich thematisch abzugrenzen. Wenn - wie der Verfasser zu Recht feststellt - die Mitte "auf die sie umgebenden Extreme angewiesen" ist, kann alles relevant sein.
In drei großen Essays arbeitet Münkler das Thema ab, im wesentlichen ideengeschichtlich, aber auch immer wieder im Rückgriff auf aktuelle politiktheoretische Diskurse: "Mitte und Maß", "Mitte und Macht" sowie "Mitte und Raum". Alles, was der Zettelkasten zum Thema hergibt, wird ausgebreitet, sozialgeschichtlich, soziopolitisch, politökonomisch, geopolitisch, philologisch und sogar theologisch. Vieles wird nur gestreift, die Auswahlkriterien sind nicht immer klar. Es fehlt an analytischer und begrifflicher Präzision, nicht zuletzt im Hinblick auf das Verhältnis von Mitte und Maß. Am kompetentesten ist der Verfasser, wenn er einzelne Klassiker der Ideengeschichte knapp interpretiert. Es erfordert schon einige literarisch-bibliographische Reiselust des Lesers, dem Parforceritt von der Geschichte der Stadt seit der Antike über mittelalterliche Weltkarten und die europäischen Kriege der frühen Neuzeit bis zum Schlieffen-Plan und Hitler-Stalin-Pakt etwas abgewinnen zu können. Wenn es einen Fluchtpunkt des Buches gibt, dann ist es wohl die Frage nach der Mitte als dem "ewigen Thema der Deutschen" im Sinne einer "Suche nach der Seele Deutschlands". Folgerichtig mündet das Buch in den letzten und kürzesten Abschnitt: "Das neue Deutschland - eine Republik der Mitte?"
Zunächst skizziert Münkler Weimar als "Republik der Extreme". Die politische Mitte ging verloren, weil ihr die soziale Mitte, aber auch Künstler und Intellektuelle die Gefolgschaft verweigerten. Um eine Wiederholung von Weimar zu vermeiden, sei der "politische Kampf gegen die Extremisten von links und rechts zur Verfassungsräson der Bonner Republik" geworden. Helmut Schelsky habe mit dem Begriff der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" bis in die achtziger Jahre die Bundesrepublik treffend beschrieben. Eine "zwanghafte Fixierung auf die Mitte" habe den Geist der Adenauerzeit geprägt, "die im Rückblick als eine Periode der sozialen und politischen Stabilisierung, aber auch kulturellen Spießigkeit und politischen Heuchelei" erscheine. Die gesellschaftliche und politische Mitte sei zwar von rechts und links kritisiert, aber letztlich akzeptiert worden. Sie habe sich allerdings als Folge der 68er-Revolte neu definiert, mit einem Gewinn an "kultureller und mentaler Vielfalt". Zudem habe sich die Mitte in eine "obere und untere Mitte" gespalten. Dieser Entwicklung im Parteiensystem widmet Münkler seinen letzten Abschnitt. Vor allem im Rückgriff auf Arbeiten des Parteienforschers Franz Walter schildert er die Diversifikation der Parteien in der Mitte mit den Vor- und Nachteilen für das politische System.
Münkler hält die Deutschen für "mitteversessen" und geht davon aus, dass sie sich "auf die Suche nach neuen Mitten machen werden, auch wenn im Augenblick nicht abzusehen ist, wo sie diese finden wollen oder finden können". Die Diagnose der "Mittebesessenheit" wirkt recht konstruiert; so wie manche Logik sich als rein verbales Assoziationsspiel entpuppt, so die These vom "Mittetausch": Die Westdeutschen hätten für die "Mittelstandsgesellschaft" auf die "geopolitischen Mittevorstellungen" verzichtet, für die sie zwei verheerende Kriege geführt hätten. Die Essays sind thematisch unausgewogen. Zwar soll die Argumentation auf Deutschland ausgerichtet sein; der Großteil aber reicht mit ausholendem Anspruch darüber hinaus. Wenn beispielsweise China und ganz Asien geopolitisch einbezogen werden, dann würde es sich auch empfehlen, die großen Geistesströmungen Asiens wenigstens anzusprechen, die wesentlich von den Normen Maß und Mitte geprägt sind wie der Buddhismus und der Konfuzianismus. Der Prozess der Globalisierung ist nicht zuletzt eine Auseinandersetzung zwischen westlichem und asiatischem Denken. Nichts davon bei Münkler, trotz stupender Materialfülle. Das Buch erweckt den Eindruck eines flott formulierten Brainstormings, das zum Nachdenken anregen mag. Seiner eingangs formulierten Fragestellung wird der Verfasser kaum gerecht.
WOLFGANG JÄGER
Herfried Münkler: Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung. Rowohlt Verlag, Berlin 2010. 304 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hatte man früher noch geglaubt, die Mitte führe zum Spießertum, fürchtet man heute offenbar, die Mitte könnte verschwinden, meint Jens Bisky, ohne sich da selbst weiter vor zu wagen, weshalb er es nur begrüßen kann, dass Herfried Münkler den Begriff Mitte genauer in den analytischen Blick nimmt. Der Berliner Politikwissenschaftler fragt nach der Bedeutung von politischer, kultureller oder geografischer Mitte und verfolgt ihre Ideengeschichte von Aristoteles bis in die Gegenwart, so der Rezensent eingenommen. Bedauerlich findet er allerdings, dass sich der Autor in seiner Analyse von "Mitte und Maß" einzelner Phänomene" nicht genauer widmet. Was Bisky dafür aber wirklich für dieses Buch einnimmt, ist Münklers Prämisse, dass die Mitte nichts Feststehendes, sondern ein äußerst wandelbares Phänomen ist. Ideengeschichtlich Interessierte werden hier auf ihre Kosten kommen, verspricht der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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