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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Spät übersetzt, aber rechtzeitig: Richard Russos Campusroman "Mittelalte Männer" trifft die Gegenwart aus der Vergangenheit.
Von Jan Wiele
Dass der geisteswissenschaftliche Betrieb ein Haifischbecken ist, blitzte auch früher schon manchmal in der Öffentlichkeit auf - aber seit sich dieser Betrieb auch in den sogenannten sozialen Medien tummelt, treten seine menschlichen Abgründe oft umso deutlicher hervor. Was in diesen Abgründen an gutem Romanstoff steckt, hat man in der deutschsprachigen Literatur noch immer nicht annähernd begriffen: Der Campusroman bleibt, unverständlicherweise, eine Ausnahme, erst recht der gelungene, der wirklich von den Fragen eines "akademischen Lebens" handelt und nicht nur den Campus als Setting für Krimis oder Unterhaltungsliteratur benutzt (F.A.Z. vom 13. März 2017).
Solange das so ist, freut man sich über Ausnahmen und greift zurück auf die Campusromane aus anderen Ländern, vor allem aus anglophonen. Auch diese haben inzwischen weit mehr zu bieten als David Lodge und Philip Roth. Etwa die Bücher von Elif Batuman - oder, in Deutschland leider weiterhin ein Geheimtipp, obwohl sein Werk seit Langem in Übersetzung bei DuMont erscheint, von Richard Russo, dem 1949 im Staat New York Geborenen, der für seinen Roman "Empire Falls" (1992, deutsch: "Diese gottverdammten Träume", 2016) den Pulitzer-Preis erhalten hat. Warum in Russos übersetztem Werk bislang ein gewichtiges Buch fehlte - "Straight Man", im Original 1997 erschienen -, ist kaum verständlich, besonders, weil man es eigentlich mit Philip Roths wenig später veröffentlichtem, Furore machenden Campusroman "The Human Stain" (2000, deutsch: "Der menschliche Makel", 2002) hätte zusammensehen müssen. Beide beschreiben, wie universitäres Lehren und Lernen zunehmend bedroht wird von Geringschätzung und Cancel-Geist, dann ersetzt durch Weltanschauung - bei Roth eine ziemlich ernste Angelegenheit, bei Russo eher eine Farce.
Aber auch, wenn es mit der Übersetzung von "Straight Man", dem aus der Ich-Perspektive erzählten Roman eines Literaturprofessors auf einem Provinzcampus in Pennsylvania, nun fast ein Vierteljahrhundert gedauert hat, kommt sie nicht vollends zu spät. Weil sich vieles von dem, was Russo in seiner Fiktion damals beschrieben hat, hier erst jetzt bewahrheitet. Und so lesen wir, im Titel adaptiert an die inzwischen erfolgte Kritik am "alten weißen Mann", den besagten Roman endlich auf Deutsch als "Mittelalte Männer".
Zurück also ins Haifischbecken: dass auch der Campus der fiktiven West Central Pennsylvania University im fiktiven Railton ein solches ist, begreifen die Leser schon auf den ersten Seiten. Die Stimmung im Kollegium sei von Argwohn, Misstrauen und Rachsucht geprägt, heißt es. Aber nicht nur das: In einem Interview hat Russo gesagt, man wisse, sobald amerikanische Bildungseinrichtungen erst einmal "Southern", "Northern", "Eastern" oder "Western" im Titel führen, dass sie "wildly underfunded", also krass unterfinanziert seien. Das trifft auch im Roman zu, und so zittern alle in Railton, dieser von Russo mit springsteenhafter Melancholie in ihrem Niedergang beschriebenen, prototypischen amerikanischen Kleinstadt an einer "Gleisharfe", am Ende jedes Semesters vor der Bewilligung neuer Mittel - und akut vor einer "Rasur" der Belegschaft um zwanzig Prozent, die als Gerücht die Runde macht.
Sie bringt den Erzähler, William Henry Devereaux, Jr., als Fachbereichsleiter in eine ebenso verantwortungsvolle wie beargwöhnte Position. Fahrt nimmt die Erzählung auf, als er sich vor den Kameras eines Fernsehteams spontan echauffiert und ankündigt, an jedem weiteren Tag ohne bewilligtes Budget eine Ente aus dem Campusteich zu töten. Sein Auftritt wird, was man heute viral nennt, sorgt für Bewunderung des Scherzes, aber auch für Proteste von Tierschützern, die ihn ernst nehmen. Als dann tatsächlich Federvieh getötet wird, man weiß noch nicht, von wem, setzt dies ein Begehren zur Amtsenthebung des Professors in Gang, dessen Ergebnis Russo so kunstvoll hinauszögert, dass es sehr spannend wird und ebenso grotesk.
Das ist aber noch nicht annähernd alles, was Russos Roman ausmacht. Er enthält Unterromane über mehrere Ehen, über die Geschichte der Akademikerfamilie Devereaux und über sexuelle Belästigung an der Universität. Der Sarkasmus, mit dem der Erzähler diesen Themen begegnet, ist bisweilen provokant, heute mehr denn je - in der Aus- und Bloßstellung seiner Figur liegt der größte Reiz des Romans. "Lucky Hank" Devereaux wird, mit seinen sehr ausführlich beschriebenen gesundheitlichen Problemen rund um einen Blasenstein, der auch ein Tumor sein könnte, sowie zahlreichen Eigenschaften, die ihn manchen Mitmenschen als arrogantes "Judas-Arschloch" erscheinen lassen, bestimmt nicht für alle zur Identifikationsfigur - aber auch abgrenzende Lektüre kann ja Gewinn bringen.
Was an diesem Roman noch mehr erheitert und erschüttert als seine Hauptfabel, sind die en passant geschilderten Charakteristika der Belegschaft einer durchschnittlichen, kurz vor ihrem Untergang stehenden geisteswissenschaftlichen Fakultät, und erst recht die ihrer Studenten: "Als Gruppe scheinen sie zu glauben, dass moralische Entrüstung sämtliche Schwächen in Sachen Interpunktion, Orthographie, Grammatik, Logik und Stil locker aufwiegt. Eine Meinung, die sonst nur noch von der Kulturlandschaft unterstützt wird." Es ist nicht die einzige Stelle, an der man sich die Augen reibt angesichts der prophetischen Fähigkeiten Richard Russos.
Richard Russo: "Mittelalte Männer". Roman.
Aus dem Englischen von Monika Köpfer. DuMont Buchverlag, Köln 2021. 605 S., geb., 26,- Euro.
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