"Ein Hundert-Euro-Schein geht von Hand zu Hand und von Leben zu Leben. Wenn jemand wie Wolf Wondratschek erzählt, bekommt selbst ein zufälligerMittwoch die Lebensfülle von 1001 Nacht. Aus einem Brief des Autors an seinen Verleger: "Wenn es möglich ist, verzichten Sie bitte auf das, was man einen Klappentext nennt. Es ist, wie wir wissen, ein bloßer Notbehelf. Allerdings las ich gestern in den 1967/68 gehaltenen Harvard-Vorlesungen von Jorge Luis Borges einen Satz, der das, was ich versucht habe, genau beschreibt: "Er ließ seinen Geist schweifen, und er gab diesem Geist die Gestalt vieler Personen."Aus einem Brief des Verlegers an seinen Autor: "Erlauben Sie mir bitte wenigstens zu sagen, wie hinreißend ich dieses "Schweifen" gefunden habe und wie gern ich durch Sie die Bekanntschaft mit diesen Personen gemacht habe, die ja alle kein ganz leichtes Leben haben, durch Ihre Begleitung aber auf ebenso hinreißende Weise damit zurechtzukommen wissen. Ich danke und gratuliere zu diesem Buch eines Menschenfreundes." Ein Hundert-Euro-Schein geht im Laufe eines Tages - und dieser Tag ist ein Mittwoch - von Hand zu Hand, und Wolf Wondratschek tut nichts anderes, als die Personen, zu denen diese Hände gehören, vor unseren Augen lebendig werden zu lassen. Sie alle haben eine Geschichte, die es an irgendeiner Stelle mit der eines anderen zu tun hatte, und der oder die kann ein Mechaniker, ein Friseur, eine Hure oder ein Boxer sein oder auch einer der vielen feinen Raucher, die sich in einem Tabakgeschäft versammeln. Auf diese Weise entsteht auf bewegende Weise und fern jeder Ideologie das Bild einer Menschheit, in der niemand für sich ist, sondern alle auf geheimnisvolle Weise mit allen verbunden sind. So liest sich dieser Roman wie eine Kettenerzählung, in der Tausend und eine Nacht auf einen Tag fallen."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2015Ein echter Dichter
Wolf Wondratschek in der Frankfurter Romanfabrik
So muss man sich einen echten Dichter vorstellen: Er lebt von Zigaretten und Kaffee, hält sich vom Literaturbetrieb fern, hat keinen Fernseher, dafür aber ein Radio, er liest keine Zeitungen, denn die wichtigsten Nachrichten des Tages erfährt er ohnehin beim Friseur. So einer ist Wolf Wondratschek. Mit einer "Werklesung" in der Frankfurter Romanfabrik hat sich Hausherr Michael Hohmann einen Wunsch erfüllt und damit beiläufig die kleine, aber erlesene Wondratschek-Gemeinde glücklich gemacht. Allen voran den Anglisten Klaus Reichert, der in den sechziger Jahren vis-à-vis von Wondratschek in der Ulmenstraße 4 gewohnt hatte, so dass sich die beiden Nachtarbeiter noch im Dunkeln zuwinken konnten. Jetzt wartete er auf die Stunde nach der Lesung, um bei einer Flasche Weißwein mit dem alten Freund zu plaudern.
Der Gast aus Wien lebt nicht nur wie ein Dichter, er schreibt auch so. Sein zwölfteiliger Zyklus über "Tabori in Fuschl" gab sogar seinem belesenen Gastgeber Rätsel auf. Wie war das doch mit dem selbstgepflanzten Baum? "Tabori hat sich selbst erfunden", schallte es aus dem Publikum, und der Dichter nickte zustimmend. An dem Tisch in der ersten Reihe saß ein echter Wondratschek-Fan. Er verstand seinen Meister und brachte Leben in die Bude. Aber dann kam Hohmann auf ein Bild zu sprechen, das auch in dem Roman "Mittwoch" wiederkehrt. Was hat es damit auf sich, wenn jemand seinen Kopf wie eine Urne begräbt? "Wie wird man seinen Kopf los? Wie kommt man zur Ruhe?" Das fragte sich Wondratschek. "Hier oben sitzt der größte Quälgeist."
Man glaubte, seine Gedankenspiralen in dem sich nach oben kräuselnden Zigarettenqualm sehen zu können. Vom Kopf geheilt sei man eigentlich nur beim K.o. im Ring, fuhr Wondratschek fort. Dieser echte Dichter ist nämlich kein Zimperlieschen, sondern ein Box-Fan. Bei ihm geht beides zusammen: die "Auenlandschaften" im Kopf und der tänzelnde Schritt Muhammad Alis, der übrigens auch ein Dichter war, sogar ein von Wondratschek tief bewunderter. Tatsächlich zitierte der Wahl-Wiener ein Gedicht des einstigen Schwergewichts-Weltmeisters von Haiku-Format: kurz und genial. Da braucht er selbst doch schon etwas mehr Platz, etwa den Spielplatz eines Sonetts oder die Arena eines Romans wie "Mozarts Friseur", über dessen Titelhelden er plötzlich mehr zum Besten gab als über seinen vorgetragenen "Mittwoch".
Wondratschek ließ den Kanälen seiner "Auenlandschaften" freien Lauf, als er über Wiens Kult-Figaro und Kommunikationsgenie Erich Joham in der Griechengasse sprach, wo auch der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg sich die Haare stutzen ließ. Für Monate hatte sich der Dichter dort eingeschlichen, bis ihn André Heller erkannte und auffliegen ließ. Sein Roman erzählt von einem Friseur mit "levantinischem Zeitgefühl", der am Jahrestag des Untergangs der "Titanic" alle Wasserhähne aufdreht: Schließlich seien damals auch Friseure ertrunken. Der Friseurladen: ein Ort zufälliger Begegnungen - wie der Tabak-Trafik-Laden, mit dem jener Euroschein Bekanntschaft macht, dessen Tages-Geschichte Wondratschek in "Mittwoch" erzählt. Mit den Besuchern der Romanfabrik ist er aber absichtsvoll "in die Auen" gegangen.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolf Wondratschek in der Frankfurter Romanfabrik
So muss man sich einen echten Dichter vorstellen: Er lebt von Zigaretten und Kaffee, hält sich vom Literaturbetrieb fern, hat keinen Fernseher, dafür aber ein Radio, er liest keine Zeitungen, denn die wichtigsten Nachrichten des Tages erfährt er ohnehin beim Friseur. So einer ist Wolf Wondratschek. Mit einer "Werklesung" in der Frankfurter Romanfabrik hat sich Hausherr Michael Hohmann einen Wunsch erfüllt und damit beiläufig die kleine, aber erlesene Wondratschek-Gemeinde glücklich gemacht. Allen voran den Anglisten Klaus Reichert, der in den sechziger Jahren vis-à-vis von Wondratschek in der Ulmenstraße 4 gewohnt hatte, so dass sich die beiden Nachtarbeiter noch im Dunkeln zuwinken konnten. Jetzt wartete er auf die Stunde nach der Lesung, um bei einer Flasche Weißwein mit dem alten Freund zu plaudern.
Der Gast aus Wien lebt nicht nur wie ein Dichter, er schreibt auch so. Sein zwölfteiliger Zyklus über "Tabori in Fuschl" gab sogar seinem belesenen Gastgeber Rätsel auf. Wie war das doch mit dem selbstgepflanzten Baum? "Tabori hat sich selbst erfunden", schallte es aus dem Publikum, und der Dichter nickte zustimmend. An dem Tisch in der ersten Reihe saß ein echter Wondratschek-Fan. Er verstand seinen Meister und brachte Leben in die Bude. Aber dann kam Hohmann auf ein Bild zu sprechen, das auch in dem Roman "Mittwoch" wiederkehrt. Was hat es damit auf sich, wenn jemand seinen Kopf wie eine Urne begräbt? "Wie wird man seinen Kopf los? Wie kommt man zur Ruhe?" Das fragte sich Wondratschek. "Hier oben sitzt der größte Quälgeist."
Man glaubte, seine Gedankenspiralen in dem sich nach oben kräuselnden Zigarettenqualm sehen zu können. Vom Kopf geheilt sei man eigentlich nur beim K.o. im Ring, fuhr Wondratschek fort. Dieser echte Dichter ist nämlich kein Zimperlieschen, sondern ein Box-Fan. Bei ihm geht beides zusammen: die "Auenlandschaften" im Kopf und der tänzelnde Schritt Muhammad Alis, der übrigens auch ein Dichter war, sogar ein von Wondratschek tief bewunderter. Tatsächlich zitierte der Wahl-Wiener ein Gedicht des einstigen Schwergewichts-Weltmeisters von Haiku-Format: kurz und genial. Da braucht er selbst doch schon etwas mehr Platz, etwa den Spielplatz eines Sonetts oder die Arena eines Romans wie "Mozarts Friseur", über dessen Titelhelden er plötzlich mehr zum Besten gab als über seinen vorgetragenen "Mittwoch".
Wondratschek ließ den Kanälen seiner "Auenlandschaften" freien Lauf, als er über Wiens Kult-Figaro und Kommunikationsgenie Erich Joham in der Griechengasse sprach, wo auch der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg sich die Haare stutzen ließ. Für Monate hatte sich der Dichter dort eingeschlichen, bis ihn André Heller erkannte und auffliegen ließ. Sein Roman erzählt von einem Friseur mit "levantinischem Zeitgefühl", der am Jahrestag des Untergangs der "Titanic" alle Wasserhähne aufdreht: Schließlich seien damals auch Friseure ertrunken. Der Friseurladen: ein Ort zufälliger Begegnungen - wie der Tabak-Trafik-Laden, mit dem jener Euroschein Bekanntschaft macht, dessen Tages-Geschichte Wondratschek in "Mittwoch" erzählt. Mit den Besuchern der Romanfabrik ist er aber absichtsvoll "in die Auen" gegangen.
CLAUDIA SCHÜLKE
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit großer Souveränität zeichnet Wolf Wondratschek in seinem Roman "Mittwoch" die Charaktere, aus deren Leben er einen kleinen Ausschnitt erzählt, Leben, die nur durch einen Hunderteuroschein verbunden sind, der immer weiter die Hände wechselt, berichtet Marie Schmidt. Dieses Gefühl der selbstverständlichen Überlegenheit, zusammen mit dem distanzierten Erzähler, der nur offen eingreift, wenn es sinnträchtige Bonmots einzustreuen gilt, erscheinen der Rezensentin wie die "charakteristische Perspektive älterer Herren" - das möge man finden, wie man wolle, meint Schmidt. Eines steht für sie aber fest: der "Rock'n'Roller" der deutschen Literatur ist mit fortschreitendem Alter zahmer und versöhnlicher geworden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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