Baumans Buch ist ein überzeugendes Plädoyer für eine tolerante Ambivalenz und damit ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Diskussion um Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus. Der Anspruch der Moderne, den Menschen Klarheit, Transparenz und Ordnung zu bringen – eine durchschaubare Welt zu schaffen –, war von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil mit ihm die grundsätzliche Ambivalenz der Welt und die Zufälligkeit unserer Existenz, unserer Gesellschaft und Kultur geleugnet wurde. Erst die Postmoderne verabschiedete sich von diesem Versprechen. War der Schlachtruf der Moderne "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", so war "Freiheit, Verschiedenheit, Toleranz" die Waffenstillstandsformel der Postmoderne. Und wenn Toleranz in Solidarität umgewandelt wird, kann aus dem Waffenstillstand sogar Frieden werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.12.2005Revolte der Entsorgten
Das Buch zum Aufstand der Vorstädte: Der Soziologe Zygmunt Bauman studiert den Menschenmüll der Moderne
Der französische Innenminister Nicolas Sarkozy bezeichnete die unlängst randalierenden Jugendlichen in den Pariser Vororten als „Gesindel” - der Soziologe Zygmunt Bauman nennt sie „Abfall”. Anders als Sarkozy will Bauman Migranten, Heimatlose und Asylbewerber in seiner Studie „Verworfenes Leben” freilich nicht abwerten. Er spricht von ihnen aus anderem Grund als „menschlichem Abfall aus fernen Winkeln des Planeten, der in ,unserem Hinterhof abgeladen wurde”.
Der Grund lautet: Bisher konnten sich die europäischen Gesellschaften die hässlichen wie unvermeidlichen Nebenprodukte ihrer Modernisierung vergleichsweise leicht vom Hals schaffen. Gegen die Arbeitslosigkeit schickten sie Heere „überflüssiger Menschen” nach Amerika, gegen die Kriminalität verschifften sie Häftlinge nach Übersee, und den Rohstoffhunger ihrer modernen Fabriken sättigten die Kolonien. Doch die Zeit, in der lokale Probleme auf diese Weise global gelöst werden konnten, ist vorbei, so Baumans These: „Unser Planet ist voll”, die Ausweichräume seien verschwunden, denn inzwischen habe die Moderne den ganzen Erdball erfasst. Die Opfer dieser Entwicklung strömten nun in die westlichen Vorstädte zurück. Dort gäre der menschliche Abfall vor sich hin, von den Innenstädten ebenso fern gehalten wie von der Mitte der Gesellschaften.
In Paris sind die Gärgase kürzlich explodiert. Baumans Studie nach zu urteilen, bedeuten die Ausschreitungen aber keine wirkliche Krise der Politik. Im Gegenteil scheint Bauman überzeugt, dass Nationalstaaten in der Spätmoderne globale Probleme ohnehin bevorzugt lokal angingen, also lieber den Ghetto-Freibeuter verhafteten als gegen die organisierte Kriminalität vorzugehen: „Es ist viel opportuner, den Staatsfeind Nummer eins unter den Bewohnern der banlieues auszumachen. Vor allem aber bringt es weniger Ärger mit sich.” Die Aufrüstung gegen den vorgeblichen Feind im Innern helfe den Staatsorganen sogar, ihre zunehmende Ohnmacht gegenüber den Zwängen des Weltwirtschaftssystems zu verdecken.
Dieser Gedanke nährt sich freilich von Thesen jener linken Populisten, die jede über-nationale Strategie gegen die Verflüchtigung des Einflusses der Politik entweder ignorieren oder selbst als Ausgeburt des Kapitalismus diffamieren. Dabei steht Baumans Argument schon die Realität der Europäischen Union entgegen, dem sichtbarsten postnationalen Projekt der Spätmoderne. In den vergangenen zwanzig Jahren haben hier Staaten beträchtliche Befugnisse ihrer Polizeien an europäische Organisationen abgegeben. Ist der Kriminelle den Nationalstaaten wirklich ein willkommener Anlass, eigentlich verlorene Handlungsmacht zu demonstrieren? Dann hätten sie zu seiner Bekämpfung wohl kaum Souveränitätsrechte aus dem Kernbereich ihrer staatlicher Gewalt aufgegeben. Zumindest verweist dieser Einwand auf die Frage, was Baumans Theorie moderner Nationalstaaten zur Praxis ihrer europäischen Einigung sagen kann.
Weil die Vorreiter der Moderne den produzierten Ausschuss nicht länger deportieren können, werden sie auf ihre eigene Ambivalenz zurückgeworfen. Allein, anders als Baumans Studie suggeriert, entledigte sich die Moderne niemals allen „menschlichen Abfalls” auf dem Wege des Exports. Darauf hat Bauman in seinem früheren Buch „Moderne und Ambivalenz” selbst hingewiesen.
Dort stellte er fest, dass die Etablierten den Ambivalenzdruck zunächst mittels antisemitischer Diffamierungen auf die ortsansässigen Juden umlenkten. Baumans metaphernreicher Gedankenstrom reißt den Leser zuweilen mit in Gewässer, wo das eingängige Bild mehr zählt als das Argument. Schon allein deshalb tut der Leser gut daran, Baumans neue Studie parallel mit eben jenem grundlegenden Werk „Moderne und Ambivalenz” zu lesen, das der Verlag gleichzeitig als Taschenbuch herausbringt.
Zu Recht sieht Bauman in den Kindern der Migranten die Parias der Gegenwart. Die Alternative zu Drogendeals heißt für sie höchstens eine Karriere in der Innenstadt - als Müllmann. Wenn die Ausgegrenzten nun Autos abfackeln, lässt sich das als - selbstredend unzulänglicher - Versuch verstehen, sich spür-, sicht- und damit letztlich berührbar zu machen. Bauman, der Meister des metaphorischen Vergleichs, mag manche Analyse oberflächlich begründen. Der Wucht seines Denkens, vermag man sich freilich kaum zu entziehen. STEFFEN KRAFT
ZYGMUNT BAUMAN: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Aus dem Englischen von Werner Roller. Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft, Hamburg 2005. 200 Seiten, 20 Euro.
ZYGMUNT BAUMAN: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Aus dem Englischen von Martin Suhr. Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft, Hamburg 2005. 451 Seiten, 18 Euro.
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Das Buch zum Aufstand der Vorstädte: Der Soziologe Zygmunt Bauman studiert den Menschenmüll der Moderne
Der französische Innenminister Nicolas Sarkozy bezeichnete die unlängst randalierenden Jugendlichen in den Pariser Vororten als „Gesindel” - der Soziologe Zygmunt Bauman nennt sie „Abfall”. Anders als Sarkozy will Bauman Migranten, Heimatlose und Asylbewerber in seiner Studie „Verworfenes Leben” freilich nicht abwerten. Er spricht von ihnen aus anderem Grund als „menschlichem Abfall aus fernen Winkeln des Planeten, der in ,unserem Hinterhof abgeladen wurde”.
Der Grund lautet: Bisher konnten sich die europäischen Gesellschaften die hässlichen wie unvermeidlichen Nebenprodukte ihrer Modernisierung vergleichsweise leicht vom Hals schaffen. Gegen die Arbeitslosigkeit schickten sie Heere „überflüssiger Menschen” nach Amerika, gegen die Kriminalität verschifften sie Häftlinge nach Übersee, und den Rohstoffhunger ihrer modernen Fabriken sättigten die Kolonien. Doch die Zeit, in der lokale Probleme auf diese Weise global gelöst werden konnten, ist vorbei, so Baumans These: „Unser Planet ist voll”, die Ausweichräume seien verschwunden, denn inzwischen habe die Moderne den ganzen Erdball erfasst. Die Opfer dieser Entwicklung strömten nun in die westlichen Vorstädte zurück. Dort gäre der menschliche Abfall vor sich hin, von den Innenstädten ebenso fern gehalten wie von der Mitte der Gesellschaften.
In Paris sind die Gärgase kürzlich explodiert. Baumans Studie nach zu urteilen, bedeuten die Ausschreitungen aber keine wirkliche Krise der Politik. Im Gegenteil scheint Bauman überzeugt, dass Nationalstaaten in der Spätmoderne globale Probleme ohnehin bevorzugt lokal angingen, also lieber den Ghetto-Freibeuter verhafteten als gegen die organisierte Kriminalität vorzugehen: „Es ist viel opportuner, den Staatsfeind Nummer eins unter den Bewohnern der banlieues auszumachen. Vor allem aber bringt es weniger Ärger mit sich.” Die Aufrüstung gegen den vorgeblichen Feind im Innern helfe den Staatsorganen sogar, ihre zunehmende Ohnmacht gegenüber den Zwängen des Weltwirtschaftssystems zu verdecken.
Dieser Gedanke nährt sich freilich von Thesen jener linken Populisten, die jede über-nationale Strategie gegen die Verflüchtigung des Einflusses der Politik entweder ignorieren oder selbst als Ausgeburt des Kapitalismus diffamieren. Dabei steht Baumans Argument schon die Realität der Europäischen Union entgegen, dem sichtbarsten postnationalen Projekt der Spätmoderne. In den vergangenen zwanzig Jahren haben hier Staaten beträchtliche Befugnisse ihrer Polizeien an europäische Organisationen abgegeben. Ist der Kriminelle den Nationalstaaten wirklich ein willkommener Anlass, eigentlich verlorene Handlungsmacht zu demonstrieren? Dann hätten sie zu seiner Bekämpfung wohl kaum Souveränitätsrechte aus dem Kernbereich ihrer staatlicher Gewalt aufgegeben. Zumindest verweist dieser Einwand auf die Frage, was Baumans Theorie moderner Nationalstaaten zur Praxis ihrer europäischen Einigung sagen kann.
Weil die Vorreiter der Moderne den produzierten Ausschuss nicht länger deportieren können, werden sie auf ihre eigene Ambivalenz zurückgeworfen. Allein, anders als Baumans Studie suggeriert, entledigte sich die Moderne niemals allen „menschlichen Abfalls” auf dem Wege des Exports. Darauf hat Bauman in seinem früheren Buch „Moderne und Ambivalenz” selbst hingewiesen.
Dort stellte er fest, dass die Etablierten den Ambivalenzdruck zunächst mittels antisemitischer Diffamierungen auf die ortsansässigen Juden umlenkten. Baumans metaphernreicher Gedankenstrom reißt den Leser zuweilen mit in Gewässer, wo das eingängige Bild mehr zählt als das Argument. Schon allein deshalb tut der Leser gut daran, Baumans neue Studie parallel mit eben jenem grundlegenden Werk „Moderne und Ambivalenz” zu lesen, das der Verlag gleichzeitig als Taschenbuch herausbringt.
Zu Recht sieht Bauman in den Kindern der Migranten die Parias der Gegenwart. Die Alternative zu Drogendeals heißt für sie höchstens eine Karriere in der Innenstadt - als Müllmann. Wenn die Ausgegrenzten nun Autos abfackeln, lässt sich das als - selbstredend unzulänglicher - Versuch verstehen, sich spür-, sicht- und damit letztlich berührbar zu machen. Bauman, der Meister des metaphorischen Vergleichs, mag manche Analyse oberflächlich begründen. Der Wucht seines Denkens, vermag man sich freilich kaum zu entziehen. STEFFEN KRAFT
ZYGMUNT BAUMAN: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Aus dem Englischen von Werner Roller. Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft, Hamburg 2005. 200 Seiten, 20 Euro.
ZYGMUNT BAUMAN: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Aus dem Englischen von Martin Suhr. Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft, Hamburg 2005. 451 Seiten, 18 Euro.
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