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Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern jene andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt?
Und dann ist da trotzdem die Furcht, feige gewesen zu sein, zu lange gezögert und etwas verpasst zu haben, ein besseres Ich, ein größeres Glück, die lustigeren Haustiere und Partner.
Saša Stanišić führt uns an Orte, an denen das auf einmal möglich ist: den schwierigeren Weg zu gehen, eine unübliche Wahl zu treffen oder die eine gute Lüge auszusprechen.
So wie die Reinigungskraft, die beschließt, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das
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Produktbeschreibung
Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern jene andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt?

Und dann ist da trotzdem die Furcht, feige gewesen zu sein, zu lange gezögert und etwas verpasst zu haben, ein besseres Ich, ein größeres Glück, die lustigeren Haustiere und Partner.

Saša Stanišić führt uns an Orte, an denen das auf einmal möglich ist: den schwierigeren Weg zu gehen, eine unübliche Wahl zu treffen oder die eine gute Lüge auszusprechen.

So wie die Reinigungskraft, die beschließt, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. So wie der Justiziar, der bereit ist zu betrügen, um endlich gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory zu gewinnen. Und so wie der deutsch-bosnische Schriftsteller, der zum ersten Mal nach Helgoland reist, nur um dort festzustellen, dass er schon einmal auf Helgoland gewesen ist.

Am besten wäre ja, man könnte ein Leben probeweise erfahren, bevor man es wirklich lebt.

Autorenporträt
Saa Stanii¿ wurde 1978 in Viegrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Seine Werke wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt und viele Male ausgezeichnet. Saa Stanii¿ lebt und arbeitet in Hamburg. Er ist dort Fußballtrainer einer F-Jugend.
Rezensionen
»Ein Buch wie ein Blitzschlag!« Denis Scheck / ARD Das Erste - Druckfrisch

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2024

Proberaum für das Leben

Von Lennardt Loß

Sasa Stanisic ist in seiner bisherigen Karriere gelungen, was nur wenige andere Autoren schaffen: Alle seine Bücher (mittlerweile sind es zwei Romane, ein Erzählband, ein Memoir, mehrere Bilderbücher und ein Kinderroman) sind mindestens gut, eher herausragend. Die "Neue Zürcher Zeitung" lobte Stanisics Debüt "Wie der Soldat das Grammofon repariert" als "glänzend geschrieben". Die "taz" nannte seinen Roman "Vor dem Fest" "brillant". Für "Herkunft" erhielt Stanisic 2019 den Deutschen Buchpreis, die "Frankfurter Rundschau" pries damals die "Meisterschaft dieses Autors". Und all das trifft jetzt auch auf Stanisics neues Buch zu. Es besteht aus zwölf zusammenhängenden Geschichten und trägt einen der wohl längsten Titel der deutschen Literaturgeschichte: "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne". Doch was genau macht Stanisic zu so einem meisterhaften Autor? Wenn man das Witwen-Buch genau liest, findet man Antworten darauf.

Die erste Geschichte darin heißt "Neue Heimat" und spielt 1994 in Heidelberg. Genauer gesagt: im Stadtteil Emmertsgrund. Eine Hochhaussiedlung mit viel Beton und wenig Grün. Wenn man "Herkunft" gelesen hat, weiß man, dass Sasa Stanisic hier aufgewachsen ist, nachdem er vor dem Krieg aus Jugoslawien geflohen ist. Doch das ist nicht der einzige Moment im Buch, in dem sich Biographisches und Fiktionales vermischen.

Unterhalb der Hochhaussiedlung liegt ein Weinberg. Dort hängen in "Neue Heimat" vier Jugendliche ab. Sie heißen Fatih, Piero, Nico und - Sasa. Alle vier sind "Ausländer in Deutschland", wie es an einer Stelle heißt. Und alle vier werfen vor Langweile Steine in die Luft. Dabei kommt Fatih eine Idee. "Wie super wäre es, wenn es einen Proberaum für das Leben gäbe? Du gehst in den rein und probierst zehn Minuten aus der Zukunft? Falls dir dann gefällt, was du siehst, kannst du es direkt einloggen und dich gleich drauf freuen, weil diese zehn Minuten, die werden hundertpro irgendwann kommen."

Die anderen sind begeistert. Doch sie ahnen auch, dass sie im Proberaum bloß "eine Kackzukunft nach der anderen" sehen würden. "Auf solche wie uns warten doch statistisch eher beschissene Leben als unbeschissene, oder?" Trotzdem spielen die vier die Idee immer wieder durch und scheinen dabei für einen Moment zu vergessen, dass sie nicht die gleichen Privilegien genießen wie die Friedrichs, Maximilians und Emmas in den besseren Stadtteilen von Heidelberg.

Die Idee mit dem Proberaum ist auch das, was alle folgenden Geschichten zusammenhält. Stanisic erzählt von Figuren, die ein anderes, oft erfüllenderes und schöneres Leben aufblitzen sehen. Er gibt ihnen in der Fiktion das zurück, was ihnen in der echten Welt verwehrt bleibt. Und möglicherweise verrät diese Erzählhaltung schon viel über den Erfolg des Autors. Wenn man Stanisic liest, hat man oft das Gefühl, dass die Menschheit doch nicht so verkommen sei, wie sie sich oft verhält. Wenn alle sich anstrengten, etwas netter zu sein, wäre die Welt voll in Ordnung. Literatur gegen die "Beschissenheit" der Dinge.

Besonders stark ist Stanisic aber, wenn er diese Erzählhaltung aufgibt und über das echte, das hässliche Deutschland schreibt. An einer Stelle erzählt die Stanisic-Figur aus der ersten Geschichte, dass sie wegen ihrer dunkleren Haut an keinem Streifenwagen vorbeigehen kann, ohne dass "die Bullen" sie kontrollieren: "Ich mochte nicht, dass wir die Anwesenheit unserer Körper in diesem Land permanent erklären mussten. Ich mochte nicht, dass ich wegen einer Sprache, die ich unvollständig sprach, behandelt wurde, als sei ich unvollständig."

Einige der Geschichten im Buch sind fiktiv. So wie die der titelgebenden Witwe: einer verarmten Rentnerin aus Hamburg, deren Lebensinhalt darin besteht, das Grab ihres Mannes zu pflegen. Doch eines Tages beschließt sie, mit einem anderen Witwer auf dem Friedhof ein Gespräch anzufangen - und für einen Moment taucht ein Leben vor ihr auf, das nicht nur aus Trauer und Grabblumengießen besteht.

Andere Geschichten sind biographisch markiert. In "Der Hochsitz" kehrt die mittlerweile erwachsene Stanisic-Figur aus der ersten Geschichte nach Heidelberg zurück. Dabei erinnert sie sich, wie sie dort im Sommer 1994 zum Schriftsteller geworden ist - und zwar beim Lesen von Heinrich Heine: "Wie Heine hätte auch ich [die Gegenwart] oft am liebsten verlassen. Wäre lieber woanders gewesen. Woanders und vor allem wer anders. Wenn die Albträume der Abschiebung uns heimsuchten."

Wieder andere Geschichten sind ein Kommentar aufs Schreiben selbst. Etwa wenn eine weitere Stanisic-Figur im Buch das älteste Lokal Helgolands besucht, den "Inselkrug", und dabei erkennt, dass sie sich in einem Roman befindet und fortan die Entscheidungen des Autors kommentiert: "Einen besonderen Grund, den Krug aufzusuchen, gibt der Autor mir nicht. Was er mir gibt, ist keine Lust auf Treppensteigen." Das mag wie metafiktionales Imponiergehabe klingen. Und bei den meisten anderen Autoren würde sich so eine Geschichte vermutlich auch hochtrabend und prätentiös lesen. Dass dieser Effekt bei Stanisic aber nicht eintritt, liegt an der Sprache. Stanisics Prosa ist zwar verspielt, aber nie so verspielt, dass man einen Satz zweimal lesen muss, um ihn zu verstehen. Die Form folgt dem Inhalt. Und es liegt an Stanisics Figuren. Die meisten von ihnen leben in Provinzstädten wie Winsen an der Luhe und scheitern - so wie vermutlich 99,9 Prozent der Menschheit - an sich selbst und ihrer eigenen Mittelmäßigkeit. Doch Stanisic stellt dieses Scheitern nicht aus. Er beschreibt es mit liebevoller Ironie.

Etwa wenn Mo (ein Langzeitarbeitsloser, der bei seiner Mutter lebt) in Wehrmachtsuniform zu einer Doppelkopf-Runde erscheint und behauptet: Er sei mit einem Panzer vorgefahren. Mos Freunde könnten aus dem Fenster schauen und die Lüge enttarnen. Aber das tun sie nicht: "Du guckst nicht, ob draußen ein Panzer parkt, wenn dein bester Freund sich sogar nicht zu schade war, einen Hunni oder eventuell mehr auszugeben für eine Wehrmachtsuniform in einem höchstwahrscheinlich bedenklichen Internetshop, nur um die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte zu erhöhen."

Und vielleicht ist das der Grund für Stanisics literarische Meisterschaft: Seine Geschichten sind gleichzeitig komplex und zugänglich. Wenn man will, kann man das Witwen-Buch wie ein Literaturwissenschaftler lesen, findet darin zahlreiche Anspielungen, etwa auf Heine. Man kann die Proberaum-Idee als Verbeugung vor der Literatur und ihrer Fähigkeit, Möglichkeitswelten zu erschaffen, verstehen. Oder aber man schaltet beim Lesen den analytischen Modus ab und lässt sich von Stanisics Sprache und seinen Figuren durch die Geschichten treiben. Bis einem das Herz angenehm schwer wird, weil alle gerade so tun, als ob draußen vor dem Fenster ein Panzer parken würde.

Sasa Stanisic, "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne". Luchterhand Verlag, 256 Seiten, 24 Euro

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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension

Rezensent Lennardt Loß versucht in seiner Rezension zu erläutern, weshalb Saša Stanišić ein so herausragender Autor ist. Er setzt gleich bei der ersten Geschichte des Bandes an, in der vier Jungs mit Migrationshintergrund in Heidelberg abhängen und sich mögliche Zukünfte ausmalen. Hier entwerfen die Figuren jene besseren Zukünfte, um die sie qua Herkunft zumeist betrogen werden. Stanišić versteht es laut Loß uns an das Gute im Menschen glauben zu lassen, und dennoch die Härten, die das Leben in Deutschland gerade für Menschen wie die vier Jungs in Heidelberg bereithält, besonders scharfsinnig darzustellen. Im weiteren geht Loß auf einige der anderen hier versammelten Geschichten ein, unter anderem eine autobiografisch grundierte, in der ein Alter Ego des Autors nach Heidelberg - Stanišićs Heimatort - zurückkehrt und sich daran erinnert, wie die Begegnung mit Heinrich Heines Werk ihn zum Schriftsteller machte. Ein Geheimnis Stanišićs Erfolgs besteht darin, glaubt Loß, dass seine Bücher komplex, aber nicht überkompliziert geschrieben sind, weshalb Literaturwissenschaftlter, die etwa den Heine-Referenzen nachspüren, genauso viel Freude an ihnen haben dürften wie Leser, die einfach nur in die gefühlsecht ausgestalteten Geschichten einzutauchen wünschen.

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