"Vielleicht brauchen wir eine neue kritische Theorie. Oder eine neu-alte, denn wie sich herausstellt, gab es bereits einmal eine kraftvolle und originelle Denkströmung, die in einem früheren, gescheiterten Versuch, die Vorgeschichte – die Zeit vor dem Anthropozän – zu beenden, beinahe ausgelöscht worden wäre." Im Rückgriff auf die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere auf Alexander Bogdanov und Andrej Platonow, versucht McKenzie Wark in diesem radikalen Großessay die Grundlegung einer Theorie für das Anthropozän. Er fordert dabei einen alternativen – und keinen spekulativen – Realismus. Einen Realismus, der für plurale, sich mit anderen Geschichten befassende Narrative offen ist. Im Schatten der Kohlenstoffbefreiungsfront ruft er dazu auf, eine neue Poetik und Technik zur Wissensorganisation zu erschaffen, und wagt es, die Misere unserer Zeit neu zu denken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.201724. Von allein geht nichts
"Wir alle wissen, dass diese Zivilisation so nicht bestehen bleiben kann. Machen wir eine andere!" Der Slogan, mit dem der australische Kultur- und Medienwissenschaftler McKenzie Wark seine Theorie des Anthropozäns beschließt, klingt so aufmunternd, wie sie gemeint ist, und das ist keine Kleinigkeit. Denn sein Ausgangspunkt ist die Tatsache des Klimawandels mit all seinen Folgen, nicht nur für die durch Hurrikane, Trocken- und neue Regenperioden betroffenen Regionen, sondern für die Erde als Ganzes. Ein Thema also, das nicht unbedingt dazu geeignet ist, putzmunter in den Tag zu starten, weil die Diagnosen zu finster sind. Wark aber will genau dieser Depression mit seiner Theorie entgegenwirken, und deshalb startet er mit der schlichten Feststellung, dass die aktuelle Lage nicht das Ende der Welt ist, sondern nur das Ende einer alten Welt, er nennt sie "Vorgeschichte", und dass deshalb die neue Zeit einer neuen Theorie und neuer Wissensordnungen bedürfe.
Die Grundlagen dafür findet er in den Geowissenschaften und in dem vom Erdsystemforscher Paul Crutzen entwickelten Begriff vom Anthropozän. Danach stellt das Anthropozän eine neue Phase in der Erdgeschichte dar, in der die Kräfte der Natur und des Menschen so miteinander verflochten sind, dass sich ihr Schicksal gegenseitig bestimmt. Es ist nicht mehr länger der Mensch im Vordergrund, der sein Eigeninteresse vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen, organischen Kreislaufs verfolgt, den er zwar stören, mit dem er aber letztlich in Gleichgewicht und Harmonie leben könnte, indem er sich einfach aus bestimmten Exzessen zurückzöge. Die Denkfigur des Gleichgewichts, derzufolge die Ökologie sich selbst korrigieren und heilen werde, ist tot. Von allein repariert sich auf einer Erde, zu deren geologisch relevanten Bestandteilen mittlerweile auch das Plastik zählt, gar nichts mehr. Ohne Wissen und Arbeit wird es nicht gehen. Und für eine Neuorganisation von Wissen und Arbeit fordert Wark eine allgemeine Auseinandersetzung mit den Wissenschaften über deren Verfahren. Denn die Koordination verschiedener Arten von Arbeit und Wissen stellt eines der größten Probleme der neuen Zeit dar. Sie übersteigt die Probleme der Verarbeitung des individuellen Wissens. Mit Warks Buch kann man zumindest anfangen, über dieses Problem nachzudenken.
Cord Riechelmann
McKenzie Wark: "Molekulares Rot. Theorie für das Anthropozän". Deutsch von Dirk Höfer. Matthes & Seitz, 392 Seiten, 30 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wir alle wissen, dass diese Zivilisation so nicht bestehen bleiben kann. Machen wir eine andere!" Der Slogan, mit dem der australische Kultur- und Medienwissenschaftler McKenzie Wark seine Theorie des Anthropozäns beschließt, klingt so aufmunternd, wie sie gemeint ist, und das ist keine Kleinigkeit. Denn sein Ausgangspunkt ist die Tatsache des Klimawandels mit all seinen Folgen, nicht nur für die durch Hurrikane, Trocken- und neue Regenperioden betroffenen Regionen, sondern für die Erde als Ganzes. Ein Thema also, das nicht unbedingt dazu geeignet ist, putzmunter in den Tag zu starten, weil die Diagnosen zu finster sind. Wark aber will genau dieser Depression mit seiner Theorie entgegenwirken, und deshalb startet er mit der schlichten Feststellung, dass die aktuelle Lage nicht das Ende der Welt ist, sondern nur das Ende einer alten Welt, er nennt sie "Vorgeschichte", und dass deshalb die neue Zeit einer neuen Theorie und neuer Wissensordnungen bedürfe.
Die Grundlagen dafür findet er in den Geowissenschaften und in dem vom Erdsystemforscher Paul Crutzen entwickelten Begriff vom Anthropozän. Danach stellt das Anthropozän eine neue Phase in der Erdgeschichte dar, in der die Kräfte der Natur und des Menschen so miteinander verflochten sind, dass sich ihr Schicksal gegenseitig bestimmt. Es ist nicht mehr länger der Mensch im Vordergrund, der sein Eigeninteresse vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen, organischen Kreislaufs verfolgt, den er zwar stören, mit dem er aber letztlich in Gleichgewicht und Harmonie leben könnte, indem er sich einfach aus bestimmten Exzessen zurückzöge. Die Denkfigur des Gleichgewichts, derzufolge die Ökologie sich selbst korrigieren und heilen werde, ist tot. Von allein repariert sich auf einer Erde, zu deren geologisch relevanten Bestandteilen mittlerweile auch das Plastik zählt, gar nichts mehr. Ohne Wissen und Arbeit wird es nicht gehen. Und für eine Neuorganisation von Wissen und Arbeit fordert Wark eine allgemeine Auseinandersetzung mit den Wissenschaften über deren Verfahren. Denn die Koordination verschiedener Arten von Arbeit und Wissen stellt eines der größten Probleme der neuen Zeit dar. Sie übersteigt die Probleme der Verarbeitung des individuellen Wissens. Mit Warks Buch kann man zumindest anfangen, über dieses Problem nachzudenken.
Cord Riechelmann
McKenzie Wark: "Molekulares Rot. Theorie für das Anthropozän". Deutsch von Dirk Höfer. Matthes & Seitz, 392 Seiten, 30 Euro
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