This book develops a unified theory of moral progress. The author argues that there are mechanisms in place that consistently drive societies towards moral improvement and that a sophisticated, naturalistically respectable form of teleology can be defended.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungBloß keine Familienbanden
Hanno Sauer blickt weit zurück bei seiner Suche nach der Genese von Moralität
In "Zur Genealogie der Moral" beschrieb Friedrich Nietzsche 1887 den "Sklavenaufstand der Moral" als Urszene moderner sittlicher Maßstäbe. Demnach durften in vorchristlichen Zeiten die Starken, Vornehmen und Schönen ganz selbstverständlich auf Kosten der schlecht Weggekommenen und Schwachen leben, zechen und wüten. Irgendwann hatten letztere es satt und ersannen eine psychologische List: Sie schoben den Mächtigen ihr "Herdenmoral"-System unter, sodass diese sich selbst fortan aus der Perspektive der Schwachen als "böse" beurteilen mussten. Das war der Untergang der Starken.
Historisch, darüber ist man sich inzwischen einig, ist diese schmissige Erzählung von der Umwertung des archaisch-lebensbejahenden Stärkekults aus dem Geist des Ressentiments grober Unfug. Für den an der Universität Utrecht lehrenden Philosophen Hanno Sauer ändert dies jedoch nichts daran, dass Nietzsche von grundlegend richtigen Fragestellungen ausging: Wo liegt der Ursprung der Moral, wenn gottgegebene Gesetzestafeln und apriorische Begründungen ausscheiden? Was lehrt der Nachvollzug der Genese von Werten, Normen und ethischen Grundsätzen über die Gegenwart?
Zur Beantwortung dieser Fragen geht Sauer deutlich weiter zurück, als der Pastorensohn aus Röcken es für nötig hielt. Auf den ersten Seiten seines Buchs über "Die Erfindung von Gut und Böse" blickt er fünf Millionen Jahre in die Vergangenheit. In den folgenden Kapiteln werden jeweils die Zeiträume der letzten 500.000, 50.000, 5000, 500, 50 und fünf Jahre in den Blick genommen. Natürlich sollte diese chronologische Unterteilung nicht allzu wörtlich genommen werden. Dies gilt für die gesamte Darstellung, die sich lediglich als "plausibles Szenario" verstanden wissen will, "das ungefähr so abgelaufen sein könnte": Sauer zufolge entstand im Zuge von Selektion und Evolution eine Grundform der Kooperation, die das Zusammenleben in prähistorischen Kleingruppen strukturierte. Anschließend kamen kulturelle Faktoren ins Spiel: Es entstanden neue Formen des Miteinanders, die immer größere Gruppen umfassten.
Unverkennbar wird hier eine Fortschrittsgeschichte erzählt, allerdings ausdrücklich eine "pessimistische", die sich nicht über dunkle Seiten und Ambivalenzen von Wandlungsprozessen hinwegtäuscht. So kommt eine "moderne Genealogie der Moral" nicht umhin, sich mit Überwachen und Strafen zu befassen, es geht um soziale Ungleichheit, Ausbeutung und Menschheitsverbrechen. Der Befund von Horkheimer/Adorno, dass selbst eine "vollends aufgeklärte Erde" jederzeit am Rande der moralischen Implosion stehe, wird nicht in Zweifel gezogen.
Verhandelt wird all dies im geschmeidig souveränen Ton des Universalhistorikers, den man so ähnlich von bestsellerbewährten Glamourintellektuellen wie Steven Pinker oder Yuval Noah Harari kennt. Eloquent und smart verbindet Sauer Perspektiven aus Evolutionspsychologie, Biologie, Anthropologie, Spieltheorie, Kultur- und Philosophiegeschichte mit erzählerischen Passagen und einer Prise TED-Talk-Hemdsärmeligkeit.
Inmitten der zahlreichen Schriften und Artikel, auf die er sich stützt, nimmt die Mammutstudie "Die seltsamsten Menschen der Welt" eine Sonderrolle ein. Unter diesem Titel ist der kanadische Anthropologe Joseph Henrich vor wenigen Jahren der Frage nachgegangen, weshalb die westliche Zivilisation so ist, wie sie ist. Demnach zeichnet sich die westliche Seinsweise durch eine eigentümlich ausgeprägte Vorliebe für Freiheit, Gerechtigkeit, analytisches Denken und freie Marktwirtschaft aus. Henrichs Begründung fällt durchaus überraschend aus: Das "Familien- und Eheprogramm der katholischen Kirche" war verantwortlich dafür, dass die Europäer etwas sonderbar wurden. Gemeint sind hier nicht Kondom- und Abtreibungsverbot. Henrich bezieht sich auf das mittelalterliche Christentum, das Polygamie ebenso wie die Heirat unter Blutsverwandten untersagte, was zur Erosion der Clan- und Familienstrukturen in Westeuropa führte - und damit zu einer Politik und einem Denkstil, der sich immer weniger an genetischen Loyalitäten orientierte. Das Resultat waren Wohlstand, Individualismus und "impersonale Prosozialität", also die Aufgeschlossenheit gegenüber Fremden. Für Sauer, der Henrichs umstrittenen Befund ein Kapitel lang referiert und sich ihm uneingeschränkt anschließt, ist dies ein schwer zu überschätzender Transformationsschritt im Rahmen der moralischen Entwicklung.
Den naheliegenden Vorwurf der westlichen Selbstbeweihräucherung lässt Sauer nicht gelten. Diese Art von Kritik sei selbst eine westliche Besonderheit. Und der Einwand, dass der Reichtum westlicher Staaten im Kern auf Ausbeutung und koloniale Unterdrückung zurückzuführen sei? Auch dies entspricht Sauer zufolge nicht den Tatsachen. Kolonialismus sei nicht nur moralisch katastrophal gewesen, sondern auch ökonomisch. Es ist nicht die einzige Passage, an der man sich wünscht, der Autor hätte sich ein wenig mehr Raum genommen, um seine doch recht herausfordernde Position zu erläutern.
Vor dem Hintergrund der langen Entwicklungsgeschichte des Menschen als moralischen Wesens wendet sich Sauer schließlich den diskursiven und gesellschaftspolitischen Grabenkämpfen der Gegenwart zu. In den Schlusskapiteln geht es um die gefühlt allgegenwärtigen Reizthemen "Wokeness" und "Identitätspolitik". Wer hier plattes Bashing erwartet, wird enttäuscht werden. Zwar gibt Sauer nicht allzu viel auf Pronomen in der Twitterbio. Grundsätzlich jedoch hält er emanzipatorischen Aktivismus nicht nur für legitim, sondern für notwendig. Zumindest solange der Idealzustand völliger Freiheit und Gerechtigkeit nicht erreicht ist, was - das haben Idealzustände so an sich - niemals der Fall sein dürfte. Vorbehaltlos zustimmen mag man ihm dennoch nicht, wenn er die gesellschaftlichen Polarisierungen und Frontverhärtungen zum rein affektiven Problem erklärt, das sich hauptsächlich aus der jahrmillionenalten Gruppenorientierung der Menschen speisen würde: "Wir sind gar nicht unterschiedlicher Meinung - wir hassen einander nur." Gerade dort, wo Sauer demonstrativ versöhnlich wird, neigt er zur Provokation. Nietzsches Genealogie trägt den Untertitel "Eine Streitschrift". Sauer zeigt sich dieser Tradition in anregender Weise verpflichtet. MARIANNA LIEDER
Hanno Sauer: "Moral". Die Erfindung von Gut und Böse.
Piper Verlag, München 2023. 400 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hanno Sauer blickt weit zurück bei seiner Suche nach der Genese von Moralität
In "Zur Genealogie der Moral" beschrieb Friedrich Nietzsche 1887 den "Sklavenaufstand der Moral" als Urszene moderner sittlicher Maßstäbe. Demnach durften in vorchristlichen Zeiten die Starken, Vornehmen und Schönen ganz selbstverständlich auf Kosten der schlecht Weggekommenen und Schwachen leben, zechen und wüten. Irgendwann hatten letztere es satt und ersannen eine psychologische List: Sie schoben den Mächtigen ihr "Herdenmoral"-System unter, sodass diese sich selbst fortan aus der Perspektive der Schwachen als "böse" beurteilen mussten. Das war der Untergang der Starken.
Historisch, darüber ist man sich inzwischen einig, ist diese schmissige Erzählung von der Umwertung des archaisch-lebensbejahenden Stärkekults aus dem Geist des Ressentiments grober Unfug. Für den an der Universität Utrecht lehrenden Philosophen Hanno Sauer ändert dies jedoch nichts daran, dass Nietzsche von grundlegend richtigen Fragestellungen ausging: Wo liegt der Ursprung der Moral, wenn gottgegebene Gesetzestafeln und apriorische Begründungen ausscheiden? Was lehrt der Nachvollzug der Genese von Werten, Normen und ethischen Grundsätzen über die Gegenwart?
Zur Beantwortung dieser Fragen geht Sauer deutlich weiter zurück, als der Pastorensohn aus Röcken es für nötig hielt. Auf den ersten Seiten seines Buchs über "Die Erfindung von Gut und Böse" blickt er fünf Millionen Jahre in die Vergangenheit. In den folgenden Kapiteln werden jeweils die Zeiträume der letzten 500.000, 50.000, 5000, 500, 50 und fünf Jahre in den Blick genommen. Natürlich sollte diese chronologische Unterteilung nicht allzu wörtlich genommen werden. Dies gilt für die gesamte Darstellung, die sich lediglich als "plausibles Szenario" verstanden wissen will, "das ungefähr so abgelaufen sein könnte": Sauer zufolge entstand im Zuge von Selektion und Evolution eine Grundform der Kooperation, die das Zusammenleben in prähistorischen Kleingruppen strukturierte. Anschließend kamen kulturelle Faktoren ins Spiel: Es entstanden neue Formen des Miteinanders, die immer größere Gruppen umfassten.
Unverkennbar wird hier eine Fortschrittsgeschichte erzählt, allerdings ausdrücklich eine "pessimistische", die sich nicht über dunkle Seiten und Ambivalenzen von Wandlungsprozessen hinwegtäuscht. So kommt eine "moderne Genealogie der Moral" nicht umhin, sich mit Überwachen und Strafen zu befassen, es geht um soziale Ungleichheit, Ausbeutung und Menschheitsverbrechen. Der Befund von Horkheimer/Adorno, dass selbst eine "vollends aufgeklärte Erde" jederzeit am Rande der moralischen Implosion stehe, wird nicht in Zweifel gezogen.
Verhandelt wird all dies im geschmeidig souveränen Ton des Universalhistorikers, den man so ähnlich von bestsellerbewährten Glamourintellektuellen wie Steven Pinker oder Yuval Noah Harari kennt. Eloquent und smart verbindet Sauer Perspektiven aus Evolutionspsychologie, Biologie, Anthropologie, Spieltheorie, Kultur- und Philosophiegeschichte mit erzählerischen Passagen und einer Prise TED-Talk-Hemdsärmeligkeit.
Inmitten der zahlreichen Schriften und Artikel, auf die er sich stützt, nimmt die Mammutstudie "Die seltsamsten Menschen der Welt" eine Sonderrolle ein. Unter diesem Titel ist der kanadische Anthropologe Joseph Henrich vor wenigen Jahren der Frage nachgegangen, weshalb die westliche Zivilisation so ist, wie sie ist. Demnach zeichnet sich die westliche Seinsweise durch eine eigentümlich ausgeprägte Vorliebe für Freiheit, Gerechtigkeit, analytisches Denken und freie Marktwirtschaft aus. Henrichs Begründung fällt durchaus überraschend aus: Das "Familien- und Eheprogramm der katholischen Kirche" war verantwortlich dafür, dass die Europäer etwas sonderbar wurden. Gemeint sind hier nicht Kondom- und Abtreibungsverbot. Henrich bezieht sich auf das mittelalterliche Christentum, das Polygamie ebenso wie die Heirat unter Blutsverwandten untersagte, was zur Erosion der Clan- und Familienstrukturen in Westeuropa führte - und damit zu einer Politik und einem Denkstil, der sich immer weniger an genetischen Loyalitäten orientierte. Das Resultat waren Wohlstand, Individualismus und "impersonale Prosozialität", also die Aufgeschlossenheit gegenüber Fremden. Für Sauer, der Henrichs umstrittenen Befund ein Kapitel lang referiert und sich ihm uneingeschränkt anschließt, ist dies ein schwer zu überschätzender Transformationsschritt im Rahmen der moralischen Entwicklung.
Den naheliegenden Vorwurf der westlichen Selbstbeweihräucherung lässt Sauer nicht gelten. Diese Art von Kritik sei selbst eine westliche Besonderheit. Und der Einwand, dass der Reichtum westlicher Staaten im Kern auf Ausbeutung und koloniale Unterdrückung zurückzuführen sei? Auch dies entspricht Sauer zufolge nicht den Tatsachen. Kolonialismus sei nicht nur moralisch katastrophal gewesen, sondern auch ökonomisch. Es ist nicht die einzige Passage, an der man sich wünscht, der Autor hätte sich ein wenig mehr Raum genommen, um seine doch recht herausfordernde Position zu erläutern.
Vor dem Hintergrund der langen Entwicklungsgeschichte des Menschen als moralischen Wesens wendet sich Sauer schließlich den diskursiven und gesellschaftspolitischen Grabenkämpfen der Gegenwart zu. In den Schlusskapiteln geht es um die gefühlt allgegenwärtigen Reizthemen "Wokeness" und "Identitätspolitik". Wer hier plattes Bashing erwartet, wird enttäuscht werden. Zwar gibt Sauer nicht allzu viel auf Pronomen in der Twitterbio. Grundsätzlich jedoch hält er emanzipatorischen Aktivismus nicht nur für legitim, sondern für notwendig. Zumindest solange der Idealzustand völliger Freiheit und Gerechtigkeit nicht erreicht ist, was - das haben Idealzustände so an sich - niemals der Fall sein dürfte. Vorbehaltlos zustimmen mag man ihm dennoch nicht, wenn er die gesellschaftlichen Polarisierungen und Frontverhärtungen zum rein affektiven Problem erklärt, das sich hauptsächlich aus der jahrmillionenalten Gruppenorientierung der Menschen speisen würde: "Wir sind gar nicht unterschiedlicher Meinung - wir hassen einander nur." Gerade dort, wo Sauer demonstrativ versöhnlich wird, neigt er zur Provokation. Nietzsches Genealogie trägt den Untertitel "Eine Streitschrift". Sauer zeigt sich dieser Tradition in anregender Weise verpflichtet. MARIANNA LIEDER
Hanno Sauer: "Moral". Die Erfindung von Gut und Böse.
Piper Verlag, München 2023. 400 S., geb., 26,- Euro.
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