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Die meisten Menschen sind ohne weiteres dazu bereit, andere Menschen zu töten, wenn es ihnen befohlen wird. Das ist die Lehre aus Stanley Milgrams berühmten Experimenten, die ein halbes Jahrhundert nach ihrer Durchführung zum Gegenstand einer wichtigen philosophischen Debatte geworden sind. Im Zentrum steht dabei der Begriff der moralischen Integrität, demzufolge das Verhalten einer Person wesentlich von Faktoren wie Charakter, moralischen Grundsätzen und persönlichen Werten festgelegt wird. Aber wie realistisch ist diese Vorstellung, wenn sich Menschen im entscheidenden Moment offenbar…mehr

Produktbeschreibung
Die meisten Menschen sind ohne weiteres dazu bereit, andere Menschen zu töten, wenn es ihnen befohlen wird. Das ist die Lehre aus Stanley Milgrams berühmten Experimenten, die ein halbes Jahrhundert nach ihrer Durchführung zum Gegenstand einer wichtigen philosophischen Debatte geworden sind. Im Zentrum steht dabei der Begriff der moralischen Integrität, demzufolge das Verhalten einer Person wesentlich von Faktoren wie Charakter, moralischen Grundsätzen und persönlichen Werten festgelegt wird. Aber wie realistisch ist diese Vorstellung, wenn sich Menschen im entscheidenden Moment offenbar weitgehend von der Situation bestimmen lassen? Hans Bernhard Schmid verteidigt am Beispiel Milgramscher Versuchspersonen die These, daß es jenseits der traditionellen Alternative von Innen- und Außensteuerung die komplexen intersubjektiven Beziehungen sind, die in den jeweiligen Situationen menschliches Handeln bestimmen.

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Autorenporträt
Hans Bernhard Schmid ist SNF-Förderungsprofessor für Philosophie an der Universität Basel.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2011

Das irre Lachen der Versuchspersonen ging leider nicht in die Testauswertung ein
Eine wissenschaftliche Methodik, die alle Erwartungen erfüllte: Hans Bernhard Schmid entzaubert in strenger Dramaturgie die berühmten Lernexperimente Stanley Milgrams

Der Sozialpsychologe Stanley Milgram führte in den Jahren 1961 und 1962 seine schnell berühmt gewordenen "Lernexperimente" an der Yale University durch. Nach der populären Lesart wurde in ihnen der Normalmensch als potentieller Mörder entlarvt. Unter dem Druck der Versuchsanordnung seien fast zwei Drittel, nämlich 62 Prozent, der Probanden bereit gewesen, ein vorgetäuscht lernresistentes "Opfer" mit Stromstößen bis hin zum Exitus zu malträtieren.

Der Wiener Sozialphilosoph Hans Bernhard Schmid rollt die Geschichte dieses berüchtigten Experiments auf überzeugende Weise neu und gegen den Strich auf: Am Ende sitzt bei ihm die wissenschaftliche Methodik auf der moralischen Arme-Sünder-Bank, die Täter jedoch sind, wo nicht exkulpiert, so doch zumindest teilweise rehabilitiert.

Am Anfang des Buches steht die Kritik an bisherigen Interpretationen. Viele Interpreten sogen bisher aus Milgrams Experiment ihren Honig, der hohe Turm aus Büchern verdeckt fast schon die Sicht auf das Geschehen: Die "Theorie des autoritären Charakters" etwa legt mit ihm empirische Fundamente; die Anhänger einer "sadomasochistischen Prägung", wie sie regelhaft aus übermäßiger Anpassung folge, heben mahnend den Zeigefinger; Hannah Arendts Diktum von der "Banalität des Bösen" geistert im Hintergrund als Wiedergänger herum; die These von der "normativen Kraft der Verhältnisse" wird ins Feld geführt - und vieles mehr.

Schmid nähert sich fast schon detektivisch dem Geschehen - und gibt den Ereignissen auch eine veritable Heldin: Elinor Rosenblum, die ihm in ihrer Durchschnittlichkeit als "Paradigma" unter Milgrams Testpersonen gilt. Was wiederum dem Buch eine fast schon literarische Qualität verleiht. Überhaupt sind die luzide Sprache, die strenge Dramaturgie und der anschauliche Stil Vorzüge dieses Buches.

Woran aber ist Elinor - und mit ihr viele andere Versuchspersonen - letztlich gescheitert? Nicht an fehlender Moral, sondern gewissermaßen an einer paradoxen Kommunikation. Sowohl der Schauspieler, der das Opfer mimte, als auch der Versuchsleiter, der nur in vorgefertigten Stanzen sprach, führten mit den bedauernswerten "Sonden" der Versuchsreihe nie einen echten Diskurs. Sobald diese über die Moralität ihres Vorgehens mit dem Versuchsleiter zu streiten begannen, stießen sie auf eine Wand aus automatisierten Anweisungen, während das Opfer, das eben noch zu sterben vorgab, ihnen im nächsten Moment schon wieder brav und unbeeindruckt auf alle Fragen des Experiments antwortete. Wie in einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann war jeder dieser vorgeblichen "Normalbürger als Täter" ringsum von Automaten umgeben, die ausnahmslos vorgegebenen Text sprachen und deshalb als Adressaten von Argumenten und Einwürfen nicht taugten.

Im Fortschreiten des Textes richtet sich das Interesse des Autors zunehmend auf den Veranstalter des Experiments, auf Stanley Milgram, der gut behavioristisch Laborratten durch Menschen ersetzte, und zwar in einer durch und durch künstlichen Situation: "Den Testpersonen wird nicht nur ein Lernexperiment und eine Lehrsituation, sondern auch eine dritte Gemeinschaftshandlung, nämlich ein Gespräch, vorgetäuscht." Es sind nicht die Versuchspersonen, denen es an moralischer Integrität gebricht, das Experiment selbst ist nicht integer.

Es ist kein Wunder, dass einige Versuchspersonen, angesichts der monotonen Anweisungen des Versuchsleiters, in irres Lachen ausbrachen, während sie den Schalter erneut drehten. Die Konventionen menschlichen Verhaltens wurden durch den Versuch und vor allem durch seine Kommunikationsregime verletzt, die Situation erschien ihnen schlicht verrückt. Überspitzt formuliert: Nicht ahnungslose Individuen, sondern bestimmte Wissenschaftsstandards haben sich in Milgrams Experiment kompromittiert.

Es gibt keine atomistische Moral, das zeigt Schmid sehr überzeugend. Moral und Integrität sind stets eingebunden in menschliche Gemeinschaftspraktiken, vor allem in kommunikatives Handeln. Und in der Trias Versuchsleiter-Versuchsperson-Opfer lässt sich kein Schuldiger sicher verorten, so lautet Schmids Resümee: "In den Begriff persönlicher Integrität gehen starke atomistische Annahmen ein. Da reale Akteure nicht umhinkönnen, sich kognitiv und praktisch in holistischen Strukturen zu bewegen, sind sie sozusagen grundsätzlich kompromittierbar. Was das Milgram-Experiment uns zeigt, ist weniger der moralische Bankrott des alltäglichen Normalmenschentums, sondern primär die Grenze des Versuchs, so etwas wie die Substanz der Moral in der Innerlichkeit der einzelnen Individuen zu verorten und begrifflich von den Gemeinschaftspraktiken zu lösen, in denen sich menschliches Handeln nun einmal bewegt."

KLAUS JARCHOW

Hans Bernhard Schmid: "Moralische Integrität". Kritik eines Konstrukts.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 307 S., br., 13,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Wiener Sozialphilosoph Hans Bernhard Schmid unternimmt hier eine geduldige Relektüre eines klassischen Experiments: Stanley Milgram hatte in den Fünfzigern amerikanische Versuchspersonen dazu gebracht, auf Anweisung ihrer Testleiter anderen Personen (vermeintlich) schwerste Stromstöße zu versetzen. Die gängige Lesart des Experiments nimmt es als experimentelle Bestätigung des autoritären Charakters, sozusagen der Eichmann-Haftigkeit fast aller Menschen. Schmid sieht das anders. An der Künstlichkeit der Situation, meint er, wurden die Versuchspersonen irre. Die Verweigerung des Gesprächs hat sie in eine "paradoxe" Lage versetzt. Sie versuchten, sich in einer "Gemeinschaftspraxis" zu bewähren - eine moralische Deutung, die von dieser absichtsvoll herbeigeführten Zwangslage absehe, sei daher problematisch bis falsch. Der Rezensent Klaus Jarchow zeigt sich von dem Band und seinen "luziden" Argumentationen sehr beeindruckt.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Schmid nähert sich fast schon detektivisch dem Geschehen. Überhaupt sind die luzide Sprache, die strenge Dramaturgie und der anschauliche Stil Vorzüge dieses Buches.« Klaus Jarchow Frankfurter Allgemeine Zeitung 20110702