Pointe-Noire, Ende der Siebzigerjahre. Der Kongo hat längst seine Unabhängigkeit erlangt, und der zehnjährige Michel strebt danach, es seinem Heimatland gleichzutun. Aber während die Radionachrichten vom Sturz des persischen Schahs berichten und von der Vertreibung der Roten Khmer, muss Michel sich um seine eigenen Krisenherde kümmern. Seine zwölfjährige Freundin Caroline verlangt mehr Aufmerksamkeit und droht, ihn für einen Angeber aus der Fußballmannschaft zu verlassen. Sein Onkel René, selbst ernannter kapitalistischer Kommunist, kommt zwar für Michels Schulbildung auf, schielt aber unverhohlen auf das Erbe der verstorbenen Großmutter. Und zu allem Überfluss hat ein Schamane Michels Mutter eingeredet, dass sie keine weiteren Kinder bekommen könne, weil ihr Sohn den Schlüssel zu ihrem Bauch versteckt habe … In seinem Roman "Morgen werde ich zwanzig" zeichnet Alain Mabanckou anhand einer fantasievollen, hochkomischen Familiengeschichte das Porträt eines Kontinents, der sich zwischen kolonialer Vergangenheit und einstigen Freiheitsträumen neu erfinden musste.
buecher-magazin.deAlain Mabanckou kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück: Point Noire in der (noch sozialistischen) Republik Kongo. Hier wächst der 10jährige Michel mit seiner Mutter Pauline auf und ihm verleiht der Autor seine Erzählstimme. Michels Stiefvater lebt nur tageweise bei seiner Zweitfamilie - herrliche Momente für den Jungen, der seinen Papa Roger gern öfter daheim sähe. Stattdessen trifft man dort häufiger Onkel René, der sich selbst als kapitalistischen Kommunisten bezeichnet und dem Jungen zwar Klassenkampf und Proletariat erklärt, vor allem aber am eigenen Besitz interessiert ist. Als Papa Roger eines Tages ein Radio mitbringt, zieht heimlich die große weite Welt in Michels Zuhause ein. Die 1970er neigen sich ihrem Ende zu: der persische Schah wird gestürzt, die roten Khmer vertrieben und Diktator Idi Amin gelingt die Flucht nach Saudi Arabien. Und so blickt der Leser mit Michels kindlichen Augen auf das Weltgeschehen, seine Freundin Caroline und natürlich seinen Familienalltag, denn der Junge erzählt einfach, was er sieht und oft nicht deuten kann. Auch in der Familie mangelt es nicht an dramatischen Geschehnissen, denn ein Schamane diagnostiziert die jahrelange Unfruchtbarkeit von Michels Mutter als Werk des eigenen Sohnes.
© BÜCHERmagazin, Jana Kühn (jk)
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"In unserem literarischen Gedächtnis wird sich die Figur des kleinen Michel zu Salingers Holden Caulfield gesellen." -- J.M.G. Le Clézio
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015Der Baum des fernen Sängers
Alain Mabanckou erzählt in seinem Roman „Morgen werde ich zwanzig“ vom Kongo seiner Kindheit
Von Grimmelshausens abenteuerlichem Simplicissimus und vom jungen Gargantua bei Rabelais kennen wir jenes kindliche Weltvertrauen, das zwischen allem und jedem Zusammenhänge sieht und diese im selbstverständlichen Hinnehmen gerade untergräbt. In deren Nachfolge steht der zehnjährige Michel in diesem Buch. Dass der mächtige Präsident seines Landes, der Republik Kongo, noch mehr Chef ist als alle anderen Chefs, weil er zugleich auch das Amt der Premierministers, des Verteidigungsministers und des Vorsitzenden der Kongolesischen Arbeiterpartei bekleidet, kommt dem Jungen ganz logisch vor. Denn ein Premierminister könnte ein Rivale werden, ein Verteidigungsminister sogar einen Putsch anzetteln, und Parteivorsitzender muss der Präsident allein deshalb schon sein, weil in seinem Land der Staatspräsident von der Partei, nicht vom Volk gewählt wird. Das Volk könnte sich ja irren. Das klingt nach Satire, doch ist das Buch mehr als dies.
Der 1966 in der Republik Kongo geborene Autor zeichnet in diesem autobiografisch geprägten Kinderschelmenroman das zugleich liebevolle und spöttische Bild eines afrikanischen Landes in den späten Siebzigerjahren, wo jeder des anderen Schelm ist. Die Kinder tricksen die Eltern aus, die Frauen die Männer, die Erdnusshändlerinnen auf dem Grand Marché die Bürokraten, unter dem wachsamen Blick Lenins auf dem Wandfoto im Büro von Michels Onkel René, dem Personal- und Finanzdirektor des einzigen Unternehmens in der Küstenstadt Pointe-Noire.
Es sind die Jahre nach der Unabhängigkeit, die erzählt werden, noch vor dem Chaos, das in manchen Ländern Afrikas später die „Kindersoldaten“ auf den Plan treten ließ, jene traurigen Gestalten, die Mabanckous verstorbener Kollege Ahmadou Kourouma in „Allah muss nicht gerecht sein“ eindrücklich geschildert hat. Hier läuft dank etwas List, etwas Betrug und etwas Witz die Welt noch rund. Jeder kommt mit der Mehrdeutigkeit der Dinge halbwegs zurecht. Der kleine Michel ist nicht wirklich der Sohn seines Vaters Papa Roger und neben Mama Pauline hat er noch eine andere Mutter, Mama Martine, Papa Rogers Zweit-, vielmehr: Erstfrau. Und Onkel René, der mächtige Finanzdirektor, der für Michels Schulbildung aufkommt und zugleich auf das Familienerbe schielt, sieht in seiner Existenz als kapitalistischer Kommunist keinen Widerspruch.
Mabanckous im Dauerpräsens erzählter Roman kommt ohne Chronologie aus – auch dies ist eine Anlehnung an frühbarocke Erzählformen, wo die Episoden mehr durcheinanderpurzeln als streng aufeinanderfolgen. Die Ereignisse draußen in der Welt nimmt sein junger Held über die Nachrichten des Senders The Voice of America wahr, die sein Vater abends hört, und bekommt dabei eine Vorstellung von der Ungerechtigkeit. Er bangt mit dem Schah von Persien, der nach seinem Sturz in keinem Land der Erde dauerhaft unterkommt, während der blutrünstige ugandische Diktator Idi Amin Dada nach seiner Entmachtung in Saudi-Arabien ein bequemes Rentnerleben genießt.
Unter den Habseligkeiten seines Vaters stößt der kleine Michel aber auch auf ein Buch mit dem weißen Engelsgesicht eines jungen Mannes auf dem Einband, der ebenfalls einmal in Afrika lebte, und beim Lesen der Gedichte aus „Eine Zeit in der Hölle“ wird dieser Arthur Rimbaud dem Jungen ein Freund. Ähnlich ergeht es ihm mit dem Lied eines schnauzbärtigen Sängers, das sein Vater auf dem neuen Kassettenrekorder abspielt. Es handelt von einem Mann, der seltsamerweise um einen Baum trauert, wo doch überall so viele davon herumstehen, und doch wird dieses Chanson „Auprès de mon arbre“ von Georges Brassens ihm zum Lieblingslied.
Das alles macht aus dem Buch eine Art in sich kreisender Entwicklungsroman, der von reizvollen Episoden, Situationen und Figurenporträts nur so strotzt, dabei allerdings nicht recht von der Stelle kommt. Das Buch könnte halb so lang oder doppelt so lang sein, es wäre dasselbe. Das Erzähler-Ich treibt durch das Allerlei eines bald rührenden, bald abstrusen afrikanischen Alltags und kennt weder Erfüllung noch Drama.
So muss man über die vielen ins Geschehen nicht eingebundene Nebenereignisse hinweg lesen und sich einfach an dem zwischen Geisterglauben und Skepsis unschlüssigen Weltvertrauen des Knaben freuen, wenn er im improvisierten Zelt aus Mangobaumästen und zum Trocknen aufgehängten Schürzen der Mutter mit der ungeduldigen Freundin Caroline Erwachsener spielt. „Michel“, drängt diese, „ich habe es satt zu warten, bis wir groß sind, lass uns heute heiraten.“ Zwanzig ist man in jedem Alter – das erzählt dieser Roman in einer Art ruckartig verworrenem Krebsgang. An den Krebsen gefalle ihm, dass sie stets ans Ziel gelangten, obwohl ihre Beine untereinander nie einig seien, gesteht der Erzähler am Schluss des Romans.
Dass man erheitert und gut unterhalten dort ankommt, ist nicht zuletzt den Übersetzern zu verdanken. Sie treffen zwischen Auflehnung, Trotz und unverwüstlichem Menschenvertrauen den Ton eines kongolesischen Jungen, der Kind, Weiser und Spötter in einem ist.
JOSEPH HANIMANN
Alain Mabanckou: Morgen werde ich zwanzig. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München, 2015. 364 Seiten, 22 Euro.
In diesen Schelmen-Jahren läuft
dank etwas List, etwas Betrug
und etwas Witz die Welt noch rund
Alain Mabanckou , geboren 1966, hat Jura in Brazzaville und Paris studiert und war Berater eines französischen Konzerns. Heute lebt er in Paris und Los Angeles und lehrt Romanistik an der University of California. Foto: AFP Photo
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Alain Mabanckou erzählt in seinem Roman „Morgen werde ich zwanzig“ vom Kongo seiner Kindheit
Von Grimmelshausens abenteuerlichem Simplicissimus und vom jungen Gargantua bei Rabelais kennen wir jenes kindliche Weltvertrauen, das zwischen allem und jedem Zusammenhänge sieht und diese im selbstverständlichen Hinnehmen gerade untergräbt. In deren Nachfolge steht der zehnjährige Michel in diesem Buch. Dass der mächtige Präsident seines Landes, der Republik Kongo, noch mehr Chef ist als alle anderen Chefs, weil er zugleich auch das Amt der Premierministers, des Verteidigungsministers und des Vorsitzenden der Kongolesischen Arbeiterpartei bekleidet, kommt dem Jungen ganz logisch vor. Denn ein Premierminister könnte ein Rivale werden, ein Verteidigungsminister sogar einen Putsch anzetteln, und Parteivorsitzender muss der Präsident allein deshalb schon sein, weil in seinem Land der Staatspräsident von der Partei, nicht vom Volk gewählt wird. Das Volk könnte sich ja irren. Das klingt nach Satire, doch ist das Buch mehr als dies.
Der 1966 in der Republik Kongo geborene Autor zeichnet in diesem autobiografisch geprägten Kinderschelmenroman das zugleich liebevolle und spöttische Bild eines afrikanischen Landes in den späten Siebzigerjahren, wo jeder des anderen Schelm ist. Die Kinder tricksen die Eltern aus, die Frauen die Männer, die Erdnusshändlerinnen auf dem Grand Marché die Bürokraten, unter dem wachsamen Blick Lenins auf dem Wandfoto im Büro von Michels Onkel René, dem Personal- und Finanzdirektor des einzigen Unternehmens in der Küstenstadt Pointe-Noire.
Es sind die Jahre nach der Unabhängigkeit, die erzählt werden, noch vor dem Chaos, das in manchen Ländern Afrikas später die „Kindersoldaten“ auf den Plan treten ließ, jene traurigen Gestalten, die Mabanckous verstorbener Kollege Ahmadou Kourouma in „Allah muss nicht gerecht sein“ eindrücklich geschildert hat. Hier läuft dank etwas List, etwas Betrug und etwas Witz die Welt noch rund. Jeder kommt mit der Mehrdeutigkeit der Dinge halbwegs zurecht. Der kleine Michel ist nicht wirklich der Sohn seines Vaters Papa Roger und neben Mama Pauline hat er noch eine andere Mutter, Mama Martine, Papa Rogers Zweit-, vielmehr: Erstfrau. Und Onkel René, der mächtige Finanzdirektor, der für Michels Schulbildung aufkommt und zugleich auf das Familienerbe schielt, sieht in seiner Existenz als kapitalistischer Kommunist keinen Widerspruch.
Mabanckous im Dauerpräsens erzählter Roman kommt ohne Chronologie aus – auch dies ist eine Anlehnung an frühbarocke Erzählformen, wo die Episoden mehr durcheinanderpurzeln als streng aufeinanderfolgen. Die Ereignisse draußen in der Welt nimmt sein junger Held über die Nachrichten des Senders The Voice of America wahr, die sein Vater abends hört, und bekommt dabei eine Vorstellung von der Ungerechtigkeit. Er bangt mit dem Schah von Persien, der nach seinem Sturz in keinem Land der Erde dauerhaft unterkommt, während der blutrünstige ugandische Diktator Idi Amin Dada nach seiner Entmachtung in Saudi-Arabien ein bequemes Rentnerleben genießt.
Unter den Habseligkeiten seines Vaters stößt der kleine Michel aber auch auf ein Buch mit dem weißen Engelsgesicht eines jungen Mannes auf dem Einband, der ebenfalls einmal in Afrika lebte, und beim Lesen der Gedichte aus „Eine Zeit in der Hölle“ wird dieser Arthur Rimbaud dem Jungen ein Freund. Ähnlich ergeht es ihm mit dem Lied eines schnauzbärtigen Sängers, das sein Vater auf dem neuen Kassettenrekorder abspielt. Es handelt von einem Mann, der seltsamerweise um einen Baum trauert, wo doch überall so viele davon herumstehen, und doch wird dieses Chanson „Auprès de mon arbre“ von Georges Brassens ihm zum Lieblingslied.
Das alles macht aus dem Buch eine Art in sich kreisender Entwicklungsroman, der von reizvollen Episoden, Situationen und Figurenporträts nur so strotzt, dabei allerdings nicht recht von der Stelle kommt. Das Buch könnte halb so lang oder doppelt so lang sein, es wäre dasselbe. Das Erzähler-Ich treibt durch das Allerlei eines bald rührenden, bald abstrusen afrikanischen Alltags und kennt weder Erfüllung noch Drama.
So muss man über die vielen ins Geschehen nicht eingebundene Nebenereignisse hinweg lesen und sich einfach an dem zwischen Geisterglauben und Skepsis unschlüssigen Weltvertrauen des Knaben freuen, wenn er im improvisierten Zelt aus Mangobaumästen und zum Trocknen aufgehängten Schürzen der Mutter mit der ungeduldigen Freundin Caroline Erwachsener spielt. „Michel“, drängt diese, „ich habe es satt zu warten, bis wir groß sind, lass uns heute heiraten.“ Zwanzig ist man in jedem Alter – das erzählt dieser Roman in einer Art ruckartig verworrenem Krebsgang. An den Krebsen gefalle ihm, dass sie stets ans Ziel gelangten, obwohl ihre Beine untereinander nie einig seien, gesteht der Erzähler am Schluss des Romans.
Dass man erheitert und gut unterhalten dort ankommt, ist nicht zuletzt den Übersetzern zu verdanken. Sie treffen zwischen Auflehnung, Trotz und unverwüstlichem Menschenvertrauen den Ton eines kongolesischen Jungen, der Kind, Weiser und Spötter in einem ist.
JOSEPH HANIMANN
Alain Mabanckou: Morgen werde ich zwanzig. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München, 2015. 364 Seiten, 22 Euro.
In diesen Schelmen-Jahren läuft
dank etwas List, etwas Betrug
und etwas Witz die Welt noch rund
Alain Mabanckou , geboren 1966, hat Jura in Brazzaville und Paris studiert und war Berater eines französischen Konzerns. Heute lebt er in Paris und Los Angeles und lehrt Romanistik an der University of California. Foto: AFP Photo
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Nach der Lektüre von Alain Mabanckous Roman "Morgen werde ich zwanzig" ist Rezensent Joseph Hanimann hin- und hergerissen. Die Kindheitserinnerungen des 1966 im Kongo geborenen Autors an seine Heimat findet der Kritiker liebevoll, bisweilen auch "spöttisch" erzählt: Durchaus amüsiert liest er, wie Kinder ihre Eltern, Frauen ihre Männer oder Händlerinnen ihre Kunden austricksen, gerührt folgt er dem kleinen Michel - Alter Ego des Autors - wie er sich an Gedichten Arthur Rimbauds oder Chansons Georges Brassens festhält. Als "Kinderschelmenroman" ganz ohne Chronologie, dafür aber mit zahlreichen reizenden Episoden und Figurenporträts erscheint dem Rezensenten dieses glänzend übersetzte Buch, dennoch muss er gestehen, dass die kindlich-naiven Erinnerungen des Erzählers an den afrikanischen Alltag in den siebziger Jahren bisweilen ein wenig zu langatmig geraten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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