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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Eine Art Western mit ikonoklastischem Prinzip: Sebastian Guhrs Roman "Mr. Lincoln und Mr. Thoreau"
Beim Überfliegen der Neuerscheinungen in meiner Buchhandlung blieb vor kurzem mein Blick an einem Buch mit dem Titel "Mr. Lincoln und Mr. Thoreau" hängen. Da ich trotz meines Interesses an amerikanischer Geschichte und amerikanischer Literatur nichts von einer Verbindung zwischen dem großen Präsidenten und dem legendären Autor wusste, sie nicht einmal automatisch als Zeitgenossen verortet hätte, war meine Neugierde geweckt, und ich schlug das Buch probeweise auf.
Der erste Satz des schlanken, keine 200 Seiten kurzen Romans lautet folgendermaßen: "Abraham Lincoln ist erst achtundzwanzig, aber er sitzt krumm wie ein alter Mann auf seinem Esel, als er in Springfield einreitet. Seinen neuen Zylinder setzt er sich kurz vor der Stadtgrenze auf. Er soll hier eine Assistentenstelle in einer Kanzlei antreten, aber er ist schlecht gelaunt, weil er nur ein Prärieanwalt ist, weil für den Zylinder fast sein ganzes Geld draufgegangen ist und weil er seit Tagen überlegt, wie er die Verlobung mit einer Frau, die er nicht liebt, auflösen kann."
Normalerweise gebe ich einem Buch ein paar Seiten, um mich zu überzeugen und in Bann zu schlagen. Hier war nach diesem ersten Absatz klar, dass ich weiterlesen wollte. So viel lakonische Präzision, so viel martinitrockener Humor zwischen den Wörtern und ein so unerwartetes Setting: Da haben sie, dachte ich mir, endlich mal einen neuen Amerikaner entdeckt, der wirklich interessant ist. Und da die Übersetzung, so viel kann ich beurteilen, sehr gelungen war, blätterte ich nach diesem ersten Satz zurück an den Anfang, um zu sehen, ob ich den Übersetzer kenne, ob es ein bekannter Name war. Aber da stand nichts von einer Übersetzung, und erst jetzt sah ich mir den Klappentext an und las dort über den Autor: "Sebastian Guhr, geboren 1983 in Berlin."
Und nun war ich wirklich, wie es so hässlich heißt, angefixt. Ein mir noch unbekannter deutscher Schriftsteller, der, anstatt die tausendste Geschichte über das Berliner Kulturprekariat zu schreiben, mir eine Art Western präsentiert, dessen erste Szene wie aus einem Film von John Ford wirkt, das nahm mich auf der Stelle so für das Buch ein, dass ich mir sagte: Darüber willst du, es sei denn, es fällt in der Folge fürchterlich ab, etwas schreiben.
Wie man hier sieht, tut es das zum Glück nicht. Im Gegenteil. Von Abraham Lincoln im noch kaum zivilisierten Kaff Springfield im Mittleren Westen springt die Erzählung im zweiten Kapitel zu Henry David Thoreau im beschaulichen Concord, den wir dabei erleben, wie er sich gerade daranmacht, vor der Menschheit und der Zivilisation in die Wälder zu flüchten, auch wenn der nachmals berühmte Walden Pond, an dem er sich dann niederlassen wird, nur gerade drei Meilen vom Ort entfernt liegt, so dass - auch hier wieder die trockene Komik, die den Roman durchzieht - jeden Tag jemand einen Spaziergang macht, um den Weltflüchtling zu besuchen, zu häufig für Thoreaus Geschmack, vor allem seine Mutter.
Vom Anfang bis zum Ende wird dieser Wechsel durchgehalten, einmal Lincoln, einmal Thoreau, und man wartet immer gespannter, wann denn nun die im Titel implizit versprochene Begegnung oder Konfrontation stattfinden wird. Unterdessen merkt man, dass man es mit zwei ausgesprochenen Käuzen zu tun hat. Hier ähnelt die Prämisse des Buches der von Kehlmanns "Vermessung der Welt", wo auch große Gestalten in ihrer allzumenschlichen Kleinheit geschildert wurden.
Henry David Thoreau ist ein junger Mann, dem alles, was er anfängt, misslingt und bei dem nie sicher ist, ob seine Flucht vor der Zivilisation nicht vor allem eine vor sich selbst und der eigenen Unfähigkeit ist.
Noch extremer liegt der Fall bei dem von permanenten Selbstzweifeln und Depressionen, die er "Schwarzer Hund" nennt (auch Hemingway kannte den "Black Dog"), heimgesuchten Lincoln, und man fragt sich ernsthaft, wie dieser Ritter von der traurigen Gestalt jemals hat zu einem der bedeutendsten Präsidenten der amerikanischen Geschichte werden können.
Es sind dann auch die Frauen im Schatten der zwei Männer, die diesen nicht nur den aufrechten Gang, sondern auch eine resolute und freie Entscheidungskraft voraus haben.
Die Gefahr eines solch ikonoklastischen Prinzips ist natürlich immer, dass sich jeder Trottel ermutigt fühlt, sich den außergewöhnlichen Männern überlegen zu fühlen, aber ich glaube nicht, dass das die Intention des Autors gewesen ist.
Was mir besonders gefallen hat, ist, wie er jedes Mal, wenn die Handlung sich zu einem Knoten schürzt, der eigentlich nach einer Explosion verlangt, meine Erwartungen unterläuft und den Showdown verweigert, im Falle der Begegnung der beiden Titelhelden ebenso wie bei einem Duell Lincolns oder dem Moment, in dem Thoreaus Waldeinsamkeit endet.
An den Anfang des Buches hat Sebastian Guhr eine Anmerkung gesetzt, in der er sagt, er habe eine vergangene Welt konstruiert, um etwas über die heutige auszusagen. Das erlaubt dem Leser, nach der Lektüre weiter zu denken und zu fragen: Geht es um eine Konfrontation zwischen dem Verantwortungsethiker Lincoln und dem Gesinnungsethiker Thoreau? Kann man den späteren Präsidenten als einen gesetzestreuen Legitimisten sehen und Thoreau als eine Art individualistischen Querdenker? Was ist eine Meinung oder Überzeugung wert, die sich nicht in einer Tat bewährt?
Es ist jedenfalls eine der Qualitäten dieses leichthändig und unterhaltsam erzählten Romans, dass die Fragen, die er aufwirft oder streift, einen noch lange nach der Lektüre weiterbeschäftigen. MICHAEL KLEEBERG.
Sebastian Guhr: "Mr. Lincoln und Mr. Thoreau". Roman.
Marix Verlag, Wiesbaden 2021. 192 S., geb., 20,- Euro.
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