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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Kompetenz ist keine Frage des Geschlechts: Siri Hustvedt legt eine ziemlich bunte Essay-Sammlung vor.
Von Anna Vollmer
Es ist schwer zu sagen, wofür Siri Hustvedt sich nicht interessiert. Die amerikanische Autorin hat einen Doktortitel in Literaturwissenschaften und sich eine zweite Karriere in den Neurowissenschaften aufgebaut. Sie fährt zu Kongressen und hat einen Lehrauftrag in Psychiatrie an der Cornell University. Ihre Essays, von denen nun eine neue Sammlung unter dem Titel "Mütter, Väter und Täter" erschienen ist, beschäftigen sich mit Philosophie, Kunst, Biologie, Psychoanalyse, True Crime und Literatur. Das ist eine ganze Menge, und so interessant vieles von dem ist, was Hustvedt zu sagen hat - das Gesamtpaket erscheint mitunter seltsam unzusammenhängend. Das merkt man schon daran, dass der Titel der Sammlung für viele der Essays ungeeignet ist, der deutsche noch mehr als der englische "Mothers, Fathers, and Others". Die Bandbreite von Hustvedts Wissen ist ihre große Stärke, sie ist tatsächlich in mancher Hinsicht die "intellektuelle Vagabundin", als die sie sich in einem dieser Essays selbst bezeichnet. Sie beschreibt darin die Vorzüge eines breit gestreuten Interesses, das verschiedene Themen miteinander in Schwingung versetzt. Wenn man etwa als Geisteswissenschaftlerin auf die Naturwissenschaften schaut und scheinbare Gewissheiten hinterfragt, könne das durchaus produktiv sein. Allerdings richtet sich gerade die Bandbreite der Beiträge an vollkommen unterschiedliche Leser. Denn die Texte sind nicht nur inhaltlich, sondern auch formal so verschieden, dass man den Sprüngen manchmal nur widerwillig folgen mag. Gerade ist man in Hustvedts Familiengeschichte eingestiegen, da folgt schon ein kurzer Artikel zum New Yorker Lockdown und wenig später ein über vierzigseitiges Close Reading von Emily Brontes "Sturmhöhe". Da Hustvedt, indem sie bestimmte Motive immer wieder aufgreift, so etwas wie einen thematischen Zusammenhang signalisiert, hätte etwas mehr Ordnung gut getan. Wenn es so etwas wie einen roten Faden in dem Buch gibt, ist es Hustvedts lebenslange Beschäftigung mit Misogynie. Sie schreibt: "Ich habe alles, was ich zu dem Thema auftreiben konnte, gelesen." Sie erzählt die Geschichte ihrer Großmutter, weil in Familienerzählungen nur Platz für die Männer war. Sie fragt sich, woher der Hass kommt, der Frauen seit Jahrhunderten entgegenschlägt. Sie schildert einen Kriminalfall, bei dem ein Mädchen zu Tode gequält wurde, und fragt sich, was das mit ihrer Jugend und Jungfräulichkeit zu tun hatte. Und sie beschreibt, wie sie selbst ihr ganzes Leben lang unterschätzt wurde. Wohl auch deshalb wird sie nicht müde zu betonen, welche Vorträge sie gehalten, welche Essays sie geschrieben hat, die Dinge aufzuzählen, über die sie ja in der Tat ausgesprochen viel weiß. Das kann schnell angeberisch wirken. Ist es das? Oder eher eine Reaktion auf die intellektuelle Zurückweisung, die sie erlebt hat? Ihr Vater, ein Professor, weist sie darauf hin, dass sich ihre Doktorarbeit nicht wie eine solche lese. Und sagt: "Ich bin nicht sicher, ob du wirklich Professorin werden willst." In einem Philosophieseminar stößt sie allein durch ihre Anwesenheit auf Ablehnung: "Es kam mir vor, als hätte ich einen üblen Geruch in den Raum geweht." Solche Anekdoten lesen sich bedrückend. Deshalb sind Hustvedts ständige Erinnerungen an das, was sie erreicht hat, zugleich ein engagiertes Plädoyer: dafür, sich die eigenen Fähigkeiten nicht aufgrund des Geschlechts absprechen zu lassen. "Gehirntattoos" nennt Hustvedt Sätze, die ein Leben lang hängen bleiben. Sie liefert viele davon, die meisten entstehen in Zusammenhang mit ihrem Mann, dem amerikanischen Schriftsteller Paul Auster. Er wiederum ist keiner, der seine Frau kleinhält. Er preist sie als seine erste, seine klügste Leserin. Die Öffentlichkeit scheint davon jedoch unbeeindruckt zu bleiben. Immer wieder wird Hustvedt darauf hingewiesen, sie habe ihre Kenntnisse in den Neurowissenschaften und der Psychoanalyse doch nur von ihrem Mann. Sie sagt dann: "Mr. Auster hat noch nie im Leben einen neurowissenschaftlichen Artikel gelesen." Siri Hustvedt schon. Viele ihrer Essays sind instruktiv und handeln von Themen, die Romanautorinnen nur selten so informiert erörtern. Deshalb werden auch jene Leser, die sich bei der Zusammenstellung des Bandes etwas mehr Kohärenz gewünscht hätten, von Hustvedts Selbstbewusstsein, über diese Dinge zu schreiben, eingenommen sein. Siri Hustvedt: "Mütter, Väter und Täter". Essays. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 448 S., geb., 28,- Euro.
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