Wie lebt es sich, wenn man Tag für Tag durch ein Minenfeld aus Lügen muss? Wenn man die Nähe anderer Menschen sucht und dabei weiß, dass man weder der eigenen Familie noch der Liebe vertrauen kann? Und was lernt man - und wie lernt man zu denken -, in einer politisch fragwürdigen Gesellschaft, die Zuflucht nimmt in apathischer Gemütlichkeit? Alejandro Zambra macht das spürbar und begreiflich - mit einem Bravourstück interaktiver Literatur: einem Multiple-Choice-Test, der sich am chilenischen »Eignungstest für höhere Bildung« der Jahre 1967 bis 2002 orientiert. Multiple Choice ist ein philosophischer Abenteuerspielplatz, ein hintergründig unterhaltsames Buch, und die Behauptung, dass es ein Roman sei, ist so waghalsig wie die Behauptung, dass es keiner sei.
Wie lebt man, wie liebt man als junger Mensch in einer Diktatur? Alejandro Zambra - der »Magier der kleinen Form« (Deutschlandfunk Kultur) - betreibt ein schillerndes literarisches Experiment, in dem das Poetische und das Politische auf beunruhigend komische Weise zur Deckung kommen.
Wie lebt man, wie liebt man als junger Mensch in einer Diktatur? Alejandro Zambra - der »Magier der kleinen Form« (Deutschlandfunk Kultur) - betreibt ein schillerndes literarisches Experiment, in dem das Poetische und das Politische auf beunruhigend komische Weise zur Deckung kommen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.03.2019Einmal die vier ohne Freiheit und Gnade, bitte
Das Leben in der Dikatur, erzählt in einer literarischen Spielform, die Wahlmöglichkeit nur suggeriert: Alejandro Zambras "Multiple Choice"
Zu Zeiten der chilenischen Militärdiktatur bestand eine der staatlichen Repressalien darin, die Zulassung zur Universität durch einen Multiple-Choice-Test zu regulieren. Die Fragen dieses Tests hatten ganz nebenbei auch die Funktion, die Grundlagen der diktatorischen Ideologie einzuüben und die dazugehörige Regierungstreue und Unterwürfigkeit zu überprüfen. Ein Staatsbürger-Examen, ob man auch bereit sei, wirklich alle Pinochet-Wendungen mitzumachen. Dieser direkte Eingriff des Regimes in den Bildungsweg seiner Jugend diente schon zu Pinochets Zeiten als unerschöpflicher Fundus für heimliche Witze und subversive Phantasiespiele: Stell dir vor, du hast einen Doppelgänger oder gar Zwilling, der geht in Santiago zur Prüfung und besteht glänzend, während du gleichzeitig in Valparaiso revolutionäre Lyrik verfasst und verbreitest.
Manche Witze zünden nur, wenn man einen gemeinsamen kulturellen Fundus teilt. Und meist ist die Komik schon dahin, wenn man glaubt, eine Pointe erklären zu müssen.
Doch erst vor diesem Hintergrund versteht man den bitteren Ernst jenes Witzes, den der chilenische Autor Alejandro Zambra wagt, wenn er für seinen Roman "Multiple Choice" exakt die Struktur des besagten Eingangstestes übernimmt: Der Aufbau seines Buches "folgt dem der sprachlichen Prüfung, wie sie bis 1994 gültig war und die 90 Multiple-Choice-Fragen enthielt, unterteilt in fünf Gruppen". Ja, auch das gehört zur bitteren Wahrheit: Bis 1994 und damit vier Jahre über das Ende der Diktatur hinaus hat man diese Prüfungsform beibehalten.
Wir können Zambras gewitzte Formpointe nachvollziehen. Aber können wir auch befreit darüber lachen, wenn wir die Repressalien nicht erfahren haben? Wenn bei uns kein Familienmitglied oder Bekannter mit seinen Zukunftsplänen oder an diesem Test zerschellt ist? Wenn wir im Hinblick auf die Form dieses Romans erst eine Erklärung benötigen? Tatsächlich kommt in den deutschsprachigen Rezensionen regelmäßig der Vorbehalt auf, das Verfahren werde schnell langweilig, es wirke wie ein abgenutztes avantgardistisches Formexperiment in der Nachfolge etwa von Oulipo. Könnte vielleicht mal jemand überprüfen, ob es Unterschiede in der Leserbewertung zwischen Ost- und Westdeutschen gibt? Oder ob die Einschätzung sich verschiebt, wenn man das Buch jenen vorlegt, die am altbekannten Medizinertest gescheitert sind? Interessanterweise wurde Zambras Experiment auch in den Vereinigten Staaten mit weit größerer Begeisterung aufgenommen als in Deutschland. Ob das allein an Zulassungsregulierungen zu den amerikanischen Elite-Hochschulen liegt?
Für die Generation von Alejandro Zambra, der 1975 geboren wurde, sind diese historischen Zusammenhänge durchaus noch prägend. In der Elite-Schule, die Zambra besuchte, war das gesamte Lernen der Schulzeit auf diesen Test hin angelegt. Der Studienbeginn mag noch Jahre voraus gelegen haben, die Lehrer erprobten dennoch immer dasselbe Format der Wissensabfrage. Was auch immer das Thema des Unterrichts gewesen sein mag, am Ende hatte das Wissen die Form dieses Tests anzunehmen: "Man musste nichts schreiben, keine Meinung kundtun, nichts entwickeln, keine einzige Idee. Wir mussten nur das Spiel mitspielen und die Falle erraten." Am Ende konnte derjenige gut bestehen, der am besten in dieser Form denken konnte oder wollte. Oder dessen Denken am besten schon von vornherein diese Form annahm. Und gut schnitt man auch ab, wenn man auf das Lernen verzichtete, und sich stattdessen auf die Kunst des Abschreibens und Spickens verstand. Was für ein desavouierendes Generationenporträt: Die Welt als Multiple-Choice-Aufgabe, ein bisschen Spicken, ein wenig Abschreiben, wer gelernt hat, ist selber schuld. Dafür aber regiert die Solidarität des gemeinschaftlichen Betrugs. Das ist die Geisteshaltung jener Generation von Chilenen, die längst die entscheidenden Posten in Gesellschaft und Wirtschaft avisiert oder erreicht hat. Hat man da noch Fragen zur Zukunft des Landes?
Nur damit nicht die kleinste Überheblichkeit aufkommt: Vergleichbare Fragen sind in unserer Gesellschaft hochgradig virulent. Wie wirkt es sich auf die Beurteilung von Situationen aus, wenn vorgegebene Formate suggerieren, man könnte die Welt mit maximal vier Stichpunkten pro Folie fassen? Oder welche Folgen hat es eigentlich, wenn sich die Personen samt ihrer Kommunikation und vermeintlichen Bedeutung in den sozialen Medien unablässig klassifizieren?
Zambra nimmt diese Frage, wie das Sein einer Testform das Bewusstsein prägt, gewitzt ernst. So nutzt er die ersten 24 Testfragen, um mit Hilfe einer Matrix von Begriffen eine Enzyklopädie des Diktatorischen aufzufächern. Je ein Begriff ist mit fünf ihm untergeordneten Stichworten versehen, von denen einer vermeintlich nicht passt: bei "Beschützen" klappt das mit den Alternativen "beschirmen, bewundern, behüten, bespitzeln, bewachen" sehr gut. Bei dem Stichwort "Sammel-", mit dem man Komposita bilden soll und zwischen den Alternativen "Sammel-Werk, -Lager, -Grab, -Wut, -Surium" wählen darf, versteht man sofort, wie harmlose Wörter in einer Diktatur eine neue Färbung erhalten. In den besten Fällen funktionieren die Aufgaben als beißender Kommentar zur Perfidie des Diktatorischen. Ab und an sind die Aufgaben so strategisch ausgeklügelt wie das Playbook eines Quarterbacks beim American Football. Manchmal aber wirken sie auch so erschreckend trivial wie die Pizzabestellung in einem Restaurant: Die 4 ohne Freiheit und Gnade, bitte. Es ist faszinierend, diesen Parcours zu durchschreiten. Aber man kann auch nicht leugnen, dass sich Alejandro Zambra zugunsten seines Konzepts seiner großen Stärke beraubt.
Zambra ist ein wunderbarer Erzähler, konzise, mit zärtlicher Zuneigung für seine häufig verqueren Figuren und ohne Scheu vor klaren politischen Ansagen. Das hat sich international längst herumgesprochen, weshalb man über die vergangenen Jahre hinweg auch im Deutschen etwa in den Genuss seiner Kürzestromane "Bonsai" und "Das Leben der Bäume" sowie seines Erzählungsbandes "Ferngespräch" kam. In "Multiple Choice" leuchtet Zambras erzählerische Eleganz erst wieder auf, wenn er im letzten Teil des Test drei knappe Geschichten entfaltet. Seine kulturelle Gedächtnisarbeit ist unerlässlich. Aber sie schmälert die Freude nicht, in zukünftigen Bänden wieder auf den Geschichtenerzähler Zambra zu treffen.
CHRISTIAN METZ
Alejandro Zambra: "Multiple Choice".
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 109 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Leben in der Dikatur, erzählt in einer literarischen Spielform, die Wahlmöglichkeit nur suggeriert: Alejandro Zambras "Multiple Choice"
Zu Zeiten der chilenischen Militärdiktatur bestand eine der staatlichen Repressalien darin, die Zulassung zur Universität durch einen Multiple-Choice-Test zu regulieren. Die Fragen dieses Tests hatten ganz nebenbei auch die Funktion, die Grundlagen der diktatorischen Ideologie einzuüben und die dazugehörige Regierungstreue und Unterwürfigkeit zu überprüfen. Ein Staatsbürger-Examen, ob man auch bereit sei, wirklich alle Pinochet-Wendungen mitzumachen. Dieser direkte Eingriff des Regimes in den Bildungsweg seiner Jugend diente schon zu Pinochets Zeiten als unerschöpflicher Fundus für heimliche Witze und subversive Phantasiespiele: Stell dir vor, du hast einen Doppelgänger oder gar Zwilling, der geht in Santiago zur Prüfung und besteht glänzend, während du gleichzeitig in Valparaiso revolutionäre Lyrik verfasst und verbreitest.
Manche Witze zünden nur, wenn man einen gemeinsamen kulturellen Fundus teilt. Und meist ist die Komik schon dahin, wenn man glaubt, eine Pointe erklären zu müssen.
Doch erst vor diesem Hintergrund versteht man den bitteren Ernst jenes Witzes, den der chilenische Autor Alejandro Zambra wagt, wenn er für seinen Roman "Multiple Choice" exakt die Struktur des besagten Eingangstestes übernimmt: Der Aufbau seines Buches "folgt dem der sprachlichen Prüfung, wie sie bis 1994 gültig war und die 90 Multiple-Choice-Fragen enthielt, unterteilt in fünf Gruppen". Ja, auch das gehört zur bitteren Wahrheit: Bis 1994 und damit vier Jahre über das Ende der Diktatur hinaus hat man diese Prüfungsform beibehalten.
Wir können Zambras gewitzte Formpointe nachvollziehen. Aber können wir auch befreit darüber lachen, wenn wir die Repressalien nicht erfahren haben? Wenn bei uns kein Familienmitglied oder Bekannter mit seinen Zukunftsplänen oder an diesem Test zerschellt ist? Wenn wir im Hinblick auf die Form dieses Romans erst eine Erklärung benötigen? Tatsächlich kommt in den deutschsprachigen Rezensionen regelmäßig der Vorbehalt auf, das Verfahren werde schnell langweilig, es wirke wie ein abgenutztes avantgardistisches Formexperiment in der Nachfolge etwa von Oulipo. Könnte vielleicht mal jemand überprüfen, ob es Unterschiede in der Leserbewertung zwischen Ost- und Westdeutschen gibt? Oder ob die Einschätzung sich verschiebt, wenn man das Buch jenen vorlegt, die am altbekannten Medizinertest gescheitert sind? Interessanterweise wurde Zambras Experiment auch in den Vereinigten Staaten mit weit größerer Begeisterung aufgenommen als in Deutschland. Ob das allein an Zulassungsregulierungen zu den amerikanischen Elite-Hochschulen liegt?
Für die Generation von Alejandro Zambra, der 1975 geboren wurde, sind diese historischen Zusammenhänge durchaus noch prägend. In der Elite-Schule, die Zambra besuchte, war das gesamte Lernen der Schulzeit auf diesen Test hin angelegt. Der Studienbeginn mag noch Jahre voraus gelegen haben, die Lehrer erprobten dennoch immer dasselbe Format der Wissensabfrage. Was auch immer das Thema des Unterrichts gewesen sein mag, am Ende hatte das Wissen die Form dieses Tests anzunehmen: "Man musste nichts schreiben, keine Meinung kundtun, nichts entwickeln, keine einzige Idee. Wir mussten nur das Spiel mitspielen und die Falle erraten." Am Ende konnte derjenige gut bestehen, der am besten in dieser Form denken konnte oder wollte. Oder dessen Denken am besten schon von vornherein diese Form annahm. Und gut schnitt man auch ab, wenn man auf das Lernen verzichtete, und sich stattdessen auf die Kunst des Abschreibens und Spickens verstand. Was für ein desavouierendes Generationenporträt: Die Welt als Multiple-Choice-Aufgabe, ein bisschen Spicken, ein wenig Abschreiben, wer gelernt hat, ist selber schuld. Dafür aber regiert die Solidarität des gemeinschaftlichen Betrugs. Das ist die Geisteshaltung jener Generation von Chilenen, die längst die entscheidenden Posten in Gesellschaft und Wirtschaft avisiert oder erreicht hat. Hat man da noch Fragen zur Zukunft des Landes?
Nur damit nicht die kleinste Überheblichkeit aufkommt: Vergleichbare Fragen sind in unserer Gesellschaft hochgradig virulent. Wie wirkt es sich auf die Beurteilung von Situationen aus, wenn vorgegebene Formate suggerieren, man könnte die Welt mit maximal vier Stichpunkten pro Folie fassen? Oder welche Folgen hat es eigentlich, wenn sich die Personen samt ihrer Kommunikation und vermeintlichen Bedeutung in den sozialen Medien unablässig klassifizieren?
Zambra nimmt diese Frage, wie das Sein einer Testform das Bewusstsein prägt, gewitzt ernst. So nutzt er die ersten 24 Testfragen, um mit Hilfe einer Matrix von Begriffen eine Enzyklopädie des Diktatorischen aufzufächern. Je ein Begriff ist mit fünf ihm untergeordneten Stichworten versehen, von denen einer vermeintlich nicht passt: bei "Beschützen" klappt das mit den Alternativen "beschirmen, bewundern, behüten, bespitzeln, bewachen" sehr gut. Bei dem Stichwort "Sammel-", mit dem man Komposita bilden soll und zwischen den Alternativen "Sammel-Werk, -Lager, -Grab, -Wut, -Surium" wählen darf, versteht man sofort, wie harmlose Wörter in einer Diktatur eine neue Färbung erhalten. In den besten Fällen funktionieren die Aufgaben als beißender Kommentar zur Perfidie des Diktatorischen. Ab und an sind die Aufgaben so strategisch ausgeklügelt wie das Playbook eines Quarterbacks beim American Football. Manchmal aber wirken sie auch so erschreckend trivial wie die Pizzabestellung in einem Restaurant: Die 4 ohne Freiheit und Gnade, bitte. Es ist faszinierend, diesen Parcours zu durchschreiten. Aber man kann auch nicht leugnen, dass sich Alejandro Zambra zugunsten seines Konzepts seiner großen Stärke beraubt.
Zambra ist ein wunderbarer Erzähler, konzise, mit zärtlicher Zuneigung für seine häufig verqueren Figuren und ohne Scheu vor klaren politischen Ansagen. Das hat sich international längst herumgesprochen, weshalb man über die vergangenen Jahre hinweg auch im Deutschen etwa in den Genuss seiner Kürzestromane "Bonsai" und "Das Leben der Bäume" sowie seines Erzählungsbandes "Ferngespräch" kam. In "Multiple Choice" leuchtet Zambras erzählerische Eleganz erst wieder auf, wenn er im letzten Teil des Test drei knappe Geschichten entfaltet. Seine kulturelle Gedächtnisarbeit ist unerlässlich. Aber sie schmälert die Freude nicht, in zukünftigen Bänden wieder auf den Geschichtenerzähler Zambra zu treffen.
CHRISTIAN METZ
Alejandro Zambra: "Multiple Choice".
Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 109 S., geb., 18,- [Euro].
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»Zambra ist ein wunderbarer Erzähler, konzise, mit zärtlicher Zuneigung für seine häufig verqueren Figuren und ohne Scheu vor klaren politischen Ansagen.« Christian Metz Frankfurter Allgemeine Zeitung 20190305