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Ihr Debüt "Feldstudien über ukrainischen Sex" wurde zum Bestseller. Oksana Sabuschkos neues Siebenhundert-Seiten-Opus "Museum der vergessenen Geheimnisse" will einen nationalen Mythos schaffen.
Das Land hängt am Kreuz. Geopfert in Jalta von den Westalliierten, verraten von den Deutschen, gehasst von den Polen, geschunden und endgültig von den Landkarten eliminiert von Stalin. So sieht die ukrainische Erfolgsautorin Oksana Sabuschko ihre Heimat, das Land zwischen Dnister, Dnjepr und Schwarzem Meer - ein ewiges Stiefkind Europas. Ihr 1996 in ihrer Heimat und 2006 auch auf Deutsch erschienenes Romandebüt "Feldstudien über ukrainischen Sex" wurde zum Bestseller. Darin hatte sie das Mantra der Geschlechterschlachten, die sich vorwiegend in der horizontalen Ebene vollziehen, besungen, eine sexualisierte Interpretation der psychologischen Folgen des kommunistischen Patriarchats.
Ihr jüngstes, fast achthundert Seiten starkes Buch unternimmt mit ähnlichen Mitteln den Versuch, einen neuen nationalen Mythos zu kreieren. Wie jene monströse stählerne Statue der Mutter-Heimat, die einhundertacht Meter über Sabuschkos Heimatstadt Kiew ihr Schwert zum Kampf schwingt (und damit höher ist als die New Yorker Freiheitsstatue), setzt die Autorin in ihrem Roman unterschiedlichen Heldenmüttern ein literarisches Denkmal. Ihr Nationalepos wird in postmoderner Manier aus Bewusstseinsströmen mehrerer Figuren komponiert, die über zwei historische Zeitebenen - die Jahre 1947/48 und die Zeit der Desillusionierung nach der Revolution von 2004/2005 - auf komplizierte Weise ineinandergreifen. Die ideologischen Gravitationskräfte des Buches gehen dabei von einer feministischen Perspektive postsowjetischer Provenienz und einer von allen heiklen Fragen bereinigten und zum Opfermythos verklärten Darstellung des Kampfs der Ukrainischen Aufstandsarmee aus. Letztere bildete den militärischen Arm der Organisation der Ukrainischen Nationalisten und agierte im Untergrund bis in die fünfziger Jahre hinein gegen den sowjetischen Geheimdienst.
Die zentrale Protagonistin des Romans Daryna arbeitet als Journalistin beim ukrainischen Fernsehen in Kiew und erlebt gerade die zweifelhaften Segnungen der Privatisierung, sprich Korrumpierung, der Presse. Die kurze Phase der ohnehin sparsam dosierten Demokratisierung des Landes ist lange vorbei. Die Aussicht auf die Realisierung einer Reportage über das tragische Schicksal der UPA-Partisanin Helzja im Jahr 1947 stehen schlecht für Daryna. Ihre Reportage-Serie über die wahren Helden des Alltags in dem von Korruption geprägten Land wird gerade vom Sender genommen. Überdies leidet die Journalistin noch immer am Verlust ihrer besten Freundin, der erfolgreichen Künstlerin Wlada, die bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kam, bei dem auch zahlreiche ihrer Bilder verschwanden, die zu einem Zyklus über vergrabene Geheimnisse der ukrainischen Geschichte gehören. Angeregt wurde die Malerin dazu durch Erzählungen von ukrainischen Frauen, die während und kurz nach dem Krieg Ikonen vergruben, um sie so zu retten. Ihren Gemäldezyklus nannte Wlada "Museum der vergessenen Geheimnisse".
Diese drei Heldinnen kommen als moderne Amazonen daher, deren männlicher Anhang ziemlich austauschbar erscheint. Die jeweiligen Lebensabschnittsbegleiter sind in dieser Konstellation dumpfe Bösewichte oder blasse Liebesdiener, wie die beiden Adriane, der eine in der Rolle des Liebhabers der modernen Daryna und Großneffen Helzja, sein Namensvetter als Partisan und verschmähter Liebhaber der Untergrundkämpferin. Die Eigenart dieses postsowjetischen Feminismus besteht in einer recht mechanischen Umkehrung patriarchalischer Rollen - die Männer schlüpfen in die des hingabevollen, demütigen Hausmannes oder des dämonischen Homme fatale, die Frauen sind sexualisierte Alphatiere mit übersinnlichen Kräften. Helzja stirbt, verraten von ihrem Partisanengatten, bei einem Gemetzel mit dem sowjetischen Geheimdienst, ihr ungeborenes Kind unter ihrer Brust.
Überraschenderweise stellt Sabuschko ihren drei Ikonen noch eine vierte Heldin zur Seite, eine Jüdin, die, bereits auf dem Weg ins Vernichtungslager, von den ukrainischen Partisanen befreit wurde und daraufhin in deren Reihen kämpft und am Ende, anders als Helzjas Verräter-Ehemann, selbst in den Tod geht, um ihre Kameraden nicht zu verraten, ohne Rücksicht auf ihren kleinen, nur wenige Monate alten Sohn, der ins Waisenhaus kommt. Seine Lebensgeschichte ist eine der spannendsten dieses Buches, das geradezu als Lehrstück darüber dienen kann, wie in den Transformationsgesellschaften Osteuropas nationale Legenden um- und neu geschrieben werden.
Einerseits ist es ein Verdienst der Autorin, die ziemlich vergessene Geschichte der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung - wer kennt schon noch Stepan Banderas, der in den fünfziger Jahren im deutschen Exil vom sowjetischen Geheimdienst ermordet wurde - angepackt und gleichzeitig ein schonungsloses, ernüchterndes Bild ihres Landes heute gezeichnet zu haben. Andererseits stößt ihre Interpretation der Geschichte der Aufstandsarmee als Märtyrer- und Heldenarmee ziemlich bitter auf.
Was in der Ukraine als Abrechnung mit dem Kommunismus und den Siegermächten des Westens gelten mag und was Sabuschko uns präsentiert, widerspricht allen seriösen historischen Quellen und Darstellungen, die zahlreiche Verwicklungen der UPA in antipolnische und antisemitische Massaker belegen. So bleibt die Katharsis unvollendet. Die Übermutter Daryna geht mit einer neuen Generation Ukrainer schwanger, doch fragt man sich, wie deren Zukunft aussehen wird. Am Ende ihrer Suche findet Daryna im Museum der vergessenen Geheimnisse nicht die Geschichte einer nationalen Heldin, sondern die eines Geheimdienstoffiziers, der Opfer und Täter zugleich war.
SABINE BERKING
Oksana Sabuschko: "Museum der vergessenen Geheimnisse". Roman.
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil. Verlag Droschl, Granz/Wien 2010. 760 S., geb., 29,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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