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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Tobias Elsäßer sucht nach Systemsprengern
Was macht es mit einem Menschen, wenn er seinen Erinnerungen nicht trauen kann? Eine beängstigende Frage und zugleich ein interessantes Gedankenspiel. Aus dieser Überlegung entstand der neue Jugendroman von Tobias Elsäßer: "Mute - Wer bist du ohne Erinnerung?"
Die sechzehnjährige Espe zieht mit ihren Adoptiveltern und ihren Adoptivgeschwistern nach St. Engbert in den Schwarzwald. Auf den letzten Kilometern hat die Familie einen Autounfall, während des Unglücks sieht Espe Bilder vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen, die sie nicht zuordnen kann und empfindet Gefühle, die nicht ihre sind. Als wenige Monate später Vater und Mutter mitten in der Nacht von der Polizei abgeführt werden, fängt Espe an, alles zu hinterfragen. Zudem hat sie keine eigene Erinnerung an ihr "zweites Leben", das vor ihrer Adoption, so wie auch ihre Schwester Yuma und ihr kleiner Bruder Farid. Sina, die jüngste Tochter von Erik und Sibel Simwe ist als Einzige deren leibliches Kind.
Der Aufbau des Buches verspricht Spannung. Das Geschehen wird aus der Retrospektive von Espe wiedergegeben. Diese bricht im Februar 2024 zusammen, weshalb sie in die Psychiatrie eingeliefert wird. Auf Anweisung der Ärzte fängt sie dort an, alles Vergangene aufzuschreiben. So wechseln sich Tagebucheinträge aus der Gegenwart und Passagen, die die vorherige Tragödie schildern, ab. Zusätzlich sind die Kapitel unterbrochen durch Abschnitte einer Reportage mit dem Titel: "Ein Dorf sucht die Wahrheit", verfasst von der Journalistin Caroline Marquart im Zuge der Gerichtsverhandlung zu diesem Fall. Dabei werden Bezugspersonen der Familie Simwe interviewt und um Stellungnahme gebeten, etwa zu der Vergangenheit von Erik und Sibel, die Ärzte und Wissenschaftler sind und früher viel zum Thema Epigenetik geforscht haben. Momentan steht Erik mit seinem Projekt "Soulmate" kurz vor dem Durchbruch - eine Software, "um den Alltag besser zu bewältigen" und "unser Gehirn aufnahmefähig zu halten und Kapazitäten freizuschalten".
Der Jugendschriftsteller und Musiker Elsäßer, geboren 1973 in Stuttgart, nannte in einem Interview Jugendliche "kritischer als Erwachsene", weil sie noch nicht Teil des "Systems" seien. Diese Überzeugung zeigt sich auch in seinem neuen Roman. Durch die jugendliche Perspektive gelingt es ihm, wichtige Themen unkonventionell zu beleuchten. Vor allem das Thema Identität, bezogen auf den Bereich der Adoption, wird sehr authentisch durch die Erzählerin Espe behandelt: "Für Minuten lebe ich in diesem Dazwischen, war eine seelenlose Gestalt, eine Zeichnung auf dem Papier, die man ohne Aufgabe, ohne Geschichte zurückgelassen hat."
Aber auch andere aktuell diskutierte Themen wie die psychische Erkrankung in jungen Jahren oder die Sehnsucht nach Spiritualität spiegeln sich im Roman, der dafür geschickt die jeweils unterschiedlich veranlagten Hauptfiguren einsetzt. Espe, die als unnahbar, nett und zuvorkommend erscheint und auf ihre Geschwister einen geradezu "mütterlichen Blick" richtet, hat es dabei mit der rebellischen Yuma zu tun, außerdem mit Farid, dem Bootsflüchtling, dessen Traum es ist, professioneller Balletttänzer zu werden, und schließlich mit Sina, dem "Nesthäkchen", das sich für das Tierwohl und die Umwelt einsetzt.
Indem diese Figuren in ihrer Individualität glaubwürdig bleiben, beweist Elsäßer nicht nur seine Vertrautheit mit der Zielgruppe seiner Bücher. Vor allem eröffnet er seinen Lesern einen Blick in die komplexe Situation derjenigen, die sich durch eine Adoption mit der Frage nach ihrer Herkunft auseinandersetzen müssen. ROSALYN KLEUTGENS
Tobias Elsäßer: "Mute - Wer bist du ohne Erinnerungen?" Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2024. 299 S., geb.,17,- Euro. Ab 14 J.
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