Eine sprachgewaltige, filigrane Aufarbeitung einer Mutter-Tochter Beziehung
Selten habe ich in einem Buch so viele Stellen markiert, die man sich in Erinnerung halten möchte. Und selten wie nie tue ich mich schwer, diesen wunderbaren Roman zu besprechen. Über derart persönliche Romane zu
schreiben ist nicht einfach, Interpretationen könnten vielleicht falsch gedeutet werden und schon stehen…mehrEine sprachgewaltige, filigrane Aufarbeitung einer Mutter-Tochter Beziehung
Selten habe ich in einem Buch so viele Stellen markiert, die man sich in Erinnerung halten möchte. Und selten wie nie tue ich mich schwer, diesen wunderbaren Roman zu besprechen. Über derart persönliche Romane zu schreiben ist nicht einfach, Interpretationen könnten vielleicht falsch gedeutet werden und schon stehen diese Zeilen in einem anderen (ungewollten) Licht.
Es geht um die Mutter der Ich-Erzählerin in diesem autofiktionalen Roman. Um deren Leben. Darum, was nach deren Tod zurückblieb. Ein Nichts. Eine Leere. Vor allem nur ein marginales Wissen über das Leben der Mutter. Wo sind bzw. waren die Gemeinsamkeiten, Verknüpfungspunkte? Diese werden hier Zeile für Zeile gesucht, aufgearbeitet. Die Autorin erschafft sich einen Zugang, möchte dieses Vakuum füllen, verstehen, sichtbar machen.
S.13: „Was von Mutter unsichtbar war. Ich hatte es vor Augen und konnte es nicht sehen. Es ist das von Mutter unsichtbar Gemachte. Eine Lücke mitten im Leben. Der Nebel mitten im vergilbten Bild. Ein Nichts, das da ist.“
Im zarten Alter von acht Jahren wurde die Mutter damals von zu Hause weggegeben, als „Dirn“, um an einem anderen Hof zu arbeiten. Die Armut war damals groß in den Südtiroler Bergen, die Familien oftmals kinderreich. Warum sie, und kein anderes Kind? Ihr Aufwachsen war traurig, kalt. Immer von einer Härte begleitet. Und sie vergaß ihre Kindheit nicht.
S.122: „Sie hatte eine schlimme Kindheit da oben auf dem Hof, einem düsteren Ort. Da gab es nur Arbeit und die böse Bäuerin. Es war hart da oben, schrecklich hart.“
Wenig sickerte durch in all den Jahren. Erinnerungen, spärliche Anekdoten, Fotos. Ihre Mutter liebte das Wort und Gedichte, doch mehr als ein paar Erzählungen blieben nicht übrig.
“Als würde die Geschichte schmutzen.”
Es ist nicht viel da, um das präsente Nichts aus dem vergangenen Leben der Mutter zu füllen. Was war der Wesenskern in der Mutter-Tochter-Beziehung? Wen hat die Tochter tatsächlich verloren?
Sie macht sich auf die Suche, besucht die Orte, an welchen ihre Mutter als „Dirn“ abgegeben wurde. Doch um auf das Wesentliche zu stoßen, muss letztendlich die Vergangenheit noch weiter zurück verfolgt werden in der Ahnenlinie. Sie findet nur weitere in Armut gebettete Schicksale.
Das Buch ist ein beeindruckender Debütroman, voller Bilder – hart gezeichnet, ohne Beschönigungen. Die Sprache ist sehr gewählt, jedes Wort sitzt perfekt, keines ist zu viel. Der Text entwickelt einen Sog, der einen über die Seiten zieht, obwohl ein Innehalten und bedachtes Lesen von Nöten wäre. Ganz große Erzählkunst ist das für mich. Man wird von Anfang an hineingeworfen in dieses „Nichts“, welches nach und nach Formen annimmt, sich zu einer Aufarbeitung einer Familiengeschichte entpuppt und dennoch ein filigranes Sprachstil über eine vorsichtige Annäherung an die Vergangenheit bleibt.
Mit anderen Worten: Lest das Buch! Grandioses Lesevergnügen und absolute Leseempfehlung dieses Romans von Christine Vescoli.