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Von Bozen nach Berlin: Ein junger Mann auf der Suche nach einer unversehrten Sprache und der Schönheit der Wörter. Paolo Prescher ist besessen von Wörtern. Wörter haben für ihn Geruch, Farbe oder Klang. Paolo hasst dreckige Wörter, sie rauben ihm die Luft. Dreckig sind Wörter, die nicht sagen, was sie sagen sollen. Seine Mutter macht ihm die Wörter dreckig, auch seinem Vater, der Aphasiker ist. Paolo leidet unter der Heuchelei der Mutter und der Boshaftigkeit der Schwester. Er hasst seine Geburtsstadt Bozen mit ihrer behaupteten Zweisprachigkeit und ihren Oberflächlichkeiten. Auf der Suche…mehr

Produktbeschreibung
Von Bozen nach Berlin: Ein junger Mann auf der Suche nach einer unversehrten Sprache und der Schönheit der Wörter. Paolo Prescher ist besessen von Wörtern. Wörter haben für ihn Geruch, Farbe oder Klang. Paolo hasst dreckige Wörter, sie rauben ihm die Luft. Dreckig sind Wörter, die nicht sagen, was sie sagen sollen. Seine Mutter macht ihm die Wörter dreckig, auch seinem Vater, der Aphasiker ist. Paolo leidet unter der Heuchelei der Mutter und der Boshaftigkeit der Schwester. Er hasst seine Geburtsstadt Bozen mit ihrer behaupteten Zweisprachigkeit und ihren Oberflächlichkeiten. Auf der Suche nach einer unversehrten anderen Sprache flüchtet er nach Berlin und trifft dort auf Mira. Sie schafft es, seine Worte zu reinigen. Bis seine Obsession ihn wieder einholt. Die herausragende Entdeckung der italienischen Literaturszene.
Autorenporträt
Maddalena Fingerle, 1993 in Bozen geboren, studierte Germanistik und Italianistik in München und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni München. Das Romanmanuskript Lingua madre hat 2020 den renommierten Italo-Calvino-Preis für das beste unveröffentlichte italienische Debüt gewonnen; nach Erscheinen folgten zahlreiche Preise.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2022

Größerer Versuch über schmutzige Wörter

Die Italienerin Maddalena Fingerle hat mit "Muttersprache" einen aufregenden Debütroman geschrieben. Der rechnet nicht nur mit dem Konstrukt der Südtiroler Zweisprachigkeit ab.

Seit ich auf der Welt bin, heult meine Mutter. Sie heult, weil mein erstes Wort Wort war. Sie heult, weil ich Wort sage und nicht Mama." Mit diesem Aufschlag des Icherzählers setzt "Muttersprache" ein, der erste literarische Auftritt der neunundzwanzigjährigen Maddalena Fingerle. Eine Italienerin mit einer schwierigen, weil autonomen und überwiegend deutsch geprägten Vaterstadt, Bozen.

Die Südtiroler Kapitale, städtebaulich geteilt in Alt- und faschistische Neustadt plus ausuferndem Gewerbebrei, ist offiziell sogar dreisprachig - Deutsch, Italienisch, Ladinisch. Aber wer ist hier schon wirklich zweisprachig? Noch nicht einmal mit der Aussprache klappt es: Die Südtiroler Dialektsprecher sagen "tue folte", wenn sie "due volte" (zwei Mal) sagen wollen, heißt es im Roman. Es sind die Ungereimtheiten dieses politischen Konstrukts, die Fingerles Buch grundieren. Bozen, sagt sie, hätte man erfinden müssen, wenn es nicht schon existiert hätte. Und ihr Buch hätte nirgendwo sonst spielen können. Obwohl sie schon lange nicht mehr dort lebt. Aber der Reihe nach.

Der deutsche Nachname geht auf einen Münchner Urgroßvater zurück. Maddalena Fingerle, Jahrgang 1993, ist die einzige Tochter zweier gebildeter Eltern. Die Mutter unterrichtet Philosophie und Geschichte an einer Bozner Oberschule, der Vater war Jurist. Die römische Großmutter achtet darauf, dass die Enkelin gepflegtes Italienisch spricht, nicht die Bozner Variante mit den falschen Betonungen und seltsamen Vokalen. Zu Hause stehen viele Bücher, aber kein Fernseher. "Meine Mutter hat den ganzen Tag Radio gehört, Rai 3. Wozu ein Fernseher, dachte ich mir", erzählt die Autorin beim F.A.Z.-Gespräch in München. Die Endzwanzigerin mit den langen dunklen Haaren ist ganz in Schwarz gekleidet, den Espresso nimmt sie dito. Man meint, ihre Gedankenblitze sehen zu können, so lebhaft und zugewandt ist sie und gelegentlich von heiligem Unernst.

Zum Lesen habe man sie nicht ermuntern müssen. "Meine Eltern haben versucht zu verhindern, dass ich bestimmte Bücher in die Hände bekomme. Ich habe mit zehn Jahren den ,Gattopardo' gelesen, das war natürlich viel zu früh", räumt sie heute ein. Nach dem Abitur geht sie nach Deutschland, landet in Augsburg, wo sie drei Viertel dessen, was die bayerisch-schwäbische Gastfamilie spricht, nicht versteht. Das Hochdeutsch, das sie in Bozen gelernt hat, erweist sich als unbrauchbar. Deutsch habe sie mit Thomas Mann geübt und schmerzlich erfahren, dass die Deutschen bei ihren Sätzen kein Ende finden. Um dem "Zauberberg" etwas Zeitgenössisches entgegenzusetzen, habe sie "Sex and the City" auf Deutsch angeschaut.

Sie findet einen deutschen "Tandempartner", man übt wechselseitig die Sprache des anderen. Heute sind die beiden ein Paar, leben im Allgäu, haben gerade ein Haus gebaut, und nun besitzt sie - Fingerle strahlt - ihr erstes wirkliches Bücherregal von einem Schreiner, Heimat für ihre 948 Bücher. Natürlich lebe sie in einer Blase, sagt sie mit entwaffnender Unbekümmertheit. Was soll an Bildung schlecht sein? Und nur weil sie aus Bozen stammt und jetzt im Allgäu lebt, ist sie noch lange keine Bergliebhaberin. Sprachliche Unsicherheiten, die sie sich selbst attestiert, sind kaum zu bemerken. Nach mehr als zehn Jahren in Deutschland spricht Fingerle so gut wie akzentfrei.

In München arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ludwig-Maximilians-Universität im Sonderforschungsbereich "Vigilanzkulturen". Vigilanz, so heißt es in der Selbstbeschreibung, "steht für die Verknüpfung persönlicher Aufmerksamkeit mit überindividuellen Zielen. Dies geschieht alltäglich im Bereich der Sicherheit, des Rechts, des Gesundheitswesens oder auch der Religionen: überall dort, wo wir auf etwas achten, gegebenenfalls auch etwas tun oder melden sollen." Ende letzten Jahres hat Fingerle ihre Promotion mit einer Arbeit über italienische Dichtung der Barockzeit abgeschlossen; sie wird bei De Gruyter erscheinen.

"Das ist mein zweites Buch", sagt sie mit einem Grinsen auf die Frage, wie es denn nach dem Debüt weiterginge? Das erste, Anfang 2021 erschienene "Lingua Madre" hat in Italien gleich fünf Preise abgeräumt. In kongenialer Übersetzung von Maria Elisabeth Brunner erscheint es jetzt im Folio Verlag. Der Roman handelt von den Lehr- und Wanderjahren des Bozners Paolo Prescher, der von Wörtern besessen ist und es nicht erträgt, wenn jemand diese schmutzig macht. Sein Vater ist stumm, er hat jeden Gegenstand in der Wohnung mit einem Zettel beschriftet. Der pubertierende Paolo liebt seinen Vater, seine Mutter - "madre, merda" - hält er für eine "blöde Kuh", die Schwester verachtet er. Weil sie "die Freundin meiner Mutter" spielt, sogar ihr Parfum verwendet, was er für "unmoralisch" hält.

Die Handlung gliedert sich in drei Blöcke: Bozen, Berlin und wieder zurück. Auszug aus der gehassten Provinz, Freiheitsgefühle in der Großstadt, Rückkehr als Mittelloser mit engelsgleicher schwangerer Freundin Mira, einer Mailänderin. In knapp zweihundert Seiten fährt Fingerle mit hohem Erzähltempo durch diese Lebenskurve, die, man ahnt es früh, kein gutes Ende nimmt.

So heilig Paolo die Sprache ist, weil sie so viel klüger ist als die Menschen, die sie sprechen, so verliebt in Sprache ist seine Erfinderin. Läge man daneben, wenn man in der Ahnenreihe ihres Romans einen bekannten österreichischen Wiederholungskünstler ausmachte? "Natürlich habe ich Thomas Bernhard geliebt, aber erst, als ich ihn auf Italienisch gelesen habe. Davor fand ich ihn unsympathisch, vermutlich, weil ich ihn nicht wirklich verstand." Man hat es mit einer Poeta docta zu tun, was sie aber nicht ins Schaufenster stellt. Die zahlreichen literaturgeschichtlichen Anspielungen sind im Original nicht ausgewiesen. Erst die Leser der deutschen Übersetzung erfahren in den Anmerkungen, dass die Figurennamen Anagramme sind. Paolo Prescher steht für "parole sporche" (dreckige Wörter), Mutter Luisa Prescher für "capire Husserl" (Husserl verstehen), Vater Biagio Prescher für "crepai borghesi" (ich bin verreckt, ihr Spießer) und immer so weiter.

Die Anmerkungen geben auch Hinweise auf Zitate, sie stammen von so unterschiedlichen Schriftstellern wie Giacomo Leopardi, Daniel Pennac, Stephen King, Michel Houellebecq, Torquato Tasso und Giambattista Marino. Letzteren, einen hierzulande wenig bekannten Dichter der Barockzeit, nennt Fingerle "meine große Liebe". Sie hat den Neapolitaner, dessen künstlicher Stil "Marinismus" getauft wurde, zusammen mit Tasso zum Gegenstand ihrer Doktorarbeit gemacht. In Italien ist er Schullektüre, "aber mit unendlich langweiligen Stellen. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer kennen ihn nicht wirklich oder haben nicht den Mut, ihn zu behandeln", so Fingerle.

Die Idee zu dem Roman sei ihr bei einem Abendessen mit Freundinnen aus Mailand gekommen. Es wurde hitzig die Frage diskutiert, wie oft man täglich duschen dürfe? Da sei in ihrem Kopf das Bild eines Mannes entstanden, der zwanghaft dusche, weil ihn Wörter schmutzig machten. Dann sei eine junge Stimme dazugekommen, und sie wusste, dass es ein Heranwachsender sein müsse. Der Gymnasiast Paolo habe drei Stimmen, eine kindliche, eine entspannte, eine explosive. Aber natürlich transportiere er eine andere Meinung als die seiner Autorin, sagt Fingerle. Ein italienischer Blogger habe ihr vorgeworfen, sie biete keine Lösung an im Sprachenstreit. Das sei auch gar nicht ihre Aufgabe als Schriftstellerin. Dass sie sich mit dem Buch in Bozen vielleicht nicht nur Freunde machen wird, schreckt sie nicht. "Es gab schon Momente beim Schreiben, in denen ich dachte, es könnte eng werden."

An politischer Korrektheit ist Fingerle nicht interessiert, ihr geht es darum, die von landsmannschaftlicher Tradition und bürgerlicher Konvention errichteten Sprachfassaden einzureißen. "Nigger und Deutscher sind sauberer als Mensch mit dunkler Hautfarbe oder Südtiroler deutscher Muttersprache", ätzt Paolo, so wie er gegen Feminismus und Achtsamkeit wütet und Ökorituale wie die wöchentliche Bio-Gemüselieferung als "eine Art Holzkiste mit biologisch angebauten Abfällen" abkanzelt. Der Bozner Hausberg Ritten, wo Freud den Aufsatz "Die Inzestscheu" schrieb, ist ihm ein "schrecklich hässlicher Ort, wo es nichts zu sehen gibt". Alles in Bozen werde "kontextualisiert".

Und doch entscheiden sich viele Italiener, ohne wirklich Deutschkenntnisse zu haben, bei der "Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung" für die deutsche Sprachgruppe, um bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Der Roman ist deswegen nicht ohne politische Brisanz: Der Sprachenstreit kocht in Südtirol immer wieder einmal hoch. Und Maddalena Fingerle, diese wahrhaft zweisprachige Boznerin, verleiht einer Generation Stimme, die an den gegenwärtigen Arrangements rütteln will.

Wie ihre Zukunft aussehen wird, ob sie sich ganz der Schriftstellerei verschreiben wird, lässt sie im Augenblick entspannt offen: Bücher müsse man nicht unbedingt schreiben, um sie zu veröffentlichen. Sie habe keine Agentur, keinen Vertrag, sie wolle keine Verpflichtungen über ein nächstes Buch eingehen. Erst mal will sie bis 2023 an der Universität arbeiten. Weiterschreiben wird sie, worüber, mag sie nicht verraten. Man wird noch von Maddalena Fingerle hören. HANNES HINTERMEIER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensentin Marielle Kreienborg ist von der deutschen Übersetzung des mitreißenden Debüts "Muttersprache" von Maddalena Fingerle enttäuscht. Die Autorin lässt darin ihren schillernden, unangepassten Protagonisten Paolo Prescher über Sprache, seine Heimat im Südtirol und das Klassische Lyzeum reflektieren und dabei die von ihm benutzten Wörter genaustens betrachten, drehen und verstehen, erklärt die Rezensentin. Die ursprüngliche Dynamik dieses Charakters wirkt im Deutschen Kreienborg zufolge leider nicht, die Übersetzung ist zudem stellenweise nicht stimmig. Und auch die Buchgestaltung und vielen kontextuellen Referenzen erschweren der Rezensentin das Lesen. Man könne den Leserinnen definitiv etwas mehr Eigenständigkeit zutrauen kann, statt sie "wie Unmündige an der Hand zu halten", schließt sie.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2022

Die Mutter heult, der Sohn hadert
Für ihren erstaunlichen Debütroman wurde Maddalena Fingerle schon vor Erscheinen in Italien ausgezeichnet – auch in der deutschen Übersetzung
ist der Furor spürbar, mit dem die Autorin anhand des Themas Sprache mit ihrer Heimatstadt Bozen abrechnet
VON ANTJE WEBER
Kann man an der Sprache irre werden? Natürlich gibt es viele Gründe, an der Welt zu verzweifeln. Doch Paolo Preschers Wohl und Wehe ist eng mit der Sprache verknüpft, und das schon immer: „Seit ich auf der Welt war, heult meine Mutter. Sie heult, weil mein erstes Wort Wort war. Sie heult, weil ich Wort sage und nicht Mama.“
Es sind furiose Sätze, mit denen Maddalena Fingerles Roman „Muttersprache“ (Folio) beginnt. Mutter und Sprache, das ist für ihren Ich-Erzähler Paolo eine ganz, ganz schlechte Kombination. Denn die Mutter beschmutzt in seinen Augen die Sprache, im Gegensatz zum Vater, der völlig verstummt ist: „Sie heult, weil ich zu ihr sage, dass Wort nicht mehr Wort bedeutet, weil sie mir das Wort dreckig gemacht hat. Sie heult, weil ich zu ihr sage, dass ich die dreckigen Wörter hasse, weil sie dreckig sind, und dass sie mir die Wörter dreckig gemacht hat.“
Angesichts dieser Suada muss man doch mal kurz tief durchatmen, und bevor man mehr über diesen wahrlich erstaunlichen Debütroman erzählt, setzt man sich vielleicht erst einmal mit der freundlichen, lebhaften Autorin auf einen Kaffee zusammen. Sie hat das Café Dinatale hinter dem LMU-Hauptgebäude in der Amalienstraße vorgeschlagen, ein stilecht italienisches Café – und für Maddalena Fingerle praktisch gelegen. Denn die 1993 in Bozen geborene Autorin arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich „Vigilanzkulturen“ der Ludwig-Maximilians-Universität. Seit zehn Jahren lebt sie in München beziehungsweise inzwischen im Allgäu, sie hat Germanistik und Italianistik studiert und gerade ihre Promotion abgeschlossen, zum nicht gerade mainstreamigen Thema „Vigilanz und Allegorie bei Torquato Tasso und Giovan Battista Marino“.
Und jetzt muss man sich doch erst einmal erklären lassen, was es damit auf sich hat, um sich langsam dem Kosmos, den Vorlieben, ja, Obsessionen dieser 29 Jahre jungen Autorin zu nähern und damit allmählich auch wieder ihrem Roman, der vor zwei Jahren in Italien schon vor Erscheinen kometenhaft in den Himmel des Erfolgs aufstieg, ohne dort bisher zu verglühen: Fingerle gewann für das Manuskript den Italo-Calvino-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt, sie erhielt nach dem Erscheinen drei weitere Auszeichnungen, und ein Ende des Preissegens ist noch nicht abzusehen. „Wahnsinn“, sagt sie dazu und lacht.
Und das alles nur oder vor allem, weil Maddalena Fingerle – der Nachname stammt von einem Münchner Urgroßvater – von Sprache fasziniert ist, von frühester Kindheit an. Und sicher nicht zufällig wissenschaftlich beim Thema Vigilanz gelandet ist, dessen Bedeutung sie so erklärt: „Aufmerksam sein. Wachsam agieren.“ Wie eben die Dichter Torquato Tasso und Giovan Battista Marino, die in schwierigen Zeiten poetische Strategien entwickeln mussten, um die Zensur zu umgehen. Wobei der Barockdichter Marino dennoch sehr provokant gewesen sei, sagt Fingerle. Ihn liebt sie besonders, weil er „mit Sprache spielt“, meisterhaft moduliert, was sie als stark auditiv geprägter Mensch besonders zu schätzen weiß.
Außerdem liebt sie den Klang von Dialekten, das sollte man vielleicht auch noch schnell hinzufügen. Das Bairische oder Fränkische zum Beispiel – „wunderschön“! Oder das Wienerische und das Toskanische, das für sie viel gemeinsam hat, nämlich dieses „unterschwellige Gefühl, veräppelt zu werden“. Der deutsche Südtiroler Dialekt steht auf ihrer Beliebtheitsskala nicht ganz so weit oben, doch das hänge sicher auch damit zusammen, dass sie den als italienischsprachige Boznerin lange nicht verstanden und sich ausgeschlossen gefühlt habe, sagt Fingerle. Geblieben ist ihr der Neid auf Menschen, die Dialekt sprechen und somit auch sprachlich zwischen Arbeit und Privatleben unterscheiden können: „Das hätte ich supergern gehabt!“, sagt sie in einem akzentfreien Deutsch, das sie trotz Schulunterricht erst in Deutschland richtig gelernt hat. Sie ist übrigens, nebenbei, mit ihrem einstigen Tandempartner zum Sprach-Lernen inzwischen verheiratet.
Nicht jeder, der die Schönheit und den Klang von Sprachen liebt, schreibt allerdings gleich ein Buch. Maddalena Fingerle wurde dazu durch eine Diskussion mit Freunden inspiriert – sie stritten tatsächlich darüber, wie oft ein Mensch duschen soll oder darf. Fingerle beschloss, einen Roman über einen jungen Mann zu schreiben, der zwanghaft duscht und auch gegenüber der Sprache eine Besessenheit empfindet, die viel von einer Zwangsstörung hat, was der Roman jedoch nur implizit nahelegt. Sie recherchierte und strukturierte ihr Buch „minutiös“, wie sie sagt. Um es dann doch in zwei Monaten in einem Rutsch hinunterzuschreiben, „in der Badewanne“. Der Furor, den Maddalena Fingerle dabei entwickelte, ist spürbar: Da musste wohl etwas raus.
Denn wenn ihr Ich-Erzähler Paolo, der natürlich nicht mit der Autorin gleichzusetzen ist, mit einer schmutzigen Sprache hadert, schwingt da selbstredend noch sehr viel mehr mit; nicht nur die Sprachspielerei und -skepsis einer an viel Weltliteratur geschulten Autorin, die Stephen King genauso zitiert wie Giacomao Leopardi, Daniel Pennac wie Giorgio de Chirico, und in den Namen gern Anagramme versteckt – auch in „Madre“ steckt ja „Merda“, was an dieser Stelle unübersetzt bleiben soll. Am meisten hasst der Ich-Erzähler Paolo an der Mutter jedenfalls die Heuchelei, die sich für ihn mit einem unsauberen, uneindeutigen Gebrauch der Sprache verbindet. Dass er dabei politisch unkorrekte Sprache bevorzugt, teilt Fingerle nicht. Näher liegt ihr wohl sein Bozen-Bashing, bei dem ihr Paolo mitunter Thomas Bernhardsche Wut und Wucht entwickelt.
„Die Stadt kotzt mich an“, ätzt Paolo über Bozen. Er kritisiert die Engstirnigkeit der Bozner, die sich „nur für ihre Wurzeln und ihre eigene Region“ interessieren und immer so tun, als seien sie zweisprachig oder mit dem Ladinischen sogar dreisprachig, was jedoch in der Realität gar nicht stimme. Ja, die verschiedenen Gruppen lebten wirklich getrennt, sagt Fingerle, „das ist nicht nur Fiktion“. Da schwingt natürlich die komplexe Vergangenheit Südtirols mit; so mussten sich, zum Beispiel, die Bewohner 1939 bei der sogenannten „Option“ entscheiden, ob sie die italienische oder deutsche Staatsbürgerschaft annehmen wollten – und in letzterem Fall ins damalige Deutsche Reich auswandern. Was das für den Einzelnen bedeutete, hat übrigens vor kurzem eine weitere Münchner Autorin, Verena Nolte, in der opulenten Biografie „Der Milchkrug“ (Folio) anhand des Schicksals einer deutschsprachigen Südtirolerin ebenfalls minutiös recherchiert und eindrucksvoll aufgeschrieben.
Dass in der inzwischen autonomen Provinz Südtirol immer noch bürokratische Absurditäten zum Alltag gehören, lässt auch Fingerles Roman süffisant anklingen: Jeder Bürger muss bis heute eine sogenannte Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung abgeben und sich einer Sprachgruppe zuordnen. Wer dies nicht tut, kann sich zum Beispiel nicht auf öffentliche Stellen bewerben. Maddalena Fingerle hat diese Sprach- und Identitätsfestlegung wie ihre Figur verweigert und ist nach dem Abitur aus Bozen weggegangen, das ihr ohnehin die Luft zum Atmen nahm – die „Offenheit“ des Meeres liebt sie mehr als die Berge, auch darin ihrem Protagonisten Paolo ähnlich.
Der allerdings wandert nicht nach München aus, sondern nach Berlin. Dort erscheint seine Sprach-Besessenheit zeitweilig in milderem Licht, Paolo verliebt sich in eine Frau, die seine Absonderlichkeiten akzeptiert. Kann es allerdings gutgehen, als er mit ihr nach Bozen zurückkehrt, in die ungeliebte Stadt, zur verhassten Mutter? Muss so einer wie dieser Paolo nicht irre werden an all den ungelösten (Sprach-)Problemen? Wäre Maddalena Fingerle nicht seine Erfinderin, sondern eine gute Freundin, würde sie ihm vielleicht raten: aufmerksam bleiben, wachsam agieren.
Maddalena Fingerle: Muttersprache (Aus dem Italienischen von Maria Elisabeth Brunner. Folio, 19 2 Seiten, 22 Euro). Lesung Maddalena Fingerle: Italienisches Literaturfestival, Sonntag, 3. Juli, 16.30 Uhr, Pasinger Fabrik, August-Exter-Str.1, www.ilfest.de. Lesung Verena Nolte: Freitag, 3. Juni, 18 Uhr, St. Hildegard Pasing, Paosostr. 25, Anmeldung: Telefon 831072 oder corleis_wittner@gmx.net
Beim Bozen-Bashing entwickelt
der Ich-Erzähler mitunter
Thomas Bernhardsche Wucht
Maddalena Fingerle, in Bozen geboren, lebt heute im Allgäu und arbeitet an der LMU München.
Foto: Julia Mayer
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