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Der Mythos der Gottesmutter hat in der Musikgeschichte tiefe Spuren hinterlassen: Hermann Kurzke und Christiane Schäfer analysieren berühmte geistliche Marienlieder - aber warum tun sie das so polemisch?
Sie wurde geliebt, verehrt, um Schutz und Hilfe angefleht. Maria, die heilige Jungfrau und Muttergottes, ist ein bemerkenswertes Phänomen des Christentums, dabei nicht ganz unproblematisch für die Theologie. Die Autoren des vorliegenden Buches schreiben: "Maria gehört zum mythischen Personal des katholischen Glaubens." Damit deuten sie schon an, dass sie sich mehr mit ausschmückenden Bildern und Sehnsuchtsprojektionen befassen als mit Bibelauslegung - Maria als "Mythos" ist eben viel größer als die Maria der Evangelien.
Sie wurde auch immer wieder besungen. Monteverdis großes Chorwerk "Marienvesper" von 1610 stellt ein bedeutsames Ereignis der Musikgeschichte dar. Die Reihe der Vertonungen von "Stabat mater dolorosa" scheint nicht abzureißen; der Schmerz Marias beim Sterben Jesu beschäftigte Komponisten von Palestrina bis Pergolesi, von Schubert bis Rihm. Daneben existieren viele Arten schlichteren musikalischen Ausdrucks, auch Kitsch ist nicht fern. Das "Ave Maria", das Charles Gounod im neunzehnten Jahrhundert improvisationshalber auf ein Präludium von Bach aufsattelte, wäre wohl nicht so populär geworden, hätte es nicht als Adressatin Maria.
Und dann gibt es noch die Marienlieder, bei Andachten oder Wallfahrten gesungen. Nur von ihnen, und auch nur von deutschsprachigen, handelt das Buch "Mythos Maria". Hermann Kurzke und Christiane Schäfer haben zwölf Lieder ausgewählt, die sie auf ihre Entstehungsgeschichte, ihren Gehalt und ihre Wirkung hin untersuchen. Mit dem auch evangelischen Christen vertrauten "Maria durch ein Dornwald ging" beginnen sie.
Der katholische Freiherr, Nationalökonom und "Hobbyhymnologe" August von Haxthausen publizierte es 1850 in dem Buch "Geistliche Volkslieder mit ihren ursprünglichen Weisen gesammelt aus mündlicher Tradition und seltenen Gesangbüchern", ein Projekt, bei dem auch die Brüder Grimm und Annette von Droste-Hülshoff mithalfen. Die vermeintliche Altertümlichkeit des Liedes schreiben Kurzke und Schäfer dem gewollten Ausdruck einer romantischen Ästhetik zu: "Aus vorgefundenen Elementen aus dem Eichsfeld wurde ein raffiniert-naives Kunstlied gemacht." Es könnte ein Wallfahrts- oder Ansingelied gewesen sein, bei dem ein Vorsänger die Strophen übernahm, die anderen Pilger die Kehrverse "Kyrie eleison" und "Jesus und Maria".
Die Überlieferung der Lieder ist lückenhaft, das vermittelt sich beim Lesen nur zu gut, wenn man den Autoren auf den Spuren verschiedener regionaler Gesang- und Gebetbücher durch sechs Jahrhunderte folgt. Bei Melodien ist es oft noch schwieriger, sie sind "erinnerungsstabiler" und wurden deshalb seltener notiert. Vielversprechend scheint zunächst der Ansatz, von der musikalischen Machart auf die Entstehungszeit zu schließen. Aber was genau Ton- und Taktarten aussagen können, ob es Tendenzen, vielleicht auch in Verbindung mit inhaltlichen Topoi (Wiegenlied, Schmerzenslied, Freudenlied und so weiter) gibt, darüber geben die Autoren keine Auskunft.
Das böhmische "Ave Maria zart, / du edler Rosengart" von 1675 ist ein schönes Beispiel barocker Lyrik; das singende Ich identifiziert sich mit dem Engel der Verkündigung: "Ich grüße dich zur Stund / mit Gabrielis Mund / Ave die du bist voller Gnaden." In der Überlieferung erfährt das Lied einschneidende Textbearbeitungen: Aus dem Vers "Jesum das liebe Kind" wurde das abstraktere "den Heiland Jesus Christ", aus "Evae Apfel-Biß" wird "Sündenfall", von den Autoren als "Theologenslang" gegeißelt. Der im heutigen katholischen Kirchengesangbuch "Gotteslob" abgedruckte Text ist jedenfalls sprachlich geglättet.
Zu Recht weisen sie auf den daktylischen Charakter der Verse hin, ein Ergebnis vor allem der soghaften musikalischen Faktur mit ihren Punktierungen. Doch auch hier ist die musikalische Analyse nicht verlässlich, denn statt zu Taktwechseln, wie behauptet, kommt es nur zu Betonungsverschiebungen, wie sie auch die barocke Tanzmusik kennt. Das wirkt sich freilich unmittelbar auf den gesungenen Text aus, und möglicherweise erklären sich die Bearbeitungsversuche auch aus der Spannung zwischen textlichem und musikalischem Rhythmus.
"Diese Lieder wurden gebraucht" oder "Maria hilft aushalten" heißt es überraschend persönlich im Nachwort. Woher kommt dann das Unbehagen der Autoren gegenüber den Glaubensaussagen, die in den Marienliedern, wie unbeholfen auch immer, stecken? In den Liedanalysen greifen sie immer wieder zu Polemik. Leiden sie unter einer schwärmerischen, dichterisch anspruchslosen Marienverehrung? In dem Lied "Die Schönste von allen" singen die Verse: "an ihrer Gestalt all Schönheit beisammen, Gott selbst wohlgefallt", und Kurzke und Schäfer spotten: "Auch Gott kann sich verlieben, warum nicht?"
Abgesehen davon, dass der Topos der Schönheit in der Marienverehrung durch die Jahrhunderte hindurch eine große Rolle spielte, fragt man sich, warum sie sich über das Lied lustig machen oder über Gottes Wohlgefallen an dieser Frau. Wenn "wohl gefallen" etwas mit "Wohlgefallen" zu tun hat, so greift die Liedzeile einen grundlegenden Gedanken der Geschichte vom Umgang Gottes mit den Menschen auf, der sich vom Alten Testament über die Evangelien bis hinein in die kirchliche Liturgie zieht.
Selbstverständlich kann man gegen jede irreführende oder dem Kitsch frönende Marienverehrung anschreiben. Aber man sollte als Autor sein eigenes Unbehagen klar vor Augen haben und formulieren. Diese Ernsthaftigkeit haben auch die Leser verdient und alle, die etwas erfahren wollen über die Kultur und Mythen der Religion.
ANJA-ROSA THÖMING.
Hermann Kurzke und Christiane Schäfer: "Mythos Maria". Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte. Verlag C. H. Beck, München 2014. 303 S., 108 Abb., geb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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