Was Perikles und Obama wirklich eint - eine andere Geschichte der Rhetorik Menschliches Miteinander braucht Reden. In der Antike entstanden die ersten großen Vorbilder, begleitet von immer neuen Anleitungen, den Rhetoriken. Doch behandeln diese nicht die Redner selbst und ihre Reden, sondern bloß deren Theorie. Der bekannte Germanist und Sprachwissenschaflter Karl-Heinz Göttert geht dieser Redevergessenheit der Rhetorik nach, widmet sich der rednerischen Praxis und behandelt die europäische Tradition als Konstrukt mit eigenen Konturen, die auch anders denkbar sind. Er belegt dies, indem er die Geschichte der Rhetorik auf eine neue und ungewöhnliche Weise erzählt: Redner und Reden fernster Zeiten werden in überraschenden Paarungen nebeneinandergestellt. So gelingt ihm eine glänzende, anschauliche und lebensnahe Darstellung, in der sich ganz nebenbei die vielbeschworene »Macht der Rede« als kaum durchschauter Mythos entlarvt.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Karl-Heinz Göttert, Germanistikprofessor in Köln, erzählt in seinem Buch die Geschichte der Rhetorik und ihrer Wirkungsmacht entlang an Beispielen von Zweier-Gruppen, die jeweils einen Vergleich untereinander ermöglichen: so steht zum Beispiel Perikles' Gefallenenrede neben Richard von Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985. Neben typologischen Analysen unternimmt der Autor Exkurse in Redeformen, Redeorte, die Predigt und Platos Kritik der Rhetorik. Sehr anregend findet dies der hier rezensierende Bielefelder Historiker Uwe Walter. Dies und das hätte man anders machen oder vertiefen können, doch nehmen solche Überlegungen dem Buch nichts von seiner Belesenheit und dem Kenntnisreichtum, versichert Walter. Er empfiehlt außerdem, sich die vorgestellten Reden wo möglich, auf Youtube anzuhören.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.03.2015Gold im Mund
Hier trifft Gorgias auf Martin Luther King, Cicero auf Joschka Fischer und Obama auf einen
Bischof von Konstantinopel: Karl-Heinz Göttert erzählt seine Geschichte der Rhetorik
VON JOHAN SCHLOEMANN
Reden kann fast jeder, Reden halten nicht. Eine Rede setzt eine bestimmte, formelle Situation voraus: Ein Mann oder eine Frau spricht, in jedem Fall länger als ein paar Minuten, und eine Gruppe hört zu, in jedem Fall mehr als ein paar Leute. Zwar kann man immer auch ein bisschen Rhetorik in der Konversation und in der Talkshow entdecken; oder umgekehrt ein bisschen Dialog in der Rede vor Publikum. Das ändert aber nichts an den Grundeigenschaften des Arrangements, mit dem sich die Rhetorik beschäftigt: Es ist ein längerer Monolog, live und mündlich vorgetragen – ob die Rede nun schriftlich ausgearbeitet wurde oder nicht; und damit die Leute nicht einschlafen oder wegrennen, damit die Rede vielleicht sogar richtig zündet, müssen Kunst und Lebendigkeit, Argumentation und Emotion in der gerade passenden Mischung zusammenkommen. Wobei man oft vorher gar nicht genau weiß, was passen wird.
Nun könnte man meinen, dass die mediale Zerschnipselung dazu führe, dass man solche Situationen eigentlich überhaupt nicht mehr oder kaum noch erlebt. Wann haben Sie denn, sehr geehrte Leserinnen und Leser, meine Damen und Herren, das letzte Mal eine Politikerrede in ganzer Länge angehört? Oder ersatzhalber eine durchgelesen? Die Geduld reicht für Twitter und Soundbites, für ein paar Zitate und Ausschnitte; und der Bundestag beerdigt soeben auf klägliche Weise die Idee, eine lebendige und interessante parlamentarische Fragestunde einzuführen. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel – manche haben das schon erlebt, manche erzählen davon – ist eigentlich ziemlich schlagfertig. Nur bitte dann nicht, wenn es um ihr Kerngeschäft geht, nämlich ihre nebulöse Politik zu erklären.
Diese Lage sollte aber nicht dazu verleiten, die Rhetorik abzuschreiben oder als rein historischen Stoff wahrzunehmen. Sie ist trotzdem heute noch sehr wirksam, auch in den Schwundformen; sie hat ihre Momente, wenn es mal wichtig, dramatisch, „historisch“ wird; auf das Archiv dieser Momente bezieht sich nach wie vor die politische Kommunikation. Außerdem gibt es ja immer noch einige formellere Anlässe – Staatstrauer um Richard von Weizsäcker, Neujahrsansprachen, Grußworte und Wahlkampfduelle. Und was die glorreichen Zeiten der Rhetorik angeht, so sollte man sich auch nicht vorstellen, es hätten früher immer ganze Völker stundenlang andächtig gelauscht; auch vor der Erfindung der audiovisuellen Medien und des Internets gab es abseits vom real präsenten Publikum immer schon viel mediale Vermittlung und Verkürzung.
Der emeritierte Kölner Germanist Karl-Heinz Göttert, der vor einigen Jahren eine „Geschichte der Stimme“ geschrieben hat, sieht die klassische Rhetorik durch die gegenwärtige Kurzatmigkeit von Politik und Medien zwar durchaus bedrängt, hat aber doch einen optimistischen Ausgangspunkt: Es lohnt sich für alle Beobachter und Teilnehmer heutiger Debatten, sich mit der Geschichte der Beredsamkeit zu befassen. Seine „andere Geschichte der Rhetorik“ beginnt damit, dass er, wie so viele, von den Auftritten Barack Obamas im amerikanischen Vorwahl- und Wahlkampf fasziniert war: „Es gab sie also noch, die große Rede.“ Und auch wenn sich die Heilserwartung an Obama und damit auch das gebannte Verfolgen seiner Reden inzwischen erledigt hat – den amerikanischen Präsidenten hat in seinem unregierbaren Land längst das Wort-und-Tat-Problem ereilt, das aller großen politischen Rhetorik zur Gefahr werden kann –, so hat der Obama-Impuls doch ein interessantes Buch hervorgebracht, dessen Reiz in originellen Paarungen historischer und jüngerer Redner besteht.
„Anders“ nennt Karl-Heinz Göttert seine Darstellung, weil er nicht die Geschichte der rhetorischen Lehrbücher und Theorien beschreiben will, nicht die trockene Textwissenschaft, zu der die Rhetorik in den Philologien immer wieder ausgedörrt wurde, sondern „die Redner und ihre Reden selbst“. Das ist zwar auch kein ganz neuer Zugang – und die Rhetorik als Lehre, als Expertenwissen changierte selbst immer schon zwischen technischen Regeln und dem Einsatz von exemplarischen Reden –, aber frisch, anschaulich und unterhaltsam wird Götterts Buch durch seine Gegenüberstellungen in plutarchischem Geist. In diesen Parallelkapiteln begegnen sich zum Beispiel: Perikles und Richard von Weizsäcker (Gefallenenrede), Cicero und Joschka Fischer (Philippiken gegen Marcus Antonius respektive Slobodan Milošević), Demosthenes und Charles de Gaulle (Aufruf zum gerechten Krieg), Augustinus und Bismarck (schlichter Stil), Gorgias und Martin Luther King („argumentativer Punch“ durch „klanglichen Rausch“).
Leitendes Thema in Götterts Buch ist „der Zusammenhang von Inhalt und Form (. . .), ohne den Wirkung nach europäischen Vorstellungen nicht zustande kommt“. Die Überzeugung, ja die Überwältigung des Publikums kommt in der abendländischen Rhetorik durch allerlei sprachliche und logische Kunstmittel und Tricks zustande, denen aber trotzdem eine quasi-natürliche Kraft zugeschrieben wird – besonders gerne dann, wenn der Redner auf der richtigen Seite der Geschichte gesehen wird. Ob es sich dabei um einen bis heute wirksamen „Mythos Redemacht“ handelt, wie Göttert meint, sei dahingestellt; der Glaube an die Natürlichkeit und Moralität des raffinierten, aber ehrenwerten Redners erscheint doch längst vielfach gebrochen. Die argumentative Redekunst dieses Buches läuft dann letztlich auf nicht viel mehr hinaus als auf die alte Erkenntnis, dass die Rhetorik zum Guten wie zum Schlechten eingesetzt werden kann.
Das macht aber nichts, denn der Leser wird reichlich dadurch entschädigt, dass Karl-Heinz Göttert ein guter, zwar akademischer, aber eben doch auch ein rheinischer Geschichtenerzähler ist. Man kann da viel lernen, und immer bleibt es kurzweilig. Der historische Fundus, der Göttert zu Gebote steht, lässt ihn überzeugend gegen das spätestens seit Tacitus verbreitete Vorurteil angehen, dass die Redekunst nur in freien Republiken erblühen könne. Zwar stimmt umgekehrt, dass die freie Rede in Demokratien florieren muss – aber ein verengter Blick blendet gerne die höfische und die juristische Beredsamkeit ebenso aus wie die kontinuierliche Tradition der christlichen Predigt. Und so gehören hier nicht nur Cicero und Churchill zur Geschichte der Rhetorik, sondern ebenso auch die Bettelorden des Mittelalters – und Barack Obama bekommt Johannes Chrysosthomus („Goldmund“) zum Kapitelpartner, den Bischof von Konstantinopel aus der Spätantike, der als Prediger an den Apostel Paulus anknüpfte.
Karl-Heinz Göttert: Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 510 Seiten, 24,99 Euro, E-Book 21,99 Euro.
Mit Tricks und Kunstmitteln auf
natürlich wirkende Art zu
überwältigen – das ist das Ziel
Überzeugen durch Reden hat immer auch „seine klanglich-stilistische Seite“, schreibt Karl-Heinz Göttert über die Rhetorik von Martin Luther King (hier 1967).
Foto: laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Hier trifft Gorgias auf Martin Luther King, Cicero auf Joschka Fischer und Obama auf einen
Bischof von Konstantinopel: Karl-Heinz Göttert erzählt seine Geschichte der Rhetorik
VON JOHAN SCHLOEMANN
Reden kann fast jeder, Reden halten nicht. Eine Rede setzt eine bestimmte, formelle Situation voraus: Ein Mann oder eine Frau spricht, in jedem Fall länger als ein paar Minuten, und eine Gruppe hört zu, in jedem Fall mehr als ein paar Leute. Zwar kann man immer auch ein bisschen Rhetorik in der Konversation und in der Talkshow entdecken; oder umgekehrt ein bisschen Dialog in der Rede vor Publikum. Das ändert aber nichts an den Grundeigenschaften des Arrangements, mit dem sich die Rhetorik beschäftigt: Es ist ein längerer Monolog, live und mündlich vorgetragen – ob die Rede nun schriftlich ausgearbeitet wurde oder nicht; und damit die Leute nicht einschlafen oder wegrennen, damit die Rede vielleicht sogar richtig zündet, müssen Kunst und Lebendigkeit, Argumentation und Emotion in der gerade passenden Mischung zusammenkommen. Wobei man oft vorher gar nicht genau weiß, was passen wird.
Nun könnte man meinen, dass die mediale Zerschnipselung dazu führe, dass man solche Situationen eigentlich überhaupt nicht mehr oder kaum noch erlebt. Wann haben Sie denn, sehr geehrte Leserinnen und Leser, meine Damen und Herren, das letzte Mal eine Politikerrede in ganzer Länge angehört? Oder ersatzhalber eine durchgelesen? Die Geduld reicht für Twitter und Soundbites, für ein paar Zitate und Ausschnitte; und der Bundestag beerdigt soeben auf klägliche Weise die Idee, eine lebendige und interessante parlamentarische Fragestunde einzuführen. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel – manche haben das schon erlebt, manche erzählen davon – ist eigentlich ziemlich schlagfertig. Nur bitte dann nicht, wenn es um ihr Kerngeschäft geht, nämlich ihre nebulöse Politik zu erklären.
Diese Lage sollte aber nicht dazu verleiten, die Rhetorik abzuschreiben oder als rein historischen Stoff wahrzunehmen. Sie ist trotzdem heute noch sehr wirksam, auch in den Schwundformen; sie hat ihre Momente, wenn es mal wichtig, dramatisch, „historisch“ wird; auf das Archiv dieser Momente bezieht sich nach wie vor die politische Kommunikation. Außerdem gibt es ja immer noch einige formellere Anlässe – Staatstrauer um Richard von Weizsäcker, Neujahrsansprachen, Grußworte und Wahlkampfduelle. Und was die glorreichen Zeiten der Rhetorik angeht, so sollte man sich auch nicht vorstellen, es hätten früher immer ganze Völker stundenlang andächtig gelauscht; auch vor der Erfindung der audiovisuellen Medien und des Internets gab es abseits vom real präsenten Publikum immer schon viel mediale Vermittlung und Verkürzung.
Der emeritierte Kölner Germanist Karl-Heinz Göttert, der vor einigen Jahren eine „Geschichte der Stimme“ geschrieben hat, sieht die klassische Rhetorik durch die gegenwärtige Kurzatmigkeit von Politik und Medien zwar durchaus bedrängt, hat aber doch einen optimistischen Ausgangspunkt: Es lohnt sich für alle Beobachter und Teilnehmer heutiger Debatten, sich mit der Geschichte der Beredsamkeit zu befassen. Seine „andere Geschichte der Rhetorik“ beginnt damit, dass er, wie so viele, von den Auftritten Barack Obamas im amerikanischen Vorwahl- und Wahlkampf fasziniert war: „Es gab sie also noch, die große Rede.“ Und auch wenn sich die Heilserwartung an Obama und damit auch das gebannte Verfolgen seiner Reden inzwischen erledigt hat – den amerikanischen Präsidenten hat in seinem unregierbaren Land längst das Wort-und-Tat-Problem ereilt, das aller großen politischen Rhetorik zur Gefahr werden kann –, so hat der Obama-Impuls doch ein interessantes Buch hervorgebracht, dessen Reiz in originellen Paarungen historischer und jüngerer Redner besteht.
„Anders“ nennt Karl-Heinz Göttert seine Darstellung, weil er nicht die Geschichte der rhetorischen Lehrbücher und Theorien beschreiben will, nicht die trockene Textwissenschaft, zu der die Rhetorik in den Philologien immer wieder ausgedörrt wurde, sondern „die Redner und ihre Reden selbst“. Das ist zwar auch kein ganz neuer Zugang – und die Rhetorik als Lehre, als Expertenwissen changierte selbst immer schon zwischen technischen Regeln und dem Einsatz von exemplarischen Reden –, aber frisch, anschaulich und unterhaltsam wird Götterts Buch durch seine Gegenüberstellungen in plutarchischem Geist. In diesen Parallelkapiteln begegnen sich zum Beispiel: Perikles und Richard von Weizsäcker (Gefallenenrede), Cicero und Joschka Fischer (Philippiken gegen Marcus Antonius respektive Slobodan Milošević), Demosthenes und Charles de Gaulle (Aufruf zum gerechten Krieg), Augustinus und Bismarck (schlichter Stil), Gorgias und Martin Luther King („argumentativer Punch“ durch „klanglichen Rausch“).
Leitendes Thema in Götterts Buch ist „der Zusammenhang von Inhalt und Form (. . .), ohne den Wirkung nach europäischen Vorstellungen nicht zustande kommt“. Die Überzeugung, ja die Überwältigung des Publikums kommt in der abendländischen Rhetorik durch allerlei sprachliche und logische Kunstmittel und Tricks zustande, denen aber trotzdem eine quasi-natürliche Kraft zugeschrieben wird – besonders gerne dann, wenn der Redner auf der richtigen Seite der Geschichte gesehen wird. Ob es sich dabei um einen bis heute wirksamen „Mythos Redemacht“ handelt, wie Göttert meint, sei dahingestellt; der Glaube an die Natürlichkeit und Moralität des raffinierten, aber ehrenwerten Redners erscheint doch längst vielfach gebrochen. Die argumentative Redekunst dieses Buches läuft dann letztlich auf nicht viel mehr hinaus als auf die alte Erkenntnis, dass die Rhetorik zum Guten wie zum Schlechten eingesetzt werden kann.
Das macht aber nichts, denn der Leser wird reichlich dadurch entschädigt, dass Karl-Heinz Göttert ein guter, zwar akademischer, aber eben doch auch ein rheinischer Geschichtenerzähler ist. Man kann da viel lernen, und immer bleibt es kurzweilig. Der historische Fundus, der Göttert zu Gebote steht, lässt ihn überzeugend gegen das spätestens seit Tacitus verbreitete Vorurteil angehen, dass die Redekunst nur in freien Republiken erblühen könne. Zwar stimmt umgekehrt, dass die freie Rede in Demokratien florieren muss – aber ein verengter Blick blendet gerne die höfische und die juristische Beredsamkeit ebenso aus wie die kontinuierliche Tradition der christlichen Predigt. Und so gehören hier nicht nur Cicero und Churchill zur Geschichte der Rhetorik, sondern ebenso auch die Bettelorden des Mittelalters – und Barack Obama bekommt Johannes Chrysosthomus („Goldmund“) zum Kapitelpartner, den Bischof von Konstantinopel aus der Spätantike, der als Prediger an den Apostel Paulus anknüpfte.
Karl-Heinz Göttert: Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 510 Seiten, 24,99 Euro, E-Book 21,99 Euro.
Mit Tricks und Kunstmitteln auf
natürlich wirkende Art zu
überwältigen – das ist das Ziel
Überzeugen durch Reden hat immer auch „seine klanglich-stilistische Seite“, schreibt Karl-Heinz Göttert über die Rhetorik von Martin Luther King (hier 1967).
Foto: laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Götterts Buch ist eine Art Reiseführer durch die überlieferten Redetexte, und man kann sagen, dass diese Reise durch zweieinhalb Jahrtausende Redekunst nie langweilig wird. Marius Meller Der Tagesspiegel 20150717
Gold im Mund
Hier trifft Gorgias auf Martin Luther King, Cicero auf Joschka Fischer und Obama auf einen
Bischof von Konstantinopel: Karl-Heinz Göttert erzählt seine Geschichte der Rhetorik
VON JOHAN SCHLOEMANN
Reden kann fast jeder, Reden halten nicht. Eine Rede setzt eine bestimmte, formelle Situation voraus: Ein Mann oder eine Frau spricht, in jedem Fall länger als ein paar Minuten, und eine Gruppe hört zu, in jedem Fall mehr als ein paar Leute. Zwar kann man immer auch ein bisschen Rhetorik in der Konversation und in der Talkshow entdecken; oder umgekehrt ein bisschen Dialog in der Rede vor Publikum. Das ändert aber nichts an den Grundeigenschaften des Arrangements, mit dem sich die Rhetorik beschäftigt: Es ist ein längerer Monolog, live und mündlich vorgetragen – ob die Rede nun schriftlich ausgearbeitet wurde oder nicht; und damit die Leute nicht einschlafen oder wegrennen, damit die Rede vielleicht sogar richtig zündet, müssen Kunst und Lebendigkeit, Argumentation und Emotion in der gerade passenden Mischung zusammenkommen. Wobei man oft vorher gar nicht genau weiß, was passen wird.
Nun könnte man meinen, dass die mediale Zerschnipselung dazu führe, dass man solche Situationen eigentlich überhaupt nicht mehr oder kaum noch erlebt. Wann haben Sie denn, sehr geehrte Leserinnen und Leser, meine Damen und Herren, das letzte Mal eine Politikerrede in ganzer Länge angehört? Oder ersatzhalber eine durchgelesen? Die Geduld reicht für Twitter und Soundbites, für ein paar Zitate und Ausschnitte; und der Bundestag beerdigt soeben auf klägliche Weise die Idee, eine lebendige und interessante parlamentarische Fragestunde einzuführen. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel – manche haben das schon erlebt, manche erzählen davon – ist eigentlich ziemlich schlagfertig. Nur bitte dann nicht, wenn es um ihr Kerngeschäft geht, nämlich ihre nebulöse Politik zu erklären.
Diese Lage sollte aber nicht dazu verleiten, die Rhetorik abzuschreiben oder als rein historischen Stoff wahrzunehmen. Sie ist trotzdem heute noch sehr wirksam, auch in den Schwundformen; sie hat ihre Momente, wenn es mal wichtig, dramatisch, „historisch“ wird; auf das Archiv dieser Momente bezieht sich nach wie vor die politische Kommunikation. Außerdem gibt es ja immer noch einige formellere Anlässe – Staatstrauer um Richard von Weizsäcker, Neujahrsansprachen, Grußworte und Wahlkampfduelle. Und was die glorreichen Zeiten der Rhetorik angeht, so sollte man sich auch nicht vorstellen, es hätten früher immer ganze Völker stundenlang andächtig gelauscht; auch vor der Erfindung der audiovisuellen Medien und des Internets gab es abseits vom real präsenten Publikum immer schon viel mediale Vermittlung und Verkürzung.
Der emeritierte Kölner Germanist Karl-Heinz Göttert, der vor einigen Jahren eine „Geschichte der Stimme“ geschrieben hat, sieht die klassische Rhetorik durch die gegenwärtige Kurzatmigkeit von Politik und Medien zwar durchaus bedrängt, hat aber doch einen optimistischen Ausgangspunkt: Es lohnt sich für alle Beobachter und Teilnehmer heutiger Debatten, sich mit der Geschichte der Beredsamkeit zu befassen. Seine „andere Geschichte der Rhetorik“ beginnt damit, dass er, wie so viele, von den Auftritten Barack Obamas im amerikanischen Vorwahl- und Wahlkampf fasziniert war: „Es gab sie also noch, die große Rede.“ Und auch wenn sich die Heilserwartung an Obama und damit auch das gebannte Verfolgen seiner Reden inzwischen erledigt hat – den amerikanischen Präsidenten hat in seinem unregierbaren Land längst das Wort-und-Tat-Problem ereilt, das aller großen politischen Rhetorik zur Gefahr werden kann –, so hat der Obama-Impuls doch ein interessantes Buch hervorgebracht, dessen Reiz in originellen Paarungen historischer und jüngerer Redner besteht.
„Anders“ nennt Karl-Heinz Göttert seine Darstellung, weil er nicht die Geschichte der rhetorischen Lehrbücher und Theorien beschreiben will, nicht die trockene Textwissenschaft, zu der die Rhetorik in den Philologien immer wieder ausgedörrt wurde, sondern „die Redner und ihre Reden selbst“. Das ist zwar auch kein ganz neuer Zugang – und die Rhetorik als Lehre, als Expertenwissen changierte selbst immer schon zwischen technischen Regeln und dem Einsatz von exemplarischen Reden –, aber frisch, anschaulich und unterhaltsam wird Götterts Buch durch seine Gegenüberstellungen in plutarchischem Geist. In diesen Parallelkapiteln begegnen sich zum Beispiel: Perikles und Richard von Weizsäcker (Gefallenenrede), Cicero und Joschka Fischer (Philippiken gegen Marcus Antonius respektive Slobodan Milošević), Demosthenes und Charles de Gaulle (Aufruf zum gerechten Krieg), Augustinus und Bismarck (schlichter Stil), Gorgias und Martin Luther King („argumentativer Punch“ durch „klanglichen Rausch“).
Leitendes Thema in Götterts Buch ist „der Zusammenhang von Inhalt und Form (. . .), ohne den Wirkung nach europäischen Vorstellungen nicht zustande kommt“. Die Überzeugung, ja die Überwältigung des Publikums kommt in der abendländischen Rhetorik durch allerlei sprachliche und logische Kunstmittel und Tricks zustande, denen aber trotzdem eine quasi-natürliche Kraft zugeschrieben wird – besonders gerne dann, wenn der Redner auf der richtigen Seite der Geschichte gesehen wird. Ob es sich dabei um einen bis heute wirksamen „Mythos Redemacht“ handelt, wie Göttert meint, sei dahingestellt; der Glaube an die Natürlichkeit und Moralität des raffinierten, aber ehrenwerten Redners erscheint doch längst vielfach gebrochen. Die argumentative Redekunst dieses Buches läuft dann letztlich auf nicht viel mehr hinaus als auf die alte Erkenntnis, dass die Rhetorik zum Guten wie zum Schlechten eingesetzt werden kann.
Das macht aber nichts, denn der Leser wird reichlich dadurch entschädigt, dass Karl-Heinz Göttert ein guter, zwar akademischer, aber eben doch auch ein rheinischer Geschichtenerzähler ist. Man kann da viel lernen, und immer bleibt es kurzweilig. Der historische Fundus, der Göttert zu Gebote steht, lässt ihn überzeugend gegen das spätestens seit Tacitus verbreitete Vorurteil angehen, dass die Redekunst nur in freien Republiken erblühen könne. Zwar stimmt umgekehrt, dass die freie Rede in Demokratien florieren muss – aber ein verengter Blick blendet gerne die höfische und die juristische Beredsamkeit ebenso aus wie die kontinuierliche Tradition der christlichen Predigt. Und so gehören hier nicht nur Cicero und Churchill zur Geschichte der Rhetorik, sondern ebenso auch die Bettelorden des Mittelalters – und Barack Obama bekommt Johannes Chrysosthomus („Goldmund“) zum Kapitelpartner, den Bischof von Konstantinopel aus der Spätantike, der als Prediger an den Apostel Paulus anknüpfte.
Karl-Heinz Göttert: Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 510 Seiten, 24,99 Euro, E-Book 21,99 Euro.
Mit Tricks und Kunstmitteln auf
natürlich wirkende Art zu
überwältigen – das ist das Ziel
Überzeugen durch Reden hat immer auch „seine klanglich-stilistische Seite“, schreibt Karl-Heinz Göttert über die Rhetorik von Martin Luther King (hier 1967).
Foto: laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Hier trifft Gorgias auf Martin Luther King, Cicero auf Joschka Fischer und Obama auf einen
Bischof von Konstantinopel: Karl-Heinz Göttert erzählt seine Geschichte der Rhetorik
VON JOHAN SCHLOEMANN
Reden kann fast jeder, Reden halten nicht. Eine Rede setzt eine bestimmte, formelle Situation voraus: Ein Mann oder eine Frau spricht, in jedem Fall länger als ein paar Minuten, und eine Gruppe hört zu, in jedem Fall mehr als ein paar Leute. Zwar kann man immer auch ein bisschen Rhetorik in der Konversation und in der Talkshow entdecken; oder umgekehrt ein bisschen Dialog in der Rede vor Publikum. Das ändert aber nichts an den Grundeigenschaften des Arrangements, mit dem sich die Rhetorik beschäftigt: Es ist ein längerer Monolog, live und mündlich vorgetragen – ob die Rede nun schriftlich ausgearbeitet wurde oder nicht; und damit die Leute nicht einschlafen oder wegrennen, damit die Rede vielleicht sogar richtig zündet, müssen Kunst und Lebendigkeit, Argumentation und Emotion in der gerade passenden Mischung zusammenkommen. Wobei man oft vorher gar nicht genau weiß, was passen wird.
Nun könnte man meinen, dass die mediale Zerschnipselung dazu führe, dass man solche Situationen eigentlich überhaupt nicht mehr oder kaum noch erlebt. Wann haben Sie denn, sehr geehrte Leserinnen und Leser, meine Damen und Herren, das letzte Mal eine Politikerrede in ganzer Länge angehört? Oder ersatzhalber eine durchgelesen? Die Geduld reicht für Twitter und Soundbites, für ein paar Zitate und Ausschnitte; und der Bundestag beerdigt soeben auf klägliche Weise die Idee, eine lebendige und interessante parlamentarische Fragestunde einzuführen. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel – manche haben das schon erlebt, manche erzählen davon – ist eigentlich ziemlich schlagfertig. Nur bitte dann nicht, wenn es um ihr Kerngeschäft geht, nämlich ihre nebulöse Politik zu erklären.
Diese Lage sollte aber nicht dazu verleiten, die Rhetorik abzuschreiben oder als rein historischen Stoff wahrzunehmen. Sie ist trotzdem heute noch sehr wirksam, auch in den Schwundformen; sie hat ihre Momente, wenn es mal wichtig, dramatisch, „historisch“ wird; auf das Archiv dieser Momente bezieht sich nach wie vor die politische Kommunikation. Außerdem gibt es ja immer noch einige formellere Anlässe – Staatstrauer um Richard von Weizsäcker, Neujahrsansprachen, Grußworte und Wahlkampfduelle. Und was die glorreichen Zeiten der Rhetorik angeht, so sollte man sich auch nicht vorstellen, es hätten früher immer ganze Völker stundenlang andächtig gelauscht; auch vor der Erfindung der audiovisuellen Medien und des Internets gab es abseits vom real präsenten Publikum immer schon viel mediale Vermittlung und Verkürzung.
Der emeritierte Kölner Germanist Karl-Heinz Göttert, der vor einigen Jahren eine „Geschichte der Stimme“ geschrieben hat, sieht die klassische Rhetorik durch die gegenwärtige Kurzatmigkeit von Politik und Medien zwar durchaus bedrängt, hat aber doch einen optimistischen Ausgangspunkt: Es lohnt sich für alle Beobachter und Teilnehmer heutiger Debatten, sich mit der Geschichte der Beredsamkeit zu befassen. Seine „andere Geschichte der Rhetorik“ beginnt damit, dass er, wie so viele, von den Auftritten Barack Obamas im amerikanischen Vorwahl- und Wahlkampf fasziniert war: „Es gab sie also noch, die große Rede.“ Und auch wenn sich die Heilserwartung an Obama und damit auch das gebannte Verfolgen seiner Reden inzwischen erledigt hat – den amerikanischen Präsidenten hat in seinem unregierbaren Land längst das Wort-und-Tat-Problem ereilt, das aller großen politischen Rhetorik zur Gefahr werden kann –, so hat der Obama-Impuls doch ein interessantes Buch hervorgebracht, dessen Reiz in originellen Paarungen historischer und jüngerer Redner besteht.
„Anders“ nennt Karl-Heinz Göttert seine Darstellung, weil er nicht die Geschichte der rhetorischen Lehrbücher und Theorien beschreiben will, nicht die trockene Textwissenschaft, zu der die Rhetorik in den Philologien immer wieder ausgedörrt wurde, sondern „die Redner und ihre Reden selbst“. Das ist zwar auch kein ganz neuer Zugang – und die Rhetorik als Lehre, als Expertenwissen changierte selbst immer schon zwischen technischen Regeln und dem Einsatz von exemplarischen Reden –, aber frisch, anschaulich und unterhaltsam wird Götterts Buch durch seine Gegenüberstellungen in plutarchischem Geist. In diesen Parallelkapiteln begegnen sich zum Beispiel: Perikles und Richard von Weizsäcker (Gefallenenrede), Cicero und Joschka Fischer (Philippiken gegen Marcus Antonius respektive Slobodan Milošević), Demosthenes und Charles de Gaulle (Aufruf zum gerechten Krieg), Augustinus und Bismarck (schlichter Stil), Gorgias und Martin Luther King („argumentativer Punch“ durch „klanglichen Rausch“).
Leitendes Thema in Götterts Buch ist „der Zusammenhang von Inhalt und Form (. . .), ohne den Wirkung nach europäischen Vorstellungen nicht zustande kommt“. Die Überzeugung, ja die Überwältigung des Publikums kommt in der abendländischen Rhetorik durch allerlei sprachliche und logische Kunstmittel und Tricks zustande, denen aber trotzdem eine quasi-natürliche Kraft zugeschrieben wird – besonders gerne dann, wenn der Redner auf der richtigen Seite der Geschichte gesehen wird. Ob es sich dabei um einen bis heute wirksamen „Mythos Redemacht“ handelt, wie Göttert meint, sei dahingestellt; der Glaube an die Natürlichkeit und Moralität des raffinierten, aber ehrenwerten Redners erscheint doch längst vielfach gebrochen. Die argumentative Redekunst dieses Buches läuft dann letztlich auf nicht viel mehr hinaus als auf die alte Erkenntnis, dass die Rhetorik zum Guten wie zum Schlechten eingesetzt werden kann.
Das macht aber nichts, denn der Leser wird reichlich dadurch entschädigt, dass Karl-Heinz Göttert ein guter, zwar akademischer, aber eben doch auch ein rheinischer Geschichtenerzähler ist. Man kann da viel lernen, und immer bleibt es kurzweilig. Der historische Fundus, der Göttert zu Gebote steht, lässt ihn überzeugend gegen das spätestens seit Tacitus verbreitete Vorurteil angehen, dass die Redekunst nur in freien Republiken erblühen könne. Zwar stimmt umgekehrt, dass die freie Rede in Demokratien florieren muss – aber ein verengter Blick blendet gerne die höfische und die juristische Beredsamkeit ebenso aus wie die kontinuierliche Tradition der christlichen Predigt. Und so gehören hier nicht nur Cicero und Churchill zur Geschichte der Rhetorik, sondern ebenso auch die Bettelorden des Mittelalters – und Barack Obama bekommt Johannes Chrysosthomus („Goldmund“) zum Kapitelpartner, den Bischof von Konstantinopel aus der Spätantike, der als Prediger an den Apostel Paulus anknüpfte.
Karl-Heinz Göttert: Mythos Redemacht. Eine andere Geschichte der Rhetorik. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 510 Seiten, 24,99 Euro, E-Book 21,99 Euro.
Mit Tricks und Kunstmitteln auf
natürlich wirkende Art zu
überwältigen – das ist das Ziel
Überzeugen durch Reden hat immer auch „seine klanglich-stilistische Seite“, schreibt Karl-Heinz Göttert über die Rhetorik von Martin Luther King (hier 1967).
Foto: laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de