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Perspektiven für die zeitgeschichtliche Forschung
Die Gliederung der Vergangenheit in überschaubare Epochen, Perioden oder Zeitalter ist so alt wie die Befassung mit Geschichte überhaupt. Dabei ist jede Einteilung angesichts der Kontinuität des historischen Geschehens im Grunde unhistorisch, weist doch ein erkennbarer Faden über alle Zäsuren, Revolutionen und Kulturbrüche hinweg zurück in die Vergangenheit. Dennoch ist die Segmentierung in historische Prozesse ein ebenso notwendiges wie sinnvolles historisches Verfahren, um das riesige Arsenal geschichtlichen Wissens in überschaubare Abschnitte zu zerlegen. Die seit Christoph Cellarius (1634-1707) überkommene und in der Geschichtswissenschaft noch weitgehend gängige Epochengliederung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit ist längst differenziert, verfeinert und nicht zuletzt um den Begriff Zeitgeschichte erweitert worden.
Hat noch Hans Rothfels die Grenzlinie zur Zeitgeschichte mit dem Ersten Weltkrieg gezogen, so verstehen die Autoren dieses Bändchens unter Zeitgeschichte die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, die sie wiederum einteilen in eine "Zeit des Booms", einer stabilen Nachkriegsordnung mit politökonomischen Normen und kulturellen Orientierungsmustern, die in den siebziger Jahren endete, und eine Epoche nach 1970, die sie als eine Phase des Übergangs "nach dem Boom" bezeichnen, als einen Strukturbruch, der sozialen Wandel von revolutionärer Qualität mit sich gebracht habe. Dies ist das Thema des Essays. In der Tat werden - jedenfalls in der deutschen Historiographie - die frühen siebziger Jahre aufgrund der ersten Ölkrise und ihrer Folgen auf die wirtschafts- und sozialpolitischen Bedingungen als Einschnitt gesehen. Unter anderen Aspekten einschneidender waren jedoch sicherlich die Folgen der weltpolitischen Zäsur von 1989/91.
Nach der Darstellung der Entstehung der Nachkriegsordnung werden in Kapitel 1 Elemente des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bis hin zum Durchbruch der Mikroelektronik beschrieben. In Kapitel 2 werden politik- und sozialwissenschaftliche Diagnosen dieses Wandels, insbesondere die Theorien und Methoden angloamerikanischer Sozialwissenschaftler und Sozialphilosophen vorgestellt, die beträchtlichen Einfluss auf die Geschichtswissenschaft ausgeübt haben, ob es sich um die Suche nach einem dritten Weg jenseits des traditionellen politischen Links-rechts-Gegensatzes oder um die Abkehr der überkommenen Dichotomie von Bourgeoisie und Proletariat handelt. Auch werden die Globalisierung und die grundlegenden Veränderungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts angesprochen. Ihre Auswirkungen auf die politische Agenda, auf das internationale Staatensystem, auf die Wirtschafts- und Finanzmärkte oder ihre sozialen Folgen für den Einzelnen, etwa die sich seit den achtziger Jahren öffnende Schere bei der Einkommensentwicklung, werden allerdings nicht vertieft. Ob also die Sozialwissenschaften, "ein wesentlicher Bestandteil der Nachkriegsordnung Westeuropas" (sic!), tatsächlich so erkenntnisleitend sind, bei all ihrer Bedeutung für Öffentlichkeit, Politik und Administration, darf mit einem Fragezeichen versehen werden.
Zu Recht wird deshalb in Kapitel 3 bei der Frage, welche zeithistorischen Perspektiven sich aus der Sozialstaatsforschung ergeben, festgestellt, dass die Ordnungsentwürfe der Trendprognostiker und Auguren schnell veralten. Skepsis sei ihnen gegenüber also angebracht, da Vergangenheit in ihren Entwürfen nicht vorkäme und Kontinuitäten jenseits der diagnostizierten Brüche bestehen blieben. So ganz kann man sich bei der Lektüre der zeitdiagnostischen Strukturanalysen des Eindrucks nicht erwehren, dass hier Geschichte ohne Menschen behandelt wird.
Wie die Autoren eingangs betonen, sind ihre bedenkenswerten Überlegungen, welche Themen sich für die Zeitgeschichte nach dem Boom jenseits der bereits etablierten Gebiete anbieten, vorläufiger Natur: Industrieunternehmen und industrielle Produktion, Infrastrukturen der Wissensgesellschaft, Konsum, Konsumgesellschaft, Konsumentengesellschaft, Geschlechterordnungen und Körperbilder, Sinnsuche in neuen Erwartungshorizonten, Umbrüche in der Zeitdiagnose, Wandel von Leitbegriffen.
Naturgemäß können derartige Vorschläge nicht das zukünftige Spektrum historischer Forschungen prognostizieren. Insofern sind solche Desiderate nur als Anregungen zu verstehen. Da zur Zeit der Abfassung des Essays die Folgen der Wetten auf Wetten des globalen, seit den achtziger Jahren sich entwickelnden Finanzmarktkapitalismus auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft nicht absehbar waren, bleibt abzuwarten, ob sich nicht auch andere Perspektiven für die zeitgeschichtliche Forschung ergeben werden.
GÜNTER BUCHSTAB
Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 140 S., 15,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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