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Tim B. Müller hat ein kleines Buch geschrieben, in dem er auslotet,
inwieweit die Demokratie in der Weimarer Republik die Chance hatte zu gelingen
VON ERHARD EPPLER
Gescheiterte müssen auch in den Geschichtsbüchern mit schlechten Noten rechnen. Das gilt für Personen, für Parteien und nicht zuletzt für Staatsformen. Die erste deutsche Demokratie, die 14 Jahre mit der Verfassung von Weimar gelebt hat, macht da keine Ausnahme. Ja, da gab es ein paar solide Köpfe, den Sozialdemokraten Friedrich Ebert, den Zentrumsmann Matthias Erzberger, den Rechtsliberalen Gustav Stresemann. Aber als die Weltwirtschaftskrise über Europa hereinbrach, waren alle drei tot, und der letzte demokratische Kanzler, Heinrich Brüning, kam zwar mit dem Präsidenten-General Hindenburg ganz gut zurecht, konnte mit dessen Notverordnungen auch regieren, aber die Krise hat er wohl nur verschärft.
Und die wichtigsten Sozialdemokraten in der zweiten deutschen Demokratie, Willy Brandt und Fritz Erler, fanden als junge Leute, dass ihre Partei viel zu lasch gegen die Nazis vorging. Und der junge Wehner wollte die Demokratie abschaffen.
Da kommt nun ein Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung namens Müller – in einem schmalen Büchlein von 173 Seiten, davon 12 Seiten Literaturverzeichnis – und findet, die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sei international die Geburtsstunde der modernen Demokratie gewesen, und die Weimarer Demokratie sei von allen die modernste ihrer Zeit.
Gustav Bauer, der erste sozialdemokratische Kanzler, sonst für Historiker ein mediokrer Funktionär, wird ausführlich mit seiner Antrittsrede vor dem Reichstag zitiert mit dem Fazit, hier habe einer genau die moderne, liberale und soziale Demokratie beschworen, die nach der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts überall versucht wurde. Die Weimarer Koalition zwischen Sozialdemokraten, Linksliberalen (DDP) und der katholischen Zentrumspartei erscheint da nicht als Notbehelf, sondern als eine ideale Konstellation, die genau zu dem Kompromiss führen musste, der nun gefragt und an der Zeit war.
Und trotz Versailles, trotz der Verknüpfung von Niederlage und Demokratie im Bewusstsein der meisten Deutschen schien diese Demokratie „eine großartige Zukunft“ zu haben. Erzbergers Steuerreform (1920), gegenüber der alles, was seither auf diesem Gebiet geschah, ziemlich dürftig wirkt, schuf für diese Zukunft die ökonomische Grundlage. Nur die Umwandlung der (kumulativen) Umsatzsteuer in die Mehrwertsteuer in den Sechzigerjahren kann sich mit dem Werk Erzbergers messen. Seine progressive Einkommensteuer wollte die FDP abschaffen.
So entstand etwas wie „der demokratische Kapitalismus“, und zwar nicht als Zufall, sondern als „historisches Projekt“, also genau das, was – wenn man den Analysen von Wolfgang Streeck nach drei Jahrzehnten des Marktradikalismus zustimmt – inzwischen nicht mehr in Reichweite ist.
Und dieser „demokratische Kapitalismus“, ziemlich identisch mit der „sozialen Demokratie“, ging aus der Großen Krise der Weltwirtschaft überall, vor allem in den USA, „gestärkt hervor“, schreibt Müller – „nur nicht in Deutschland“. Der wichtigste Grund für diese gelungene Zähmung des Kapitalismus war in Deutschland derselbe wie in England oder den USA: Ohne eine loyale Arbeiterschaft in den Fabriken und an der Front hätte kein Land die Materialschlachten des Krieges durchgehalten.
Dass Heinrich Brüning nicht der richtige Mann am richtigen Platz war, dass seine Sparpolitik – durch Notverordnungen exekutiert – die Krise verschärft hat, ist, wenn es so etwas gibt, längst Konsens unter den Ökonomen. Daher handelt Müller das Thema Brüning sehr kurz ab. Allerdings, und das ist das Neue, Brünings Irrtümer haben nicht eine ohnehin wankende Demokratie zu Fall gebracht. Sie haben verhindert, dass auch in Deutschland eine durchaus lebendige, solide Demokratie gestärkt aus der Krise hervorging.
Darüber werden sich Historiker wohl nie einigen. Trotzdem hat Müllers Versuch etwas Faszinierendes, etwas Ermutigendes und doch auch Erschreckendes an sich, zumal er eine Parallele zieht zur Krise unserer Zeit. Wenn ich ihn richtig verstehe, standen die Chancen der Demokratie in Deutschland 1930 zumindest nicht schlechter als heute. Wo aber ist die politische Kraft, die es wirklich schafft, dass die Bundesrepublik Deutschland oder gar die Europäische Union nicht nur ökonomisch, sondern als Demokratie gestärkt aus der Krise hervorgehen kann? Wenn Müller recht hat, reicht das Durchwursteln, auch seine charmante Spielart, nicht aus.
Sicher ist: Als die Amerikaner uns 1945 die Demokratie brachten, fanden sie keine gänzlich Unbeleckten vor. Aber einen Einwurf kann ich Müller nicht ersparen: Als jemand, der in einem der guten Jahre der Weimarer Republik geboren wurde, 1933 in die Grundschule kam, und schon früh genau hinhörte, was die Erwachsenen so redeten, die Eltern und Verwandten, die Lehrer, die Handwerker und die Pfarrer, ganz gleich ob sie sich als Nazis verstanden oder nicht: Sie hatten alle die – noch im Frühjahr 1918 unwahrscheinliche – Niederlage und den Vertrag von Versailles nicht verarbeitet. Die meisten fühlten sich gedemütigt, empfanden sich als Opfer, hatten vergessen, dass sie ja auch Täter waren.
Wer sich nur als Opfer wahrnehmen kann, ist nicht friedensfähig. Was das Opfer trotzdem tut, ist als Notwehr rechtens. Wer sich in seine Opferrolle versteift, ist aber auch nur beschränkt demokratiefähig, denn die Demokratie braucht aktive Bürger, die sich für eine gute Zukunft verantwortlich fühlen. Sogar wenn das selbstmitleidige Opfer etwas heimzahlen will, empfindet es sich nicht als verantwortlicher Täter.
Hitlers Propaganda richtete sich an ein Volk der gedemütigten Opfer. Dass er später prahlen konnte, er habe in der Demokratie mit der Demokratie die Demokratie beseitigt, war wohl nur in einem Volk möglich, das sich in seine Opferrolle verrannt hatte und seine Taten gar nicht mehr reflektierte.
Brüning war ein Unglück, aber nicht das einzige.
Tim B. Müller: Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien. Hamburger Edition, 2014. 174 S., 12 Euro.
Der SPD-Politiker Erhard Eppler, Jahrgang 1926, war von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Er war mehrfach Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Im September erscheint beim Herder-Verlag ein Buch, das er zusammen mit Hans-Jochen Vogel und Wolfgang Thierse veröffentlicht: „Die SPD und die deutsche Einheit 1989/90“.
Die moderne Demokratie,
meint Müller, sei nach dem
Ersten Weltkrieg erst entstanden
Müllers Ideen haben „etwas
Ermutigendes und doch auch
Erschreckendes an sich“
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