Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2007Nicht das Bestehende muss verändert werden, sondern das Verkehrte
An diesem Samstag wäre Joachim Fest einundachtzig Jahre alt geworden. In seinen Essays zu Politik und Geschichte zeigt sich, wie er substantielle Beobachtungen mit einer lebhaften Beziehung zum Publikum verband.
Etwas geringschätzig pflegt man auf die sogenannten tagespolitischen Ereignisse herabzusehen, als auf das Flüchtige, das heute so und morgen anders ist. Umso größer ist die Überraschung, ja ein gewisser Taumel stellt sich ein, wenn ein Rückblick aufs Kurzfristige plötzlich offenbart, daß es es sich dabei in Wahrheit um Phänomene der "langen Dauer" handelt, dass Erscheinungen, die von den Zeitgenossen für vorübergehend gehalten wurden, sich in unserer Erfahrung eingenistet haben und dass das, was vor dreißig Jahren über sie gesagt wurde, so gut wie unverändert auch heute noch gilt.
In Joachim Fests Essays zu Politik und Geschichte, die jetzt unter dem Titel "Nach dem Scheitern der Utopien" von neuem erscheinen, kann man diese Erfahrung gleich mehrfach machen. Ja, wird man sagen, der Mann hat eben weit geblickt, so dass er durch die Schärfe seines Blicks auf seine Gegenwart unsere gleich mit erfasste. Doch es geht nicht um Prognosen, sondern um Beobachtungen. In einem kurzen Stück mit dem Titel "Manie der Reformen", erschienen am 20. Mai 1975 in dieser Zeitung, wird die Bundesrepublik als ein Land im Umbau geschildert, erfasst von Veränderungen, denen nichts standhält, was sonst für tragend gehalten wurde: Schichten, Strukturen, Machtpositionen. Die Republik, die unter der Devise "Keine Experimente" herangewachsen war, konnte dem Reformdruck, der sich überall und ohne Unterschied bemerkbar machte, nicht mehr standhalten. "Der Begriff ,Reform'", heißt es gegen Schluss des Leitartikels, "ist unterdessen dabei, zum Schreckwort zu werden."
Als diese Besorgnis formuliert wurde, steckte das Potential des Reformierens, wie wir mittlerweile wissen, erst in den ersten Anfängen. Unabhängig von politischen Richtungen wurde seither ein immer neues Reformpensum durchgepeitscht, und die Sorge, die Joachim Fest damals umtrieb, welche Folgen dies für die tragenden Schichten und insgesamt für die Festigkeit der Republik haben werde, ist immer noch nicht erwogen worden. Man hat gelernt, mit der Veränderungswut zu leben. Irrig war die Erwartung des Autors, es werde bald eine Partei mit der Devise "Keine Reformen!" auftreten, und ohne Echo blieb auch sein Einwurf: "Denn nicht das Bestehende muss verändert werden, sondern das Verkehrte." Die "Manie der Reformen", die er erschreckt beobachtete, hat diesen Gedanken fortgespült.
Dass eine Beobachtung zum Tage ein Langzeitphänomen sichtbar macht, darf man dem Beobachter gutschreiben, dem es gelingt, im Besonderen ein Allgemeines freizulegen. Die Fähigkeit von Joachim Fest, die Phänomene rasch durchsichtig zu machen, erweist sich auf fast artistische Weise in den kurzen Stücken, die der Band in seinem ersten Teil "Leitartikel und Kommentare" sammelt. Ein anderer Topos der alten Bundesrepublik, der Fest ins Auge stach, war "Die Schuld der Gesellschaft". Auch er hat sich über die Jahre unangreifbar und letztinstanzlich behauptet: Statt die "Wahrheit" des Staates zu sein, wie es der Gesellschaft ins Stammbuch geschrieben war, wurde sie jetzt, so Fest, dessen Unwahrheit, man gewöhnte sich an, sich mit der Gesellschaft herauszureden. Die Gesellschaft sei "zur persönlichen Rechtfertigungsideologie von Unterlegenen, die es bleiben wollen" geworden. Auch in diesem Fall sind die Dinge weitgehend so geblieben,
Noch ein letztes Beispiel: "Angst als Bildungserlebnis" ist der Titel einer kurzen Betrachtung über die Folgen der "Berufsverbote" und der sich abzeichnenden Reglementierung des Studiums an den Universitäten. Auf die Phase des Aufruhrs sei die der Angst gefolgt, hieß es damals. Fest schlug nun die Brücke von der Gesinnungsangst, die durch die Berufsverbote weit über deren Bereich hinaus erzeugt wurde, zu einer neuen Unsicherheit, die durch subtile und unwidersprechliche statistische Berechnungen erzeugt wurde. Was hier zur Psychologie junger Generationen gesagt wird, trifft auch heute noch weitgehend zu. Aber ein Licht ganz anderer Art fällt auf diese Dinge durch den unauffälligen Satz: "Woran es vor allem fehlt, ist das Bewusstsein, in einer Gesellschaft des humanen Beistands zu leben."
Zu den Fundstücken in solchen kritischen Anmerkungen zur Zeit gehört, im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um den Terrorismus formuliert, die ebenso lakonische wie weitreichende Feststellung, dass "Kritik nicht zuletzt ein Akt der Loyalität" sei. Der Halbsatz schließt ohne großen Aufwand die Kluft, die seit jenen Jahren zwischen kritischen Theoretikern wie Adorno und konservativen Publizisten wie Joachim Fest sich auftat. Aber auf dieses Verständnis von Kritik hätte man sich seinerzeit durchaus einigen können. Doch die Debatten um sogenannte Lebensfragen pflegen nicht den Raum zu lassen, der solche Konvergenzen zu bemerken erlaubt, geschweige denn aus ihnen Folgerungen zu ziehen. Vollends wurde dies unmöglich durch den Historikerstreit, der in diesem Band mit Joachim Fests Nachwort zur Dokumentation von 1987 vertreten ist.
Dass Kritik ein Akt der Loyalität ist - nicht zuerst gegenüber dem Kontrahenten, sondern gegenüber dem kritisierten Gegenstand -, lässt sich an den kurzen Stücken dieser Sammlung verfolgen. Als im Fernsehen die "Holocaust"-Serie mit einem erstaunlichen, nie erwarteten Publikumserfolg gezeigt wurde, waren die Bedenken gegen deren Naivität und Simplizität gewiss nicht ausgeräumt. Die spontane Welle des Mitgefühls, die diese Fernsehserie auslöste, wusste Fest für die Einsicht zu nutzen, dass es im Umgang mit der deutschen Vergangenheit eben darauf ankomme, Emotion und Wissen miteinander zu verknüpfen. Die nicht zu übersehenden Schwächen der Serie hielten ihn nicht davon ab, bei dieser Gelegenheit ein weitreichendes Fazit zu ziehen: "Das von Historikern und Publizisten seit Jahren beklagte Desinteresse der Öffentlichkeit an der Vergangenheit entpuppte sich hier als das, was es in Wahrheit ist: das Desinteresse von Historikern und Publizisten an der Öffentlichkeit."
Diese beiläufig formulierte Kritik rührt an den Kern der jahrzehntelangen Auseinandersetzung Joachim Fests mit der zeitgeschichtlichen Forschung, die in diesem Band unter anderem durch seine berühmt gewordene Streitschrift "Noch einmal: Abschied von der Geschichte" dokumentiert ist. Da kehrt als Erklärung für die "Sprachlosigkeit der Historiker" jenes "tiefe Desinteresse am Menschen" wieder, das sich auch auf dessen Umwelt erstrecke und sich handwerklich als Desinteresse am Publikum kundgebe. Es ist nicht nur die Vernachlässigung des "Anteils an Poesie", den der große französische Historiker Marc Bloch für sein Metier für unerlässlich hielt, sondern etwas viel Elementareres, das nach Ansicht von Fest ausfalle: die "humane Neugier".
Dass es dabei nicht etwa um Edelblässe geht, erläutert Fest am Beispiel Theodor Mommsens, der um der besseren Verständlichkeit willen nicht davor zurückgeschreckt sei, in seiner "Römischen Geschichte" von römischen "Generalen", von "Bürgermeistern", "Junkern", "Parteien" oder gar "Kapitalisten" zu sprechen. Denn es gelte doch vor allem, so rechtfertigte sich der Historiker, "die Alten lebendig zu machen, sie von dem phantastischen Kothurn, auf dem sie der Masse des Publikums erscheinen, in die reale Welt, wo gebaut und gelebt, gesägt und gehämmert, phantasiert und gezweifelt wird, zu versetzen - darum musste der Konsul ein Bürgermeister werden und so weiter".
Wenn schon die Geschichtsschreibung ferner Zeiten solche Einschlüsse aus der eigenen Zeit ihres Autors und seines Publikums verlangt, so erst recht alle Versuche, die eigene Zeit und ihre unmittelbare Vorgeschichte zu erfassen. Die Probe darauf ist die Beziehung zum Publikum. Und es ist mangelndes Vertrauen zu diesem, wenn man in den Handreichungen fürs Verständnis nur so etwas wie Bestechung sieht, wie es der akademischen Geschichtsforschung erscheinen mag, die sich mit einem Zaun von methodischen Erwägungen zu umgeben pflegt. Das Risiko einer Geschichtsschreibung, die die Nähe zur eigenen Zeit sucht, ist bekannt: Sie kann sich den Zugang zu ihrem Gegenstand ebenso gut verstellen. Aber das ändert nichts an der elementaren Tatsache, dass jede historische Darstellung aus Bewandtnissen ihrer eigenen Zeit heraus geschrieben wird und eine zeitgenössische Sicht auf ihren Gegenstand gibt.
Wenn Joachim Fest das (in dem vorliegenden Band wiederabgedruckte) Vorwort, das er 1995 zu seiner Hitler-Biographie schrieb - zwei Jahrzehnte nach ihrem ersten Erscheinen -, unter den Titel stellte: "Zeitgenosse Hitler", so wirkt das zunächst befremdlich. Diesen Eindruck räumte er jedoch aus mit der Erklärung: "Zum Einzigartigen, das mit dem Namen Hitler verbunden ist, gehört seine unverminderte Gegenwärtigkeit. Selbst fünfzig Jahre nach seinem Ende behauptet er eine Zeitgenossenschaft, deren Schatten beständig tiefer wird." Dies äußere sich in Ängsten und Exorzismen, aber auch in der Tabuisierung von Themen und Fragen ebenso wie in einer immer noch wachsenden Flut von Schriften und Untersuchungen. Das Zeitgenössische ist hier die Signatur des Unverstandenen, aber auch eines Verstehens, das sein Maß darin findet, wie weit es die Aura des Zeitgenössischen aufzulösen vermag. Erst wenn dies gelungen ist, wäre jene Historisierung erreicht, die von der akademischen Geschichtswissenschaft umstandslos in Anspruch genommen wird.
Ein Musterbeispiel für eine Historisierung innerhalb des Zeitgenössischen ist Joachim Fests großer Essay "Der zerstörte Traum", der vom Ende des utopischen Zeitalters handelt und durch die Ereignisse des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums hervorgetrieben wurde. Der Soupçon gegen die Utopie war ein altes Motiv auch linker Kulturkritik, ihr Kurzschlüssiges war auch für Fest ein Topos, dem er in seinem bedeutendsten geistesgeschichtlichen Essay über "Gedanke und Tat" nachgegangen ist. Doch das Ende des Imperiums, das aus seinen utopischen Versprechungen gelebt und überdauert hatte, setzte ein Siegel der Endgültigkeit auf die kritischen Erwägungen, die das ganze Jahrhundert begleitet hatten. Als historischer Essay ist "Der zerstörte Traum" darüber hinaus so etwas wie die Probe auf die Überzeugungen vom Zeitgenössischen als Schlüssel zur Geschichte. Ob dies wirklich das Ende der Utopie mit ihren europäischen Wurzeln war, mochte der Augenblick unwidersprechlich suggerieren. Jedenfalls war es ein besonderer Augenblick für einen Historiker, der hier die Chance sah, Geschichte und Zeitgenossenschaft unmittelbar miteinander zu verbinden.
HENNING RITTER
Joachim Fest: "Nach dem Scheitern der Utopien". Gesammelte Essays zu Politik und Geschichte. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007. 448 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
An diesem Samstag wäre Joachim Fest einundachtzig Jahre alt geworden. In seinen Essays zu Politik und Geschichte zeigt sich, wie er substantielle Beobachtungen mit einer lebhaften Beziehung zum Publikum verband.
Etwas geringschätzig pflegt man auf die sogenannten tagespolitischen Ereignisse herabzusehen, als auf das Flüchtige, das heute so und morgen anders ist. Umso größer ist die Überraschung, ja ein gewisser Taumel stellt sich ein, wenn ein Rückblick aufs Kurzfristige plötzlich offenbart, daß es es sich dabei in Wahrheit um Phänomene der "langen Dauer" handelt, dass Erscheinungen, die von den Zeitgenossen für vorübergehend gehalten wurden, sich in unserer Erfahrung eingenistet haben und dass das, was vor dreißig Jahren über sie gesagt wurde, so gut wie unverändert auch heute noch gilt.
In Joachim Fests Essays zu Politik und Geschichte, die jetzt unter dem Titel "Nach dem Scheitern der Utopien" von neuem erscheinen, kann man diese Erfahrung gleich mehrfach machen. Ja, wird man sagen, der Mann hat eben weit geblickt, so dass er durch die Schärfe seines Blicks auf seine Gegenwart unsere gleich mit erfasste. Doch es geht nicht um Prognosen, sondern um Beobachtungen. In einem kurzen Stück mit dem Titel "Manie der Reformen", erschienen am 20. Mai 1975 in dieser Zeitung, wird die Bundesrepublik als ein Land im Umbau geschildert, erfasst von Veränderungen, denen nichts standhält, was sonst für tragend gehalten wurde: Schichten, Strukturen, Machtpositionen. Die Republik, die unter der Devise "Keine Experimente" herangewachsen war, konnte dem Reformdruck, der sich überall und ohne Unterschied bemerkbar machte, nicht mehr standhalten. "Der Begriff ,Reform'", heißt es gegen Schluss des Leitartikels, "ist unterdessen dabei, zum Schreckwort zu werden."
Als diese Besorgnis formuliert wurde, steckte das Potential des Reformierens, wie wir mittlerweile wissen, erst in den ersten Anfängen. Unabhängig von politischen Richtungen wurde seither ein immer neues Reformpensum durchgepeitscht, und die Sorge, die Joachim Fest damals umtrieb, welche Folgen dies für die tragenden Schichten und insgesamt für die Festigkeit der Republik haben werde, ist immer noch nicht erwogen worden. Man hat gelernt, mit der Veränderungswut zu leben. Irrig war die Erwartung des Autors, es werde bald eine Partei mit der Devise "Keine Reformen!" auftreten, und ohne Echo blieb auch sein Einwurf: "Denn nicht das Bestehende muss verändert werden, sondern das Verkehrte." Die "Manie der Reformen", die er erschreckt beobachtete, hat diesen Gedanken fortgespült.
Dass eine Beobachtung zum Tage ein Langzeitphänomen sichtbar macht, darf man dem Beobachter gutschreiben, dem es gelingt, im Besonderen ein Allgemeines freizulegen. Die Fähigkeit von Joachim Fest, die Phänomene rasch durchsichtig zu machen, erweist sich auf fast artistische Weise in den kurzen Stücken, die der Band in seinem ersten Teil "Leitartikel und Kommentare" sammelt. Ein anderer Topos der alten Bundesrepublik, der Fest ins Auge stach, war "Die Schuld der Gesellschaft". Auch er hat sich über die Jahre unangreifbar und letztinstanzlich behauptet: Statt die "Wahrheit" des Staates zu sein, wie es der Gesellschaft ins Stammbuch geschrieben war, wurde sie jetzt, so Fest, dessen Unwahrheit, man gewöhnte sich an, sich mit der Gesellschaft herauszureden. Die Gesellschaft sei "zur persönlichen Rechtfertigungsideologie von Unterlegenen, die es bleiben wollen" geworden. Auch in diesem Fall sind die Dinge weitgehend so geblieben,
Noch ein letztes Beispiel: "Angst als Bildungserlebnis" ist der Titel einer kurzen Betrachtung über die Folgen der "Berufsverbote" und der sich abzeichnenden Reglementierung des Studiums an den Universitäten. Auf die Phase des Aufruhrs sei die der Angst gefolgt, hieß es damals. Fest schlug nun die Brücke von der Gesinnungsangst, die durch die Berufsverbote weit über deren Bereich hinaus erzeugt wurde, zu einer neuen Unsicherheit, die durch subtile und unwidersprechliche statistische Berechnungen erzeugt wurde. Was hier zur Psychologie junger Generationen gesagt wird, trifft auch heute noch weitgehend zu. Aber ein Licht ganz anderer Art fällt auf diese Dinge durch den unauffälligen Satz: "Woran es vor allem fehlt, ist das Bewusstsein, in einer Gesellschaft des humanen Beistands zu leben."
Zu den Fundstücken in solchen kritischen Anmerkungen zur Zeit gehört, im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um den Terrorismus formuliert, die ebenso lakonische wie weitreichende Feststellung, dass "Kritik nicht zuletzt ein Akt der Loyalität" sei. Der Halbsatz schließt ohne großen Aufwand die Kluft, die seit jenen Jahren zwischen kritischen Theoretikern wie Adorno und konservativen Publizisten wie Joachim Fest sich auftat. Aber auf dieses Verständnis von Kritik hätte man sich seinerzeit durchaus einigen können. Doch die Debatten um sogenannte Lebensfragen pflegen nicht den Raum zu lassen, der solche Konvergenzen zu bemerken erlaubt, geschweige denn aus ihnen Folgerungen zu ziehen. Vollends wurde dies unmöglich durch den Historikerstreit, der in diesem Band mit Joachim Fests Nachwort zur Dokumentation von 1987 vertreten ist.
Dass Kritik ein Akt der Loyalität ist - nicht zuerst gegenüber dem Kontrahenten, sondern gegenüber dem kritisierten Gegenstand -, lässt sich an den kurzen Stücken dieser Sammlung verfolgen. Als im Fernsehen die "Holocaust"-Serie mit einem erstaunlichen, nie erwarteten Publikumserfolg gezeigt wurde, waren die Bedenken gegen deren Naivität und Simplizität gewiss nicht ausgeräumt. Die spontane Welle des Mitgefühls, die diese Fernsehserie auslöste, wusste Fest für die Einsicht zu nutzen, dass es im Umgang mit der deutschen Vergangenheit eben darauf ankomme, Emotion und Wissen miteinander zu verknüpfen. Die nicht zu übersehenden Schwächen der Serie hielten ihn nicht davon ab, bei dieser Gelegenheit ein weitreichendes Fazit zu ziehen: "Das von Historikern und Publizisten seit Jahren beklagte Desinteresse der Öffentlichkeit an der Vergangenheit entpuppte sich hier als das, was es in Wahrheit ist: das Desinteresse von Historikern und Publizisten an der Öffentlichkeit."
Diese beiläufig formulierte Kritik rührt an den Kern der jahrzehntelangen Auseinandersetzung Joachim Fests mit der zeitgeschichtlichen Forschung, die in diesem Band unter anderem durch seine berühmt gewordene Streitschrift "Noch einmal: Abschied von der Geschichte" dokumentiert ist. Da kehrt als Erklärung für die "Sprachlosigkeit der Historiker" jenes "tiefe Desinteresse am Menschen" wieder, das sich auch auf dessen Umwelt erstrecke und sich handwerklich als Desinteresse am Publikum kundgebe. Es ist nicht nur die Vernachlässigung des "Anteils an Poesie", den der große französische Historiker Marc Bloch für sein Metier für unerlässlich hielt, sondern etwas viel Elementareres, das nach Ansicht von Fest ausfalle: die "humane Neugier".
Dass es dabei nicht etwa um Edelblässe geht, erläutert Fest am Beispiel Theodor Mommsens, der um der besseren Verständlichkeit willen nicht davor zurückgeschreckt sei, in seiner "Römischen Geschichte" von römischen "Generalen", von "Bürgermeistern", "Junkern", "Parteien" oder gar "Kapitalisten" zu sprechen. Denn es gelte doch vor allem, so rechtfertigte sich der Historiker, "die Alten lebendig zu machen, sie von dem phantastischen Kothurn, auf dem sie der Masse des Publikums erscheinen, in die reale Welt, wo gebaut und gelebt, gesägt und gehämmert, phantasiert und gezweifelt wird, zu versetzen - darum musste der Konsul ein Bürgermeister werden und so weiter".
Wenn schon die Geschichtsschreibung ferner Zeiten solche Einschlüsse aus der eigenen Zeit ihres Autors und seines Publikums verlangt, so erst recht alle Versuche, die eigene Zeit und ihre unmittelbare Vorgeschichte zu erfassen. Die Probe darauf ist die Beziehung zum Publikum. Und es ist mangelndes Vertrauen zu diesem, wenn man in den Handreichungen fürs Verständnis nur so etwas wie Bestechung sieht, wie es der akademischen Geschichtsforschung erscheinen mag, die sich mit einem Zaun von methodischen Erwägungen zu umgeben pflegt. Das Risiko einer Geschichtsschreibung, die die Nähe zur eigenen Zeit sucht, ist bekannt: Sie kann sich den Zugang zu ihrem Gegenstand ebenso gut verstellen. Aber das ändert nichts an der elementaren Tatsache, dass jede historische Darstellung aus Bewandtnissen ihrer eigenen Zeit heraus geschrieben wird und eine zeitgenössische Sicht auf ihren Gegenstand gibt.
Wenn Joachim Fest das (in dem vorliegenden Band wiederabgedruckte) Vorwort, das er 1995 zu seiner Hitler-Biographie schrieb - zwei Jahrzehnte nach ihrem ersten Erscheinen -, unter den Titel stellte: "Zeitgenosse Hitler", so wirkt das zunächst befremdlich. Diesen Eindruck räumte er jedoch aus mit der Erklärung: "Zum Einzigartigen, das mit dem Namen Hitler verbunden ist, gehört seine unverminderte Gegenwärtigkeit. Selbst fünfzig Jahre nach seinem Ende behauptet er eine Zeitgenossenschaft, deren Schatten beständig tiefer wird." Dies äußere sich in Ängsten und Exorzismen, aber auch in der Tabuisierung von Themen und Fragen ebenso wie in einer immer noch wachsenden Flut von Schriften und Untersuchungen. Das Zeitgenössische ist hier die Signatur des Unverstandenen, aber auch eines Verstehens, das sein Maß darin findet, wie weit es die Aura des Zeitgenössischen aufzulösen vermag. Erst wenn dies gelungen ist, wäre jene Historisierung erreicht, die von der akademischen Geschichtswissenschaft umstandslos in Anspruch genommen wird.
Ein Musterbeispiel für eine Historisierung innerhalb des Zeitgenössischen ist Joachim Fests großer Essay "Der zerstörte Traum", der vom Ende des utopischen Zeitalters handelt und durch die Ereignisse des Zusammenbruchs des Sowjetimperiums hervorgetrieben wurde. Der Soupçon gegen die Utopie war ein altes Motiv auch linker Kulturkritik, ihr Kurzschlüssiges war auch für Fest ein Topos, dem er in seinem bedeutendsten geistesgeschichtlichen Essay über "Gedanke und Tat" nachgegangen ist. Doch das Ende des Imperiums, das aus seinen utopischen Versprechungen gelebt und überdauert hatte, setzte ein Siegel der Endgültigkeit auf die kritischen Erwägungen, die das ganze Jahrhundert begleitet hatten. Als historischer Essay ist "Der zerstörte Traum" darüber hinaus so etwas wie die Probe auf die Überzeugungen vom Zeitgenössischen als Schlüssel zur Geschichte. Ob dies wirklich das Ende der Utopie mit ihren europäischen Wurzeln war, mochte der Augenblick unwidersprechlich suggerieren. Jedenfalls war es ein besonderer Augenblick für einen Historiker, der hier die Chance sah, Geschichte und Zeitgenossenschaft unmittelbar miteinander zu verbinden.
HENNING RITTER
Joachim Fest: "Nach dem Scheitern der Utopien". Gesammelte Essays zu Politik und Geschichte. Rowohlt Verlag, Reinbek 2007. 448 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Henning Ritter musste, wie er selbst bekennt, erst einmal einen gewissen Schwindel überwinden, als er diese Essays und Leitartikel Joachim Fests in die Hand nah, so frappierend aktuell erscheinen sie ihm, etwa wenn es um die "Manie der Reformen" geht, die Fest schon im Jahr 1975 schreckte. Doch auch die Essays zur Gegenwärtigkeit Hitlers oder zum Desinteresse der Historiker am Menschen haben für den Rezensenten offenbar nicht an Dringlichkeit verloren, wobei er den Text "Gedanke und Tat" für seinen bedeutendsten geistesgeschichtlichen Essay hält. Und natürlich zitiert er auch genussvoll Fest selbstbewussten Konservatismus, wonach die Gesellschaft zur "Rechtfertigungsideologie von Unterlegenen, die es bleiben wollen" geworden sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein großer Mann, ein großartiger Autor - unabhängig nach allen Seiten. Er wird fehlen. Stefan Aust