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Delphine de Vigan wurde mit "Das Lächeln meiner Mutter" berühmt. Ihr neuer Roman kommt wie eine Autobiographie daher. Aber sollte man ihr glauben? Eine Begegnung in Paris
Der Erfolg eines Buchs ist ein Unfall, aus dem man nicht unversehrt hervorgeht. Er ist, sagt Delphine eines nachts, ganz beiläufig, zwischen zwei Gläsern Wodka und einer Runde auf der Tanzfläche, ein heftiges, brutales Ereignis, wie ein Zusammenprall, der noch lange nachhallt. Sie schiebt sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht: Der Erfolg eines Buchs ist eine unsichtbare Wunde, die sich langsam durch den Körper frisst, bis sie ihn schließlich lahmlegt. Delphine, die Protagonistin und Erzählerin in Delphine de Vigans neuem Roman "Nach einer wahren Geschichte", weiß, wovon sie spricht. Sie selbst hat gerade "aus Versehen" einen Bestseller geschrieben. Sie hat den Unfall er- und überlebt und versucht jetzt, die aufgesprengten Teile ihres selbst wieder zusammenzukleben, nur gelingt ihr das nicht so richtig. Sie fühlt sich bedrängt, beobachtet, überfordert, sie fühlt sich schuldig: War es richtig, die Geschichte ihrer Familie aufzuschreiben? Hatte sie das Recht dazu? Oder ist sie vielleicht doch die Betrügerin, als die sie die anonymen Briefe, die sie seit der Veröffentlichung erhält, bezeichnen?
Auf die wiederkehrende Frage nach dem "Danach", "Was schreibt man nach so einem Buch? Schreibt man überhaupt noch etwas?", findet die Schriftstellerin keine Antwort.
Delphine steckt fest. Delphine ist schutzlos. Delphine weiß nicht, wohin mit sich und ihren Zweifeln. Und dann lernt Delphine an jenem Abend, an dem viel Wodka getrunken wird, eine gewisse L. kennen. L. oder phonetisch "elle", sie, also die Andere, ist eine Frau, wie Delphine sie gerne wäre: selbstbewusst, beherrscht, stark, immer perfekt - perfekt geschminkt, perfekt gekleidet, perfekt frisiert. Sie ist faszinierend, sie versteht sie, sie ist für sie da. Dass L. auch manipulativ und vollkommen wahnsinnig ist, fällt Delphine erst auf, als die mysteriöse Unbekannte längst das Steuer ihres Lebens übernommen hat. L. ist eine ripleysche Figur, ein böswilliger Doppelgänger.
Ohne zu viel verraten zu wollen: Es wird bedrückend. Sogar sehr. Nicht nur weil es immer bedrückend ist, dabei zuzusehen, wie eine Person Macht über eine andere gewinnt, sondern weil man als Leser irgendwann das Gefühl hat, nicht mehr zu wissen, was real ist und was erfunden, wer hier eigentlich wer ist und was das alles soll.
Mit ihrem neuen Roman wagt die französische Bestsellerautorin Delphine de Vigan, die man in Frankreich bis zum Erfolg von "Das Lächeln meiner Mutter" eher für freundliche Sozialgeschichten kannte, zum ersten Mal, wirklich mit ihren Lesern zu spielen. Es ist, als habe sie endlich den Rat befolgt, den eine Figur in ihrem allerersten, 2001 unter Pseudonym geschriebenen autobiographischen Roman "Jours sans faim" (es geht um Anorexie, leider nicht übersetzt), gibt: "Hör doch endlich einmal auf, das gute Mädchen sein zu wollen!" Delphine de Vigan, so scheint es, will nicht mehr brav sein, sie hat beschlossen, uns zu täuschen. Und sie kann das verdammt gut.
Am Anfang scheint noch alles klar: Diese leicht verwirrte Frau, diese Delphine, ist natürlich Delphine de Vigan selbst. Sie trägt ihren Namen, ist in ihrem Alter (Ende vierzig), hat zwei Kinder, lebt im 11. Arrondissement von Paris und sieht aus wie sie (blond, strubbelig, groß, immer in Jeans, Pulli und Stiefeletten). So wie die reale Schriftstellerin ist auch die Delphine des Buchs mit einem gewissen "François" liiert (de Vigan ist seit Jahren mit dem Literaturkritiker und Fernsehmoderator François Busnel zusammen) und hat mit ihrem siebten Buch, dem zweiten autobiographischen, einen phänomenalen Erfolg erlebt. Es passt alles herrlich zusammen, man geht davon aus, de Vigan sei eben endgültig auf den Geschmack des Über-sich-selbst-Schreibens gekommen und erzähle uns jetzt die Zeit nach dem Bestseller, die inneren Kämpfe, die Einsamkeit, den Erwartungsdruck, die Angst, den drohenden Fall und so weiter. Man stellt das erst mal gar nicht in Frage.
Man will mehr hören von dieser Frau, die die Geschichte ihrer bipolaren Mutter vor vier Jahren in "Das Lächeln meiner Mutter" so liebevoll und schonungslos erzählte, dass ihr fast eine Millionen Leser weltweit folgten. Man will ihr einfach glauben, will wissen, wie sie mit den Wunden, nicht des Erfolgs, sondern ihrer Lebensgeschichte, weiterlebt, und ignoriert deshalb die eigenen Zweifel. Denn die gibt es von Anfang an: Warum lässt eine Frau wie Delphine eine Frau wie L. so einfach und so total in ihr Leben eindringen? Warum geht ihr dieses Ich-verstehe-dich-ich-will-deine-Freundin-sein-Getue nicht auf die Nerven? Wie kann sie es zulassen, dass eine Wildfremde ihr erklärt, was sie nun zu schreiben habe, nämlich auf jeden Fall etwas "Wahres"? Weshalb haben die Ghostwriterin L. und sie keine gemeinsamen Bekannten, wo das Pariser Literaturmilieu doch so klein ist wie eine Walnussschale? Wie kann es sein, dass nie jemand L. begegnet? Kann die Angst vor dem Schreiben wirklich so groß sein, dass man sich nicht einmal mehr in der Nähe seines Computers aufhalten kann, ohne sich zu übergeben? All das macht im Laufe des Buchs immer weniger Sinn, bis es zum Schluss wirkt, als würde de Vigan für die ganz Hartnäckigen mit einem "Achtung! Fiktion!"-Schild über die Seiten laufen.
"Täuschen Sie sich da mal nicht", sagt sie, als sie mir an einem verregneten Nachmittag in einem Café am Square Gardette in Paris gegenübersitzt. "Ich habe mehrmals Leser getroffen, die davon überzeugt waren, das sei alles von Anfang bis Ende wahr, alles genau so passiert. Eine Frau meinte: Ein bisschen übertrieben haben Sie aber schon, oder? Sie wollte lieber glauben, ich sei Mythomanin als Romancière."
Delphine de Vigan ist groß, hat blondes, leicht krauses Haar, trägt ein kariertes Hemd, Jeans und Stiefeletten. Sie sieht genauso aus wie die Figur ihres Romans und wirkt ebenso, wenn auch beherrschter, fragil. Selbst jetzt, wo klar ist, dieses Buch ist ein Roman im klassischen Sinn, bleibt ein winziger Zweifel. Was davon ist wirklich passiert? Schulterzucken, Lächeln. Konnte sie wirklich nicht mehr schreiben? "Sagen wir so: Ich denke bei jedem Buch: Vielleicht ist dieses das letzte." Und gibt es diese L. wirklich? "Ja, natürlich . . . In der ein oder anderen Form." Also ist sie ihr selbstzerstörerisches Alter Ego, der böse Geist, der ihr zuflüstert, sie sei ein lächerliches Nichts? "Hm, vielleicht. Wie Sie wissen, heißt meine Figur, also das magersüchtige Mädchen in ,Jours sans faim', Laura. L. / Laura . . . Wer weiß?" Mehr wird de Vigan dazu nicht sagen. Sie freut sich zu sehr darüber, die Leute dermaßen zu verwirren, die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion so gekonnt zu verwischen. Es macht ihr eindeutig Spaß.
Die Frage nach der Wahrheit ist natürlich das zentrale Thema des Buchs und wird permanent besprochen: L. und Delphine diskutieren beziehungsweise streiten seitenweise über die Wahrheit in der Literatur, die neue Lust der Leser an "wahren Geschichten" und den Einfluss von Social Media und Reality TV. L. meint, das Wahre sei das einzig Wahre, Delphine glaubt an die Fiktion. De Vigan offensichtlich auch, wobei die starke Präsenz des vorherigen Buchs in diesem keine reine Erfindung ist.
Nach dem für sie überraschenden Erfolg von "Das Lächeln meiner Mutter" hat sich die Frage nach der Wahrheit zwangsläufig gestellt - schon allein, weil sie tatsächlich Drohbriefe erhalten hat: Ein sich aus der Geschichte ausgeschlossen fühlendes Familienmitglied fand, sie würde lügen, alles falsch darstellen. "Natürlich ist es nur meine Wahrheit. Hätte sie ein anderer meiner Familie aufgeschrieben wäre es eine andere Geschichte geworden. Das ist ja klar. Ich glaube, jede Erzählung, selbst wenn sie autobiographisch ist, bleibt eine Form von Fiktion und umgekehrt. Das gilt auch für das Buch über meine Mutter."
Was beide Romane (auch "Das Lächeln meiner Mutter" ist als Roman gekennzeichnet), abgesehen von der potentiell gleichen Erzählerin, verbindet, ist das gebrochene Verhältnis zur Realität. Die Delphine des aktuellen Buchs scheint den Zugang dazu immer mehr zu verlieren, sie entgleitet ihr, so wie sie Lucile, de Vigans manisch-depressiver Mutter, mehrmals entglitten ist. Der Autorin selbst geht es da nicht viel anders: "Ich habe selbst ein sehr komplexes Verhältnis zur Wirklichkeit. Die Krankheit meiner Mutter war ein solcher Bruch, ein solcher Einschnitt in unser bisheriges Leben, eine 360-Grad-Drehung, dass danach nichts mehr ganz eindeutig war. Ich denke, ich habe deshalb angefangen zu schreiben, um meine Wirklichkeit festzuhalten."
Mittlerweile fühlt sie sich in der Lage, damit zu spielen, und wird dafür belohnt: Mit "Nach einer wahren Geschichte", ihrem achten Roman, hatte die ehemalige Meinungsforscherin als Schriftstellerin ihren endgültigen Durchbruch. Im vergangenen Herbst war sie in der ersten Runde des Prix Goncourt nominiert und wurde mit dem prestigereichen Prix Renaudot und dem Goncourt des Lycéens ausgezeichnet. Für die Verfilmung haben sich Roman Polanski und Olivier Assayas schon im Frühling gemeldet, Ende des Jahres sollen die Dreharbeiten beendet sein. Es läuft also weiterhin sehr gut für Delphine de Vigan. Wie übersteht sie diesen erneuten Unfall?
Ganz okay, sie schaut dem nächsten schon lächelnd entgegen.
ANNABELLE HIRSCH
Delphine de Vigan: "Nach einer wahren Geschichte". Roman. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. Dumont-Verlag, 350 Seiten, 23 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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