Für Liebende riecht Stroh anders als für Pferde 'Nach oben ist das Leben offen' erzählt von Gipfelstürmen und Abstürzen, vom Streben nach oben und von der Suche in der Tiefe. Eine Bergsteigertruppe, ein redseliger Tiefseetaucher, Besucher einer Shopping Mall oder Zugreisende - Schönthaler zeigt mit unverhohlenem Blick den heutigen Mensch in seiner Lebenswelt, der er zugleich ausgesetzt und entfremdet ist. Er erzeugt hyperrealistische Portraits, in denen er seine Protagonisten bis in den letzten Winkel durchleuchtet. In seiner präzisen und dichten Art zu erzählen, mit formaler Kühnheit und originellen Perspektiven durchleuchtet Schönthaler die moderne Gesellschaft. Anspielungsreich und scharf sezierend findet er in seinem ungewöhnlichen Prosadebut einen unerhört reifen, eigenen Ton, der in Atem hält, verführt - und listig mit Brüchen und Irritationen den Leser herausfordert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2012In eisigen Höhen
Leistungsstreber: Philipp Schönthalers Erzählungen
Es ist jetzt zwölf Jahre her, dass Kathrin Röggla mit "Irres Wetter" einen rasanten Ton anschlug, eine Nuance anders als alle vor ihr und mit einem sicheren Gespür für die Merkwürdigkeit der Zeit, die eine neue Seh- und Erzählgewohnheit bescherte. Seitdem ist er nicht mehr verklungen, dieser Ton, den viele nur englisch "Sound" nannten, weil er die Gegenwart in Rhythmus und Musik goss.
Der 1976 in Stuttgart geborene, in Konstanz lebende Philipp Schönthaler ist ein Abkömmling dieser Literatur und sein vorliegender erster Erzählungsband vielversprechend: "Nach oben ist das Leben offen" heißt er, und schon die Titelgeschichte, die im Hochgebirge spielt, führt in die dünne Luft, die scheinbar sichere Lebenskonzepte umweht. Eine Leistungselite ist hier in einem Sportheim geparkt, um fit gemacht zu werden zwischen Wettkämpfen. Man trainiert und bespricht Taktiken, schimpft auf die Mahlzeiten und leert hastig die Teller. Erzählt wird aus Sicht des Kollektivs. Am Anfang ist dieses "wir" stark gegen Wetterlagen; aber Anspannung und Erschöpfung wechseln, und die täglichen Übungen wiederholen sich. Dann stirbt einer, und alles nimmt eine neue Färbung an.
Philipp Schönthaler bildet das Einerlei ab, in das jede Form von Leben irgendwann gerät - beim Einkauf in der Shopping Mall; beim Gang einer lebensuntauglichen, früh verrenteten Sechsunddreißigjährigen durch unzählige Klinikaufenthalte. Selbst die Versuche eines modernen Lifestylers, innere Achtsamkeit zu erlernen, werden parodiert, ironisiert, zu purem Floskelmaterial zerrieben. In jedem redseligen Vorhaben lauert Überdruss. Wer die Welt mit Fachwissen über Knochen- und Hirnaufbau kommentiert, verschwindet bald hinter allem Text und verkommt zum Wikipediamaschinchen.
Rundum geisteswissenschaftlich geschult - Schönthaler wurde 2010 über "Negative Poetik" promoviert -, schält er die Symptome einer Multioptionsgesellschaft heraus. Denn eines ist diesen neurotischen Einkäufern, Tauchern, Bergsteigern, Reisenden gemein: Sie sind verführbar und verschiebbar, oft ohne Kontur, weil es zu viele Möglichkeiten der Lebensgestaltung gibt. Die vermeintliche Freiheit schafft ihrerseits einen abgeschlossenen Raum, der handlungsunfähig macht, trotz moderner Lebenserleichterungstechniken wie mentales Training oder Entspannung nach Jacobsen.
Beachtlich sind aber nicht diese mit Ratgeberliteratur oder Theorie gut gefüllten Figuren, kühn ist der sezierende Blick auf sie und wie Schönthaler sie zum Sprechen bringt. Er arbeitet wie ein Chirurg, der während einer Schönheitsoperation mit leiser Ironie und ohne viel Bedauern schon das Geschwür sieht. Das Kuriose entsteht beim Beobachten der Figuren, die sich so schnell beruhigen lassen, etwa wenn "wilhelm helmut" zwischen den Geschäften verliert: "doch da ertönt schon die vertraute lautsprecherstimme, ruft seinen namen. wilhelm atmet erleichtert auf, greift seinen regenschirm, macht sich auf den weg. die dinge nehmen einen guten lauf - bei orientierungsverlust steht jederzeit die dame am infocenter zur verfügung, sagt die dame am infocenter, das prinzip der floormap ist schnell erklärt", als Verkehrssystem mit Knotenpunkten, die "Attraktionspole" bilden. Die Kleinschreibung mag Marotte sein, entfaltet aber ihren Effekt: Alles zieht rasend schnell vorbei. Die urbanen, funktionalen Räume bilden eine kühle Kulisse, die beklemmend wirkt. Hinter den Erzählungen, in denen sich Körper an Körper räkeln, öffnen sich Abgründe, in die leider fast niemand schaut. Stattdessen wechselt man das Standbein.
Vor allem den Leistungsstrebern gilt Schönthalers Interesse. "Wenn das Herz im eigenen Blut ertrinkt" erzählt von einem bekannten Taucher, einem maßlosen Grenzgänger und einem der traurigsten Redner. Seine Trainingstage bis zum entscheidenden Tauchgang dienen einzig der Körperkontrolle, wie er jeden ständig wissen lässt. Medizinische Fakten reichert er dabei gern philosophisch an. Seine Sportlerrhetorik hat Niveau, verläppert aber in einen leeren Raum, weil die Zuhörer ständig wechseln. Ihre Austauschbarkeit zeigt seine Beziehungslosigkeit. Und als er sogar am Flughafen mit großspuriger Eleganz die Servicedame über die Vorgänge in der Lunge beim Hochsteigen belehrt, ahnt man, wie klein sein Kosmos ist. Sein Verlangen nach der Extremerfahrung hat das Empfinden für andere Menschen gekappt.
Vermutlich trifft Schönthaler damit den Zeitgeist. Wie er die Figuren in einer impulsiven, faktengesättigten Sprache denken und miteinander reden lässt, ist so beeindruckend wie erschreckend. Er reduziert sie in ihrem Strebertum auf das, was sie jeweils gerade als Projekt bearbeiten: den Körper, die Seele, die Emotion. Die Emsigkeit, mit der sie antreten, ist enorm. Doch nichts hält, was es verspricht. Die schicke Einkaufsmall stürzt ein; die lebensrettenden Sätze zerfallen bei genauem Hinschauen zu Staub.
Vor lauter materialisierter Gegenwart wirkt manche Erzählung etwas unbelebt oder übererregt, verkopft oder künstlich. Tatsächlich hat diese Prosa manchmal einen leichten Elfriede-Jelinek-Effekt und wird als Materialsammlung, hinter der das Detail verschwindet, zur bewegten Fläche ohne Horizont. Dagegen hilft das formale Korsett, das der Autor seinen Erzählungen anzulegen versucht - ordnende Leitmotive, wiederkehrende Einstiegsformeln, rhythmisierte Absätze, fließende Litanei, je nach Thema. Die Porträtierten wirken so immer leicht verzerrt, wie unpassende Bildbestandteile einer größeren Komposition, deren Gesamtheit sie nicht kennen.
Zu einer Zeit, wo täglich neue Sachbücher das große Spektrum unserer Gefühle zur bloßen physiologischen Aktion erklären, bilden diese Erzählungen das natürliche Korrelat. Und zum Glück hat Schönthaler sich einen Blick für Komik bewahrt. Es gibt in dieser sterilen Welt den banalen Tagebucheintrag oder gar das "Gefühlsprotokoll nach linehan/holler", das zum Beispiel Rudolf täglich anfertigt, auch beim Gang ins Schwimmbad und auf den Sprungturm: "am beckenrand tuschelt eine gruppe schülerinnen, sie lachen. wiederholt versucht, das eigene profil in der reflexion der weißen fliesen zu erkennen. sehr undeutlich. beim zweiten mal dann doch wieder vom sprungtrum hinabgestiegen. in halber höhe zusammenstoß mit einem aufsteigenden herrn. geschämt. vielleicht doch zur ganzkörperenthaarung? anschließend 400 gramm hinterschinken gekauft, 250 gramm leberwurst, 2 liter h-milch (fettarm), grießbrei."
Die Welt ist, wie sie ist. Schönthaler stellt sie liebevoll bloß und führt sie in ihrer Absurdität vor.
ANJA HIRSCH
Philipp Schönthaler: "Nach oben ist das Leben offen". Erzählungen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012. 201 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Leistungsstreber: Philipp Schönthalers Erzählungen
Es ist jetzt zwölf Jahre her, dass Kathrin Röggla mit "Irres Wetter" einen rasanten Ton anschlug, eine Nuance anders als alle vor ihr und mit einem sicheren Gespür für die Merkwürdigkeit der Zeit, die eine neue Seh- und Erzählgewohnheit bescherte. Seitdem ist er nicht mehr verklungen, dieser Ton, den viele nur englisch "Sound" nannten, weil er die Gegenwart in Rhythmus und Musik goss.
Der 1976 in Stuttgart geborene, in Konstanz lebende Philipp Schönthaler ist ein Abkömmling dieser Literatur und sein vorliegender erster Erzählungsband vielversprechend: "Nach oben ist das Leben offen" heißt er, und schon die Titelgeschichte, die im Hochgebirge spielt, führt in die dünne Luft, die scheinbar sichere Lebenskonzepte umweht. Eine Leistungselite ist hier in einem Sportheim geparkt, um fit gemacht zu werden zwischen Wettkämpfen. Man trainiert und bespricht Taktiken, schimpft auf die Mahlzeiten und leert hastig die Teller. Erzählt wird aus Sicht des Kollektivs. Am Anfang ist dieses "wir" stark gegen Wetterlagen; aber Anspannung und Erschöpfung wechseln, und die täglichen Übungen wiederholen sich. Dann stirbt einer, und alles nimmt eine neue Färbung an.
Philipp Schönthaler bildet das Einerlei ab, in das jede Form von Leben irgendwann gerät - beim Einkauf in der Shopping Mall; beim Gang einer lebensuntauglichen, früh verrenteten Sechsunddreißigjährigen durch unzählige Klinikaufenthalte. Selbst die Versuche eines modernen Lifestylers, innere Achtsamkeit zu erlernen, werden parodiert, ironisiert, zu purem Floskelmaterial zerrieben. In jedem redseligen Vorhaben lauert Überdruss. Wer die Welt mit Fachwissen über Knochen- und Hirnaufbau kommentiert, verschwindet bald hinter allem Text und verkommt zum Wikipediamaschinchen.
Rundum geisteswissenschaftlich geschult - Schönthaler wurde 2010 über "Negative Poetik" promoviert -, schält er die Symptome einer Multioptionsgesellschaft heraus. Denn eines ist diesen neurotischen Einkäufern, Tauchern, Bergsteigern, Reisenden gemein: Sie sind verführbar und verschiebbar, oft ohne Kontur, weil es zu viele Möglichkeiten der Lebensgestaltung gibt. Die vermeintliche Freiheit schafft ihrerseits einen abgeschlossenen Raum, der handlungsunfähig macht, trotz moderner Lebenserleichterungstechniken wie mentales Training oder Entspannung nach Jacobsen.
Beachtlich sind aber nicht diese mit Ratgeberliteratur oder Theorie gut gefüllten Figuren, kühn ist der sezierende Blick auf sie und wie Schönthaler sie zum Sprechen bringt. Er arbeitet wie ein Chirurg, der während einer Schönheitsoperation mit leiser Ironie und ohne viel Bedauern schon das Geschwür sieht. Das Kuriose entsteht beim Beobachten der Figuren, die sich so schnell beruhigen lassen, etwa wenn "wilhelm helmut" zwischen den Geschäften verliert: "doch da ertönt schon die vertraute lautsprecherstimme, ruft seinen namen. wilhelm atmet erleichtert auf, greift seinen regenschirm, macht sich auf den weg. die dinge nehmen einen guten lauf - bei orientierungsverlust steht jederzeit die dame am infocenter zur verfügung, sagt die dame am infocenter, das prinzip der floormap ist schnell erklärt", als Verkehrssystem mit Knotenpunkten, die "Attraktionspole" bilden. Die Kleinschreibung mag Marotte sein, entfaltet aber ihren Effekt: Alles zieht rasend schnell vorbei. Die urbanen, funktionalen Räume bilden eine kühle Kulisse, die beklemmend wirkt. Hinter den Erzählungen, in denen sich Körper an Körper räkeln, öffnen sich Abgründe, in die leider fast niemand schaut. Stattdessen wechselt man das Standbein.
Vor allem den Leistungsstrebern gilt Schönthalers Interesse. "Wenn das Herz im eigenen Blut ertrinkt" erzählt von einem bekannten Taucher, einem maßlosen Grenzgänger und einem der traurigsten Redner. Seine Trainingstage bis zum entscheidenden Tauchgang dienen einzig der Körperkontrolle, wie er jeden ständig wissen lässt. Medizinische Fakten reichert er dabei gern philosophisch an. Seine Sportlerrhetorik hat Niveau, verläppert aber in einen leeren Raum, weil die Zuhörer ständig wechseln. Ihre Austauschbarkeit zeigt seine Beziehungslosigkeit. Und als er sogar am Flughafen mit großspuriger Eleganz die Servicedame über die Vorgänge in der Lunge beim Hochsteigen belehrt, ahnt man, wie klein sein Kosmos ist. Sein Verlangen nach der Extremerfahrung hat das Empfinden für andere Menschen gekappt.
Vermutlich trifft Schönthaler damit den Zeitgeist. Wie er die Figuren in einer impulsiven, faktengesättigten Sprache denken und miteinander reden lässt, ist so beeindruckend wie erschreckend. Er reduziert sie in ihrem Strebertum auf das, was sie jeweils gerade als Projekt bearbeiten: den Körper, die Seele, die Emotion. Die Emsigkeit, mit der sie antreten, ist enorm. Doch nichts hält, was es verspricht. Die schicke Einkaufsmall stürzt ein; die lebensrettenden Sätze zerfallen bei genauem Hinschauen zu Staub.
Vor lauter materialisierter Gegenwart wirkt manche Erzählung etwas unbelebt oder übererregt, verkopft oder künstlich. Tatsächlich hat diese Prosa manchmal einen leichten Elfriede-Jelinek-Effekt und wird als Materialsammlung, hinter der das Detail verschwindet, zur bewegten Fläche ohne Horizont. Dagegen hilft das formale Korsett, das der Autor seinen Erzählungen anzulegen versucht - ordnende Leitmotive, wiederkehrende Einstiegsformeln, rhythmisierte Absätze, fließende Litanei, je nach Thema. Die Porträtierten wirken so immer leicht verzerrt, wie unpassende Bildbestandteile einer größeren Komposition, deren Gesamtheit sie nicht kennen.
Zu einer Zeit, wo täglich neue Sachbücher das große Spektrum unserer Gefühle zur bloßen physiologischen Aktion erklären, bilden diese Erzählungen das natürliche Korrelat. Und zum Glück hat Schönthaler sich einen Blick für Komik bewahrt. Es gibt in dieser sterilen Welt den banalen Tagebucheintrag oder gar das "Gefühlsprotokoll nach linehan/holler", das zum Beispiel Rudolf täglich anfertigt, auch beim Gang ins Schwimmbad und auf den Sprungturm: "am beckenrand tuschelt eine gruppe schülerinnen, sie lachen. wiederholt versucht, das eigene profil in der reflexion der weißen fliesen zu erkennen. sehr undeutlich. beim zweiten mal dann doch wieder vom sprungtrum hinabgestiegen. in halber höhe zusammenstoß mit einem aufsteigenden herrn. geschämt. vielleicht doch zur ganzkörperenthaarung? anschließend 400 gramm hinterschinken gekauft, 250 gramm leberwurst, 2 liter h-milch (fettarm), grießbrei."
Die Welt ist, wie sie ist. Schönthaler stellt sie liebevoll bloß und führt sie in ihrer Absurdität vor.
ANJA HIRSCH
Philipp Schönthaler: "Nach oben ist das Leben offen". Erzählungen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012. 201 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Toller Start, meint Sibylle Cramer großzügig zu diesem Debüt von Philipp Schönthaler, dem sie einiges an analytischer Schärfe und kritischem Verstand abgewinnen kann. Der Autor, scheints, hat jede Menge davon in seine Geschichten gepackt, die von der Leistungsgesellschaft handeln und von den Hamsterrädern und Streckbänken, die wir uns selber bauen. Darüber hinaus überzeugt Kramer der Autor durch ein dichtes Motivnetz, durch das die Texte miteinander verknüpft sind, sowie die Nähe des Autors zu seinen Figuren, trotz allem. Das zeitsatirisch witzige Moment der Erzählungen ist für Kramer also nur ein erster Anreiz, es folgt der Autor auf der Höhe verfügbarer künstlerischer Mittel und mit Poesie, Gelehrsamkeit, Kritik. Ein "phantastischer Anfang, in dem schöne Fortsetzungen keimen".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.08.2012Die Wirbelsäule als Himmelsleiter
„Der glykämische Index von Kaiserbrötchen ist katastrophal“: In seinem Debüt „Nach oben ist das Leben offen“
erzählt Philipp Schönthaler von den modernen Exerzitien der Ertüchtigung des Körpers und der Seele
VON SIBYLLE CRAMER
Auf den ersten Blick überzeugen die treffliche Zeitsatire dieses Debüts, die polemisch geschärften Bilder unserer durchtrainierten, durchtherapierten Gesellschaft, die zur Optimierung der eigenen Lebensqualität im Himalaya auf Achttausendern und in Patagonien herumrennt, sich in geisterhaften Tiefen unter Barrakudas, Mantarochen und Streifengrundeln herumtreibt, am Arbeitsplatz auf wechselnde Anforderungsprofile flexibel reagiert und abends in Entspannungs- und Meditationsübungen die eigene Spiritualität vertieft.
Im Fortgang der Lektüre des Erzählungsbandes „Nach oben ist das Leben offen“ fallen dann die beträchtlichen künstlerischen Mittel des Autors ins Auge: die doppelzüngige, register- und anspielungsreiche Prosa, die Gegensinnigkeit des ungreifbaren, manifest nie hervortretenden Humors, die erfinderische Formenvielfalt. Der 35-jährige Philipp Schönthaler, in Stuttgart geboren, in Konstanz ansässig, gibt sich bei seinem literarischen Einstand als kritischer Geist zu erkennen, der mit dem Rücken zur marktgefügigen Literatur der Poesie Gelehrsamkeit und Wissen einverleibt. Das verrät der Anfang.
„ Das Wetter war den ganzen Tag unbeständig. Nach dem Mittagessen haben dicke, schwarze Wolken das Blau des Himmels bedeckt. Ein Höllengewitter hat dann bis zum Abend angehalten. “ Was der Anfang zu sein scheint, gibt sich durch Kursivdruck als Zitat zu erkennen. Der literarische Novize lässt der Institution Schrift den Vortritt. Auf der Liste zitierter oder paraphrasierter Werke im Anhang des Buchs tauchen unter dem Stichwort „Extraordinär/Spitzenleistung“ die frühen Tagebücher Salvador Dalís auf, denen das Zitat entnommen ist.
Die nach Schlagwörtern geordneten Buchtitel stellen Kraft-, Trost- und Ratgeber, Trainings-, Diät-, Therapie- und Wellnessfibeln neben Simmel, Heidegger, Virilo, Baudrillard und Foucault. Sie könnten einem Glossar der Gegenwart entstammen, das zeittypische Alltagstechniken, Lebens- und Denkweisen kritisch auf ihre Rationalität und Steuerungsfunktionen untersucht.
Schönthaler erzählt unter Verzicht auf Affekte, Handlung, Ereignisse und ihre Formung zur Geschichte. Diejenigen der insgesamt elf Prosatexte, die dem Muster einer erzählten Geschichte nahekommen, sind Lehrgangs- und Trainingsberichte von Extremsportlern, Bergsteigern und Tauchern. Das tragische Ereignis, der Tod eines Teilnehmers, wird beiläufig erwähnt und abgetan. Im Mittelpunkt stehen die nackte Faktizität und monumentale Gleichförmigkeit des Übungs- und Lernprogramms in extremer Höhe und Tiefe.
Der Autor führt seine Darstellung exakt bis an den Umkehrpunkt, wo ihr anfangs- und endloser Wiederholungscharakter zutage tritt. Die Schinderei ist Mittel, Ergebnis und Ziel eines Programms der Leistungsoptimierung, das ein Durchhalten und die Überwindung der Erschöpfung durch Verdoppelung des Pensums gewährleistet. Als Ideologe des permanenten Ausnahmezustands tritt Dr. Behrens auf, der Totentanzmeister aus Thomas Manns „Zauberberg“.
Sisyphos, dem ewigen Steineschlepper und mythischen Paten der absurden Wiederholungshölle, huldigt eine Textmontage zum Thema Gefühl. In mehr als zwanzig Teiltexten, darunter Grund- und Merksätzen, Faustregeln, einem fortlaufenden Gefühlsprotokoll, einer Boxrunde und einer Fallgeschichte, treten eine Psychologieprofessorin auf, die leitende Managerin eines internationalen Hotelkonzerns, ein dozierender Spezialist für autosuggestive Stressbewältigung am Arbeitsplatz und eine Gruppe von Inselurlaubern. Stellvertretend für alle führt ein Paar den Segen von „gfk“ vor, gewaltfreier Kommunikation per Notizboard und Zetteln, auf denen sie sich ihre Gefühle in unvergifteter Form mitteilen.
Die Bilder vom zivilisatorischen Fortschritt der Herrschaft über die äußere und innere menschliche Natur konfrontiert der Autor in zwei kunstvoll gegenbildlich aufeinander bezogenen Einminutenromanen mit ihrer Gegengeschichte. Die Wiederkehr des verdrängten Mythos in der Ratio selbst spiegelt das intellektuelle Drama des Philosophen Blaise Pascal, der in der Nacht des 23. November 1654 eine Ekstase erlebt und den peinlichen Rückfall in archaische Erleuchtungstechniken vor der Nachwelt zu verheimlichen sucht; und wütend bricht sich eine ehemals übermächtige Natur im kannibalischen Gewaltausbruch des Boxers Mike Tyson im rematch um den Schwergewichtstitel Bahn. Pascal und Tyson rücken neben den modernen Sisyphos von Albert Camus, der sein Los nicht überwindet, aber im Bewusstseinsakt überschreitet.
Im Zusammenspiel mit den umgebenden Erzähltexten wird eine knappe Studie über das Gefühl als Schlüssel eines fragmentarisch gebauten Argumentationszusammenhangs kenntlich. Von Leistungsaktivierung und -optimierung handelt eine Montage, die Angestellte auf der mittleren Leitungsebene bei der Verfolgung ihres Lebensziels zeigt. Um Symptomen einer psychosomatischen und kognitiven Verlangsamung vorzubeugen, katapultieren Xaver, Gerda und Vera morgens, mittags und abends ihre Gliedmaßen himmelwärts, verlängern die Wirbelsäule imaginär zum Speer und geben sich der Suggestion von Bergbesteigungen mit abschließender segnender Umarmung der Welt hin. Sie haben Verhaltenstherapien, tiefenpsychologische Therapien, stationäre Psychotherapien, psychoanalytische Therapien, Gesprächstherapien sowie ein gemeinsames autogenes Training hinter sich, steuern unter strikter Vermeidung von Tiefpunkten Lebensläufe in aufsteigender Linie an, die direkt unter die Sonne des Erfolgs führen. In Skizzen zur Intensivierung des Lebens durch Shoppen, Reisen, Sport und Lernen wie in gegenläufigen Geschichten des Zauderns, Versagens, Verweigerns, Verschwindens komplettiert der Autor seine Untersuchung der Lenkungs- und Steuerungstechniken, denen sich der Alltag unserer Evaluierungs-, Wellness- und Freizeitgesellschaft verdankt.
Dem Prinzip erzählerischer Vorläufigkeit und konsequenter Vermeidung einer Zentralperspektive folgt Schönthaler en gros und en détail. Immer bleibt er nah bei seinen Figuren, auch wenn er allgemeine Sentenzen einstreut. In dem Maße aber, in dem die Lektüre fortschreitet, wird das dichte Netz von Motiven sichtbar, das die einzelnen Texte verknüpft. Es entfaltet sich die Argumentation einer die Phraseologie unserer Gesellschaft entlarvenden Kritik. Ihre Quintessenz lautet „nur in der wiederholung liegt die wahrheit“. Sie wird ausgerechnet von der Lachnummer eines Geistesmenschen formuliert, der die Anekdote über den stolpernden griechischen Philosophen Thales nachstellt. Mitten im intellektuellen Höhenflug, als er die Abstraktionswege des niederländischen Malers Piet Mondrian nachzieht, landet er bäuchlings im Morast.
Philipp Schönthaler erspart dem Leser einen Romandickhäuter zur Lage von Zeit und Gesellschaft, der sich auf labile individuelle Erfahrungen stützt. Er knüpft an ehrwürdige Traditionen analytischen Erzählens an, das Literatur als Kritik begreift. Dies Buch ist ein phantastischer Anfang, in dem schöne Fortsetzungen keimen.
Mike Tyson trifft in diesen
Erzählungen auf Sisyphos und
den Philosophen Blaise Pascal
„Grundsätzlich gilt: Der Körper ist wie ein Bankkonto. Nur wer einzahlt, kann auch abheben.“ Die Figuren in Philipp Schönthalers Erzählungen, moderne Großstadtbewohner, wissen: „Schön fünfzehn Minuten Training beugen den Symptomen der psychosomatischen Verlangsamung vor.“ Hier im Regierungsviertel von Washington.
FOTO: JOKER
Philipp Schönthaler: Nach oben ist das Leben offen. Erzählungen.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2012. 201 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Der glykämische Index von Kaiserbrötchen ist katastrophal“: In seinem Debüt „Nach oben ist das Leben offen“
erzählt Philipp Schönthaler von den modernen Exerzitien der Ertüchtigung des Körpers und der Seele
VON SIBYLLE CRAMER
Auf den ersten Blick überzeugen die treffliche Zeitsatire dieses Debüts, die polemisch geschärften Bilder unserer durchtrainierten, durchtherapierten Gesellschaft, die zur Optimierung der eigenen Lebensqualität im Himalaya auf Achttausendern und in Patagonien herumrennt, sich in geisterhaften Tiefen unter Barrakudas, Mantarochen und Streifengrundeln herumtreibt, am Arbeitsplatz auf wechselnde Anforderungsprofile flexibel reagiert und abends in Entspannungs- und Meditationsübungen die eigene Spiritualität vertieft.
Im Fortgang der Lektüre des Erzählungsbandes „Nach oben ist das Leben offen“ fallen dann die beträchtlichen künstlerischen Mittel des Autors ins Auge: die doppelzüngige, register- und anspielungsreiche Prosa, die Gegensinnigkeit des ungreifbaren, manifest nie hervortretenden Humors, die erfinderische Formenvielfalt. Der 35-jährige Philipp Schönthaler, in Stuttgart geboren, in Konstanz ansässig, gibt sich bei seinem literarischen Einstand als kritischer Geist zu erkennen, der mit dem Rücken zur marktgefügigen Literatur der Poesie Gelehrsamkeit und Wissen einverleibt. Das verrät der Anfang.
„ Das Wetter war den ganzen Tag unbeständig. Nach dem Mittagessen haben dicke, schwarze Wolken das Blau des Himmels bedeckt. Ein Höllengewitter hat dann bis zum Abend angehalten. “ Was der Anfang zu sein scheint, gibt sich durch Kursivdruck als Zitat zu erkennen. Der literarische Novize lässt der Institution Schrift den Vortritt. Auf der Liste zitierter oder paraphrasierter Werke im Anhang des Buchs tauchen unter dem Stichwort „Extraordinär/Spitzenleistung“ die frühen Tagebücher Salvador Dalís auf, denen das Zitat entnommen ist.
Die nach Schlagwörtern geordneten Buchtitel stellen Kraft-, Trost- und Ratgeber, Trainings-, Diät-, Therapie- und Wellnessfibeln neben Simmel, Heidegger, Virilo, Baudrillard und Foucault. Sie könnten einem Glossar der Gegenwart entstammen, das zeittypische Alltagstechniken, Lebens- und Denkweisen kritisch auf ihre Rationalität und Steuerungsfunktionen untersucht.
Schönthaler erzählt unter Verzicht auf Affekte, Handlung, Ereignisse und ihre Formung zur Geschichte. Diejenigen der insgesamt elf Prosatexte, die dem Muster einer erzählten Geschichte nahekommen, sind Lehrgangs- und Trainingsberichte von Extremsportlern, Bergsteigern und Tauchern. Das tragische Ereignis, der Tod eines Teilnehmers, wird beiläufig erwähnt und abgetan. Im Mittelpunkt stehen die nackte Faktizität und monumentale Gleichförmigkeit des Übungs- und Lernprogramms in extremer Höhe und Tiefe.
Der Autor führt seine Darstellung exakt bis an den Umkehrpunkt, wo ihr anfangs- und endloser Wiederholungscharakter zutage tritt. Die Schinderei ist Mittel, Ergebnis und Ziel eines Programms der Leistungsoptimierung, das ein Durchhalten und die Überwindung der Erschöpfung durch Verdoppelung des Pensums gewährleistet. Als Ideologe des permanenten Ausnahmezustands tritt Dr. Behrens auf, der Totentanzmeister aus Thomas Manns „Zauberberg“.
Sisyphos, dem ewigen Steineschlepper und mythischen Paten der absurden Wiederholungshölle, huldigt eine Textmontage zum Thema Gefühl. In mehr als zwanzig Teiltexten, darunter Grund- und Merksätzen, Faustregeln, einem fortlaufenden Gefühlsprotokoll, einer Boxrunde und einer Fallgeschichte, treten eine Psychologieprofessorin auf, die leitende Managerin eines internationalen Hotelkonzerns, ein dozierender Spezialist für autosuggestive Stressbewältigung am Arbeitsplatz und eine Gruppe von Inselurlaubern. Stellvertretend für alle führt ein Paar den Segen von „gfk“ vor, gewaltfreier Kommunikation per Notizboard und Zetteln, auf denen sie sich ihre Gefühle in unvergifteter Form mitteilen.
Die Bilder vom zivilisatorischen Fortschritt der Herrschaft über die äußere und innere menschliche Natur konfrontiert der Autor in zwei kunstvoll gegenbildlich aufeinander bezogenen Einminutenromanen mit ihrer Gegengeschichte. Die Wiederkehr des verdrängten Mythos in der Ratio selbst spiegelt das intellektuelle Drama des Philosophen Blaise Pascal, der in der Nacht des 23. November 1654 eine Ekstase erlebt und den peinlichen Rückfall in archaische Erleuchtungstechniken vor der Nachwelt zu verheimlichen sucht; und wütend bricht sich eine ehemals übermächtige Natur im kannibalischen Gewaltausbruch des Boxers Mike Tyson im rematch um den Schwergewichtstitel Bahn. Pascal und Tyson rücken neben den modernen Sisyphos von Albert Camus, der sein Los nicht überwindet, aber im Bewusstseinsakt überschreitet.
Im Zusammenspiel mit den umgebenden Erzähltexten wird eine knappe Studie über das Gefühl als Schlüssel eines fragmentarisch gebauten Argumentationszusammenhangs kenntlich. Von Leistungsaktivierung und -optimierung handelt eine Montage, die Angestellte auf der mittleren Leitungsebene bei der Verfolgung ihres Lebensziels zeigt. Um Symptomen einer psychosomatischen und kognitiven Verlangsamung vorzubeugen, katapultieren Xaver, Gerda und Vera morgens, mittags und abends ihre Gliedmaßen himmelwärts, verlängern die Wirbelsäule imaginär zum Speer und geben sich der Suggestion von Bergbesteigungen mit abschließender segnender Umarmung der Welt hin. Sie haben Verhaltenstherapien, tiefenpsychologische Therapien, stationäre Psychotherapien, psychoanalytische Therapien, Gesprächstherapien sowie ein gemeinsames autogenes Training hinter sich, steuern unter strikter Vermeidung von Tiefpunkten Lebensläufe in aufsteigender Linie an, die direkt unter die Sonne des Erfolgs führen. In Skizzen zur Intensivierung des Lebens durch Shoppen, Reisen, Sport und Lernen wie in gegenläufigen Geschichten des Zauderns, Versagens, Verweigerns, Verschwindens komplettiert der Autor seine Untersuchung der Lenkungs- und Steuerungstechniken, denen sich der Alltag unserer Evaluierungs-, Wellness- und Freizeitgesellschaft verdankt.
Dem Prinzip erzählerischer Vorläufigkeit und konsequenter Vermeidung einer Zentralperspektive folgt Schönthaler en gros und en détail. Immer bleibt er nah bei seinen Figuren, auch wenn er allgemeine Sentenzen einstreut. In dem Maße aber, in dem die Lektüre fortschreitet, wird das dichte Netz von Motiven sichtbar, das die einzelnen Texte verknüpft. Es entfaltet sich die Argumentation einer die Phraseologie unserer Gesellschaft entlarvenden Kritik. Ihre Quintessenz lautet „nur in der wiederholung liegt die wahrheit“. Sie wird ausgerechnet von der Lachnummer eines Geistesmenschen formuliert, der die Anekdote über den stolpernden griechischen Philosophen Thales nachstellt. Mitten im intellektuellen Höhenflug, als er die Abstraktionswege des niederländischen Malers Piet Mondrian nachzieht, landet er bäuchlings im Morast.
Philipp Schönthaler erspart dem Leser einen Romandickhäuter zur Lage von Zeit und Gesellschaft, der sich auf labile individuelle Erfahrungen stützt. Er knüpft an ehrwürdige Traditionen analytischen Erzählens an, das Literatur als Kritik begreift. Dies Buch ist ein phantastischer Anfang, in dem schöne Fortsetzungen keimen.
Mike Tyson trifft in diesen
Erzählungen auf Sisyphos und
den Philosophen Blaise Pascal
„Grundsätzlich gilt: Der Körper ist wie ein Bankkonto. Nur wer einzahlt, kann auch abheben.“ Die Figuren in Philipp Schönthalers Erzählungen, moderne Großstadtbewohner, wissen: „Schön fünfzehn Minuten Training beugen den Symptomen der psychosomatischen Verlangsamung vor.“ Hier im Regierungsviertel von Washington.
FOTO: JOKER
Philipp Schönthaler: Nach oben ist das Leben offen. Erzählungen.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2012. 201 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de