Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Leistungsstreber: Philipp Schönthalers Erzählungen
Es ist jetzt zwölf Jahre her, dass Kathrin Röggla mit "Irres Wetter" einen rasanten Ton anschlug, eine Nuance anders als alle vor ihr und mit einem sicheren Gespür für die Merkwürdigkeit der Zeit, die eine neue Seh- und Erzählgewohnheit bescherte. Seitdem ist er nicht mehr verklungen, dieser Ton, den viele nur englisch "Sound" nannten, weil er die Gegenwart in Rhythmus und Musik goss.
Der 1976 in Stuttgart geborene, in Konstanz lebende Philipp Schönthaler ist ein Abkömmling dieser Literatur und sein vorliegender erster Erzählungsband vielversprechend: "Nach oben ist das Leben offen" heißt er, und schon die Titelgeschichte, die im Hochgebirge spielt, führt in die dünne Luft, die scheinbar sichere Lebenskonzepte umweht. Eine Leistungselite ist hier in einem Sportheim geparkt, um fit gemacht zu werden zwischen Wettkämpfen. Man trainiert und bespricht Taktiken, schimpft auf die Mahlzeiten und leert hastig die Teller. Erzählt wird aus Sicht des Kollektivs. Am Anfang ist dieses "wir" stark gegen Wetterlagen; aber Anspannung und Erschöpfung wechseln, und die täglichen Übungen wiederholen sich. Dann stirbt einer, und alles nimmt eine neue Färbung an.
Philipp Schönthaler bildet das Einerlei ab, in das jede Form von Leben irgendwann gerät - beim Einkauf in der Shopping Mall; beim Gang einer lebensuntauglichen, früh verrenteten Sechsunddreißigjährigen durch unzählige Klinikaufenthalte. Selbst die Versuche eines modernen Lifestylers, innere Achtsamkeit zu erlernen, werden parodiert, ironisiert, zu purem Floskelmaterial zerrieben. In jedem redseligen Vorhaben lauert Überdruss. Wer die Welt mit Fachwissen über Knochen- und Hirnaufbau kommentiert, verschwindet bald hinter allem Text und verkommt zum Wikipediamaschinchen.
Rundum geisteswissenschaftlich geschult - Schönthaler wurde 2010 über "Negative Poetik" promoviert -, schält er die Symptome einer Multioptionsgesellschaft heraus. Denn eines ist diesen neurotischen Einkäufern, Tauchern, Bergsteigern, Reisenden gemein: Sie sind verführbar und verschiebbar, oft ohne Kontur, weil es zu viele Möglichkeiten der Lebensgestaltung gibt. Die vermeintliche Freiheit schafft ihrerseits einen abgeschlossenen Raum, der handlungsunfähig macht, trotz moderner Lebenserleichterungstechniken wie mentales Training oder Entspannung nach Jacobsen.
Beachtlich sind aber nicht diese mit Ratgeberliteratur oder Theorie gut gefüllten Figuren, kühn ist der sezierende Blick auf sie und wie Schönthaler sie zum Sprechen bringt. Er arbeitet wie ein Chirurg, der während einer Schönheitsoperation mit leiser Ironie und ohne viel Bedauern schon das Geschwür sieht. Das Kuriose entsteht beim Beobachten der Figuren, die sich so schnell beruhigen lassen, etwa wenn "wilhelm helmut" zwischen den Geschäften verliert: "doch da ertönt schon die vertraute lautsprecherstimme, ruft seinen namen. wilhelm atmet erleichtert auf, greift seinen regenschirm, macht sich auf den weg. die dinge nehmen einen guten lauf - bei orientierungsverlust steht jederzeit die dame am infocenter zur verfügung, sagt die dame am infocenter, das prinzip der floormap ist schnell erklärt", als Verkehrssystem mit Knotenpunkten, die "Attraktionspole" bilden. Die Kleinschreibung mag Marotte sein, entfaltet aber ihren Effekt: Alles zieht rasend schnell vorbei. Die urbanen, funktionalen Räume bilden eine kühle Kulisse, die beklemmend wirkt. Hinter den Erzählungen, in denen sich Körper an Körper räkeln, öffnen sich Abgründe, in die leider fast niemand schaut. Stattdessen wechselt man das Standbein.
Vor allem den Leistungsstrebern gilt Schönthalers Interesse. "Wenn das Herz im eigenen Blut ertrinkt" erzählt von einem bekannten Taucher, einem maßlosen Grenzgänger und einem der traurigsten Redner. Seine Trainingstage bis zum entscheidenden Tauchgang dienen einzig der Körperkontrolle, wie er jeden ständig wissen lässt. Medizinische Fakten reichert er dabei gern philosophisch an. Seine Sportlerrhetorik hat Niveau, verläppert aber in einen leeren Raum, weil die Zuhörer ständig wechseln. Ihre Austauschbarkeit zeigt seine Beziehungslosigkeit. Und als er sogar am Flughafen mit großspuriger Eleganz die Servicedame über die Vorgänge in der Lunge beim Hochsteigen belehrt, ahnt man, wie klein sein Kosmos ist. Sein Verlangen nach der Extremerfahrung hat das Empfinden für andere Menschen gekappt.
Vermutlich trifft Schönthaler damit den Zeitgeist. Wie er die Figuren in einer impulsiven, faktengesättigten Sprache denken und miteinander reden lässt, ist so beeindruckend wie erschreckend. Er reduziert sie in ihrem Strebertum auf das, was sie jeweils gerade als Projekt bearbeiten: den Körper, die Seele, die Emotion. Die Emsigkeit, mit der sie antreten, ist enorm. Doch nichts hält, was es verspricht. Die schicke Einkaufsmall stürzt ein; die lebensrettenden Sätze zerfallen bei genauem Hinschauen zu Staub.
Vor lauter materialisierter Gegenwart wirkt manche Erzählung etwas unbelebt oder übererregt, verkopft oder künstlich. Tatsächlich hat diese Prosa manchmal einen leichten Elfriede-Jelinek-Effekt und wird als Materialsammlung, hinter der das Detail verschwindet, zur bewegten Fläche ohne Horizont. Dagegen hilft das formale Korsett, das der Autor seinen Erzählungen anzulegen versucht - ordnende Leitmotive, wiederkehrende Einstiegsformeln, rhythmisierte Absätze, fließende Litanei, je nach Thema. Die Porträtierten wirken so immer leicht verzerrt, wie unpassende Bildbestandteile einer größeren Komposition, deren Gesamtheit sie nicht kennen.
Zu einer Zeit, wo täglich neue Sachbücher das große Spektrum unserer Gefühle zur bloßen physiologischen Aktion erklären, bilden diese Erzählungen das natürliche Korrelat. Und zum Glück hat Schönthaler sich einen Blick für Komik bewahrt. Es gibt in dieser sterilen Welt den banalen Tagebucheintrag oder gar das "Gefühlsprotokoll nach linehan/holler", das zum Beispiel Rudolf täglich anfertigt, auch beim Gang ins Schwimmbad und auf den Sprungturm: "am beckenrand tuschelt eine gruppe schülerinnen, sie lachen. wiederholt versucht, das eigene profil in der reflexion der weißen fliesen zu erkennen. sehr undeutlich. beim zweiten mal dann doch wieder vom sprungtrum hinabgestiegen. in halber höhe zusammenstoß mit einem aufsteigenden herrn. geschämt. vielleicht doch zur ganzkörperenthaarung? anschließend 400 gramm hinterschinken gekauft, 250 gramm leberwurst, 2 liter h-milch (fettarm), grießbrei."
Die Welt ist, wie sie ist. Schönthaler stellt sie liebevoll bloß und führt sie in ihrer Absurdität vor.
ANJA HIRSCH
Philipp Schönthaler: "Nach oben ist das Leben offen". Erzählungen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012. 201 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH