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Der Roman "Nachhinein" erzählt von der Entwicklung zweier Mädchen und ihrer schwierigen Freundschaft. Zwischen beiden gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die eine wächst gut behütet auf und wird geliebt, darf sogar rebellisch sein, die andere hingegen kommt aus schwierigen sozialen Verhältnissen, wird angegriffen und in ihrer Familie missbraucht. Bald verändert dies auch die Beziehung der Mädchen zueinander, die von kindlicher Liebe, bald auch von Eifersucht und erwachender Sexualität, von Machtspielen und Grausamkeit geprägt wird. Bis die Ereignisse außer Kontrolle geraten ... Im Juli…mehr

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Produktbeschreibung
Der Roman "Nachhinein" erzählt von der Entwicklung zweier Mädchen und ihrer schwierigen Freundschaft. Zwischen beiden gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die eine wächst gut behütet auf und wird geliebt, darf sogar rebellisch sein, die andere hingegen kommt aus schwierigen sozialen Verhältnissen, wird angegriffen und in ihrer Familie missbraucht. Bald verändert dies auch die Beziehung der Mädchen zueinander, die von kindlicher Liebe, bald auch von Eifersucht und erwachender Sexualität, von Machtspielen und Grausamkeit geprägt wird. Bis die Ereignisse außer Kontrolle geraten ... Im Juli 2012 erhielt Lisa Kränzler den 3sat-Preis beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb für einen Auszug aus diesem Roman. "Ein sehr intensiver und durchkonstruierter Text, dabei aber nicht spröde - hier wird der Leser wieder seinen eigenen Kindheitserfahrungen ausgesetzt", meinte seinerzeit der Juror Paul Jandl. "Nachhinein" war nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2013.

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Autorenporträt
Lisa Kränzler, geboren 1983, ist bildende Künstlerin und lebt in Freiburg. Sie studierte Malerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe und war 2010/11 Meisterschülerin bei Prof. Tatjana Doll. 2012 erschien im Verbrecher Verlag ihr Debütroman "Export A".
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mäßigung ist Lisa Kränzlers Sache nicht, verrät Rezensentin Alexandra von Arx, die der Autorin ihren sprachlichen und erzählerischen Wagemut allerdings hoch anrechnet. In ihrem neuen Roman "Nachhinein" geht es wieder um die Kindheit, um zwei Kindheiten eigentlich, berichtet die Rezensentin, um das behütete und optimal geförderte Akademikerkind "LottaLuisaLuzia" und um ihre beste Freundin "JasminCelineJustine", die zwar nur über die Straße wohnt, deren Familie jedoch verwahrlost und gewaltbereit ist. Zwei Gegensätze, erklärt die Rezensentin und zitiert: "Hüben Lehrplan, drüben Schichtplan; da Eigenheim, dort Mietwohnung; rechts Standpauke, links Arschvoll." Das schürt von vorneherein eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber dem Ausgang dieser Freundschaft, von der auch nicht abgewichen wird: Sie scheitert. Und dennoch ist die Lektüre schockierend und beunruhigend, gesteht Arx.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2013

Rebellion der Armut und der Angst

Ein Sozialroman, ja, das muss jetzt sein, in einer Welt, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Was ist das für ein Leben, wenn es nur aus Arbeit für lächerlichen Lohn besteht? Lisa Kränzler hat mit "Nachhinein" einen Roman aus dem Epizentrum unserer Zeit geschrieben

Ob er leben könne, ohne zu schreiben, das sei die einzige Frage, die er sich stellen müsse, schrieb Rainer Maria Rilke im Februar 1903 an jenen etwas aufdringlichen, unsicheren jungen Lyriker, der ihm seine Gedichte zur Prüfung vorgelegt hatte. Ob er wirklich schreiben müsse. "Und wenn Sie mit einem starken und einfachen ich muß dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit."

An dieser einfachen, klaren Rilke-Formel hat sich in den folgenden 110 Jahren nichts geändert. Der Dichter, der ihm damals schrieb, hieß Franz Xaver Kappus, und er war so stolz auf Rilkes Antwort, dass er sofort zurückschrieb und darüber ganz die Botschaft überlas, die ihm dieser so höflich überbracht hatte: dass er, Kappus, wohl kein Dichter sei. Dass seine Kunst, wenn sie nicht einer inneren Notwendigkeit entspringe, keine wahre Kunst sei, dass ein Dichter, der sein Fortschreiben vom Urteil eines anderen Dichters abhängig mache, kein wahrer Künstler sei. Keiner, auf den es ankomme.

Ja, das ist pathetisch und altmodisch und übertrieben - und doch genau so wahr. Es muss einfach um alles gehen in der Literatur, es muss alles gewagt werden. Und das kann dann misslingen, halb gelingen, kann ein Versuch bleiben, aber man muss das Risiko spüren beim Lesen, das Risiko, das der Künstler eingegangen ist beim Schreiben. Vielleicht gilt das heute sogar noch mehr als vor hundert Jahren, in einer Welt, die so übervoll ist mit Meinungen, Kommentaren, Geschichten, Berichten aus jedem, jedem, jedem Leben.

"Nachhinein" heißt das Buch von Lisa Kränzler, um das es hier geht. Es ist die Geschichte zweier Freundinnen, kindergartenklein, als sie sich kennenlernen, lieben lernen, füreinander alles sind, und am Ende des Buches sind sie erwachsen, zornig und allein. Es ist ein Buch über die Macht der Erinnerung, der man nicht entkommen kann, ein Buch über das Mitleid als echtes Mitleiden mit allen Konsequenzen, ein Buch über Armut und Reichtum, über das Wachsen einer künstlerischen Leidenschaft und eine Gewalt, die dieses Wachsen jäh unterbricht.

Zwei Mädchen, ihre Namen lauten irgendwie: "JasminCelineJustine" die eine, "LottaLuisaLuzia" die andere, ihre äußeren Konturen verschwimmen, der Kern ihrer Persönlichkeit tritt mit jeder Seite klarer und härter zutage. Sie wohnen in einem kleinen Dorf, leben in derselben Straße, das eine Elternhaus ist reich und prächtig, das andere arm, klein, sorgenvoll. Das Geld spielt keine Rolle, wenn man klein ist, in dieser engen Welt. Es ist ja lächerlich, das Geld, der Reichtum, auf die Freundschaft kommt es an. Selbst dass man nicht die gleiche Leidenschaft teilt, ist nicht von Gewicht. Es kommt auf das Suchen an, die Intensität des Suchens, das Gefühl des Mangels, des Ungenügens, der Sehnsucht nach dem ganz anderen, jenseits der Welt, so wie sie heute ist: "Wonach wir suchen und was wir finden, sitzt auf entgegengesetzten Polen. Während JasminCelineJustine auf der Suche nach Gesellschaft, Zerstreuung und Vergessen jener skrupellosen Kämpfergemeinschaft beitritt, strebe ich einem Punkt entgegen, den ich in den tiefsten Schichten meines Selbst vermute. Nichts und niemand will ich treffen als diesen Punkt, der die Überraschung, die Neuerung ermöglicht. Was ich spielend ans Tageslicht befördere, klingt für mich allein. Ich spüre keinerlei Sehnsucht nach Zugehörigkeit zur Außenwelt oder irgendwelchen anderen, virtuellen Welten."

Die eine verliert sich in intensivsten Computerspielen, die andere im Klavierspiel. Beide suchen eine Freiheit, finden sie für Tage, Wochen, Monate, bis sie mit dem Kopf an Regeln stoßen. Regeln der Welt. Das Computerspiel endet an recht eng gesteckten Grenzen und lässt sich nicht erweitern, nicht umprogrammieren, das Klavierspiel muss irgendwann Noten folgen, so wollen es die Eltern, so will es die Lehrerin, so fordert es die genormte Welt: "Das Übersehen eines einzigen Punktes galt bereits als ,Fehler'." Und "ob sich die fehlerhafte Variante, die verspielte Note, eleganter, lustiger, schräger, schiefer oder einfach nur interessanter anhörte als die vom Buch befohlene Variante, spielte dabei keine Rolle". Kindliches Einfinden in die Kästchenwelt des Größerwerdens. Eine Zeitlang ist das harmlos schön. Wie die Klavierrebellin, nachdem sie in einer Glenn-Gould-Biographie gelesen hat, sich doch bereitfindet, an einem Musikwettbewerb teilzunehmen, wenn sie nur ihren eigenen Hocker mitnehmen und sich auch sonst Glenn-Gould-haft geben darf. Wie sie also in der Nachfolge eines Helden des Eigensinns sich doch einbinden lässt ins Regelwerk der Welt. Oder auch in "den Unsinn der Erwachsenen", wie sie es nennt.

Es kommt dann immer wieder zu irre schönen Glücksmomenten, im Wald zum Beispiel, rennend, schauend, jetztbeglückt oder lachend mit der Freundin, "die Bäuche von wahnsinniger Freude wundgelacht", oder auch immer mal sehr kitschbereit, den Himmel beschreibend, liegend, am See: "Auf dem Zeltdach unseres, von heiligen Händen aus den Blütenblättern gigantischer Enziane genähten, grellen blauen Wunders."

Doch dann ist Schluss mit schönen Wundern in Blau. Das Leben schlägt zu. Und zwar zunächst komplett und vollkommen ungerecht nur auf der einen Seite des Freundschaftsdoppels, der Seite der Armut. Die eine verbringt den kompletten Sommer in der Sonne Spaniens, die andere im Schimmel ihres kleinen Zimmers, es folgen Gymnasium und neue Freunde für die eine, Steckenbleiben, Ärger, Hängenlassen für die andere. Lisa Kränzler beschreibt die Kleinigkeiten und das große Ganze der verdammten alltäglichen Ungerechtigkeit: dass einige Menschen in einem See von Geld auf die Welt kommen und ein Leben der Möglichkeiten sich sonnig vor ihnen ausbreitet, während die anderen in der Enge leben, Eltern haben, die den ganzen Tag für beinahe nichts arbeiten und bitter werden, mit jedem Tag bitterer, weil sie wissen, dass da nichts mehr kommt im Leben als ein Meer von Arbeit für immer und das Geld trotzdem für gar nichts reicht. Und für die Kinder wird es auch nicht besser. Kreislauf der Armut, enge Welt.

"Nachhinein" ist ein Sozialroman, müsste man eigentlich sagen, wenn das nicht so grau und altmodisch klingen würde. Es ist ein Roman, der aus der Empörung über die scheinbar unverrückbar schlechte Einrichtung der Welt seine Energie und seine Wut bezieht. Armut - das ist ja sonst eher nicht so ein Thema in der deutschen Literatur der Gegenwart. Ist ja auch etwas unglamourös, unspektakulär und dumpf und ausweglos. Aber es ist das Thema unserer Zeit. Einer Zeit, in der auch in den reichsten Ländern der Welt einem großen Teil der Bevölkerung ein menschenwürdiges Leben nicht möglich ist, weil es von Arbeit verstellt ist, die minimal vergütet wird und alle Lebenszeit und Lebensenergie auffrisst. Lisa Kränzler schreibt aus dem Zentrum dieser Welt, aus einem dieser Leben.

Kränzler ist 29 Jahre alt, lebt in Freiburg, sie ist Malerin, hat an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe bei Anselm Reyle studiert, war Meisterschülerin bei Tatjana Doll. Vor einem Jahr erschien ihr erster Roman "Export A", über das Austauschjahr einer 16-jährigen Schülerin in Kanada, in Drogenrausch und Frost und Einsamkeit, der war noch etwas stark gewollt, etwas schwach geschrieben, einfach etwas übertrieben vielleicht. "Nachhinein" ist ruhiger, entschlossener, dunkler. Manche Szenen lesen sich - das liegt jetzt nahe, ist aber wirklich so - wie gemalt, großflächig, schwungvoll, in intensiven Farben. Am stärksten ist das Buch, wenn sie sich nicht auf Effekte verlässt, sondern vorsichtig die Folgen eines Traumas erzählt. Das Trauma, von dem sie berichtet, ist die Gewalt, die JasminCelineJustines Vater seiner Tochter antut. Es ist grauenvoll. Kränzler erzählt diesen Schrecken etwas zu anschaulich, beinahe voyeuristisch. Vielleicht traut sie in diesen Passagen ihrer eigenen Kunst noch nicht genug, glaubt, in kräftigen Farben ausmalen zu müssen, was in Andeutungen und Schattenrissen weit effektvoller geschildert werden könnte. Es gehört aber auch zum künstlerischen Risiko, das Kränzler auf jeder Seite dieses erschütternden Buches spürbar eingeht, dass man mal abstürzt, dass etwas misslingt. Aber schon auf den nächsten Seiten ist sie wieder auf der Höhe ihrer Kunst.

Es liegt ein schweres Schicksalsgewicht auf den Schultern der Ärmeren. Die Glücksfreundin ahnt das meiste davon, wird beinahe selbst Opfer der fremden Vatergewalt und kann entkommen, denn sie wohnt nicht im Elterngefängnis der Armut. Sie kann ins Freie und schämt sich ihres Glückes dort, schämt sich des Unglücks der Freundin. Schämt sich, dass sie nicht helfen kann. Was ist Freundschaft? Was ist Mitleid? Am Ende will JasminCelineJustine ein echtes Mitleiden der sich entfernenden Freundin erzwingen. Beide hetzen durch den Wald, ihren Wald der Freundschaft, auf der Flucht vor dem Vater des Grauens verletzt sich das Klavierglückskind so schwer an der Hand, dass sie sie nie wieder gebrauchen kann. Die Kunst ist vorbei, das Klavierspiel ist vorbei für immer. Und was kommt jetzt?

Flucht vor der Erinnerung. Doch "mein inneres Auge hat kein Lid", heißt es im Roman. Die kaputte Hand ist immer da und mit ihr die Erinnerung an die Möglichkeiten von Kunst, die ihr nun für immer verschlossen sind. Stattdessen: "Mein Zorn hat Zukunft. Er ist definitiv." Stattdessen: eine andere Kunst. Zum Beispiel Literatur.

Wir können davon ausgehen, dass Rainer Maria Rilke eine andere künstlerische Notwendigkeit vor Augen hatte, als er an Franz Xaver Kappus schrieb. Die Kunst, die Literatur, die Menschen von heute werden von anderen Notwendigkeiten getrieben. Der Dichter Kappus ist heute längst vergessen. Sein berühmtestes Werk sind die Briefe Rilkes an ihn, die er wenige Jahre nach dem Tod des verehrten Dichters als Buch herausgegeben hat.

"Versuchen Sie, wie ein erster Mensch, zu sagen, was Sie sehen und erleben und lieben und verlieren", hatte Rilke ihm noch geraten, und dass man nicht die Gegenwart anklagen dürfe, wenn man das Gefühl habe, sie sei zu armselig, um sie zu beschreiben. Stoff für Literatur sei auch im Gefängnis mit nackten Wänden, schrieb Rilke, denn auch dort habe er ja immer noch seine Kindheit, "diesen köstlichen, königlichen Reichtum, dieses Schatzhaus der Erinnerungen". Nicht für jeden war die Kindheit von königlichem Reichtum geprägt. Die Notwendigkeit zu erzählen muss dadurch nicht kleiner werden. Im Gegenteil. Auch davon erzählt Lisa Kränzlers Roman.

VOLKER WEIDERMANN

Lisa Kränzler: "Nachhinein". Roman. Verbrecher-Verlag, 270 Seiten, 22 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2013

Glühende Haut
In Lisa Kränzlers bemerkenswertem Roman „Nachhinein“ scheitert eine Freundschaft an der Klassenfrage
Wer wüsste nicht, dass die innigsten Kindheitsfreundschaften irgendwann zerbrechen. Jedenfalls meistens. Und dann bleibt die Erinnerung an das einmal geteilte Glück vergiftet von Verrat und Schuld. Denn, so lautet das gnadenlose, schmerzliche Gesetz: Einer kommt dem anderen zuvor und will seiner eigenen Wege gehen; der andere bleibt verlassen zurück. Hiervon erzählt Lisa Kränzlers zweiter Roman „Nachhinein“, der es auf die Shortlist für den Preis der diesjährigen Leipziger Buchmesse geschafft hat.
  Aber der Roman belässt es nicht dabei. Es geht, und dadurch wird die Sache wirklich anspruchsvoll, zusätzlich um die böse, harte Klassenfrage. Wie allgemeingültig die Geschichte der beiden Nachbarsmädchen angelegt wurde, die sich wider alle Wahrscheinlichkeit anfreunden, lässt sich schon an der originellen Namensgebung ablesen: „JasminCelineJustine“ heißt die eine, nämlich das Unterklassenkind, Tochter eines saufenden Arbeiters und einer hilflosen Mutter, „LottaLuisaLuzia“ die andere, Tochter eines fürsorglichen Akademikerpaares. Soll sagen: Die Namen sind Stempel des Milieugeschmacks und letztlich austauschbar.
  Sie leben in derselben Straße eines süddeutschen Dorfes und doch in zwei Welten: Hier die verrauchte, versiffte Sozialwohnung, in welche die Sonnenstrahlen nie vordringen, dort das schöne Einfamilienhaus mit Galerie, Garten und automatischem Tor. Meist sind die Mädchen draußen, klettern auf Bäume, holen sich Schürfwunden, richten sich im hohen Gras der wilden Wiesen ein, genießen ihre glühende Haut. Ihre Eltern kontrollieren sie nicht; wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Die Kindheit erscheint frei von der Dauerobservation und -betreuung heutiger Tage.
  Sie nennen sich „Blutsschwestern“; aber es ist eine Art Liebe, bis hinein in körperliche Zuneigung. Als Vorwand für ihre Berührungen denken sie sich Geschichten aus, etwa die, dass die eine das neugeborene Kätzchen sei, das die andere vor den groben Töterhänden des Bauern in Sicherheit bringt. Dann liegen sie im Hochbett, und das „gerettete“ Kätzchen will gestreichelt werden von der „Pharaonentochter“. Kindheit verfügt über diese stille Rebellion, Unterschiede einzuebnen. Aber eben nur für eine Weile.
  Mehr als zwanzig Jahre später, im titelgebenden Nachhinein, denkt die Gymnasiastin und begabte Klavierspielerin, kurz, das Oberklassenkind (die Streichlerin!), an die Freundschaft mit der immer trauriger, immer einsamer, immer verzweifelter werdenden JasmineCelineJustine zurück. Eines Tages ertrug LottaLuisaLuzia die Blutsschwester nicht mehr, konnte deren zitterndes Flehen in der Stimme nicht mehr hören und wies sie immer öfter ab. Äußerlich gesehen wirkt das brutal, und es tut beim Lesen durchaus weh. Doch könnte es gerade eine Qualität des Buches sein, dass es sich an den tiefsten Punkt des sozialen Grabens begibt, ohne ein Versöhnungsangebot zu machen.
  Unbedingt erwähnenswert ist ferner die Sprache der 1983 geborenen Lisa Kränzler. Sie ist nämlich mindestens so wichtig wie die Story und das doch recht übersichtliche Romanpersonal. Es fällt ein alerter, überdreht-lakonischer, witziger bis galgenhumoriger, wortspielerischer Ton auf, der gelegentlich an die Neue Sachlichkeit einer Imgard Keun erinnert, dann wieder an die sarkastische Sprachartistik der frühen Elfriede Jelinek.
  Als JasmineCelineJustines Vater, pünktlich zu deren Pubertätsbeginn, seine Tochter, die eben der Badewanne entsteigt, interessiert beäugt, dann hört sich das beispielsweise so an: „Fingerspitzen, schrumpelig wie Dörrzwetschgen, suchen, finden und ziehen den Stöpsel. Gurgelnd senkt sich der Pegel. Verschlagen verfolgen die Vateraugen das Auftauchen zweier milchweißer Hügel. Einem Schäumchen, welches rechts über den kreisrunden, korallenfarbenen Brustwarzenhof schleicht, wird nachgeschielt.“ Da bemerkt das Mädchen schon die „Wölbung im Schritt seiner Schlafanzughose“.
  Später, in ihrer höchsten Not, wird sie den Vater „Mister Bison“ taufen, den Namen entnimmt sie einem Videospiel, um von seinen Übergriffen erzählen zu können. Aber ihre behütete Freundin wird das Vorgefallene dennoch nicht begreifen, nicht wirklich. Es würde sie auch, das ist die schlichte Wahrheit, überfordern.
  Wie die radikal auseinanderstrebenden Sexualerfahrungen der beiden Freundinnen in den Blick genommen werden, zeugt von Mut. Während die eine dem Vater zu Diensten sein muss (die Mutter schaut weg: der Klassiker), bleibt die andere noch lange Kind und wird sich dann standesgemäß-zärtlich in einen Gleichaltrigen verlieben. Die Gefahr, in die Klischeefalle zu tappen, besteht also sehr wohl. Aber Lisa Kränzler scheint das egal zu sein. Sie wagt es einfach, beides zu zeigen: die sofort zertretene, malträtierte Sexualität, die zu Selbstekel, Selbstverletzungen und schließlich zum Selbstmordversuch führt, und die unschuldige, neugierige, langsam erwachende der anderen. Eine bewundernswert gemeisterte Gratwanderung.
  Aber nicht alles in diesem Roman ist im Lot; man merkt es an der Sprache, deren Lakonie bezeichnenderweise nicht durchgehalten wird. Fast schon peinvoll die ironiefreien Angebersätze, die von der musikalischen Hochbegabung der Erzählerin künden: „Offenbar haben sich Wissen und Können irgendwie unbemerkt in mich eingeschlichen, mit dem Ergebnis, dass fehlerfreies Spielen vom Blatt keinerlei Schwierigkeit für mich darstellt.“
  Auch dass LottaLuisaLuzia von Adel ist und dann noch „von Braun“ heißt, was das gute Kind zu Nachforschungen über den von den Eltern tunlichst verschwiegenen berühmt-berüchtigten Raketenbauer anstiftet, wäre nicht nötig gewesen. Da fallen störend altkluge Sätze. Wiederum exzellent getroffen ist das klassenspezifische Pendant: Während unser Glückskind für sechs lange Wochen mit den Eltern in die spanische Sonne entschwindet, klebt das Unglückskind in seinem abgedunkelten Zimmer am Bildschirm, wartend auf die Freundin, das „Prinzesschen“, und abtauchend in das virtuelle Heldentum von „Streetfighter 2“.
  Die emotionale Logik dieser Kinderfreundschaft ist aufgespannt zwischen zwei dramatischen Unfällen. Kein Wunder, dass eines der Leitmotive des Romans das Blut ist: von der Blutsschwesternschaft über Menstruationsblut bis zu Verwundungen aller Art. Führt der erste Unfall zum Beginn der Freundschaft, so der zweite zum unversöhnlichen, dem Leser ziemlich viel Realismus abverlangenden Ende, zur Verstoßung der Unglücklichen.
  Wäre dies ein Jugendbuch, könnte man den – allerdings von Albträumen begleiteten – Befreiungsschlag LottaLuisaLuzias nicht hinnehmen. Ein Happy End müsste her oder zumindest ein bisschen Hoffnung für JasminCelineJustine. So aber müssen die Leser akzeptieren, dass es keine Gerechtigkeit gibt und: dass manche Erfahrungen kaum zu vermitteln sind. Man kann von Heranwachsenden noch nicht erwarten, dass sie einander retten. Auch davon handelt dieser bemerkenswerte Roman.
INA HARTWIG
Dieses im besten Sinne
unversöhnliche Buch lotet
den sozialen Graben aus
      
  
  
  
  
Lisa Kränzler:
Nachhinein. Roman.
Verbrecher Verlag,
Berlin 2013. 269 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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