»Wir haben zum nachmetaphysischen Denken keine Alternative.« Dieser Satz, geschrieben von Jürgen Habermas in seiner 1988 erschienenen Aufsatzsammlung Nachmetaphysisches Denken, gilt noch heute. »Nachmetaphysisches Denken« – das ist zunächst die historische Antwort auf die Krise der Metaphysik nach Hegel, deren zentrale Denkfiguren vor allem durch gesellschaftliche, aber auch innerwissenschaftliche Entwicklungen ins Wanken geraten sind. In der Folge wurden das Erkenntnisprivileg der Philosophie erschüttert, ihre Grundbegriffe detranszendentalisiert und der Vorrang der Theorie vor der Praxis in Frage gestellt. Aus guten Gründen hat die philosophische Theorie, so die Diagnose damals, »ihren außeralltäglichen Status eingebüßt«, sich damit aber auch neue Probleme eingehandelt. In »Nachmetaphysisches Denken II« widmet sich Habermas einigen dieser Probleme in zum Teil bisher unveröffentlichten Texten. Im ersten Teil des Buches geht es um den Perspektivenwechsel von metaphysischen Weltbildern zur Lebenswelt. Letztere analysiert Habermas als »Raum der Gründe« – auch dort, wo die Sprache (noch) nicht regiert, etwa in der gestischen Kommunikation und im Ritus. Im zweiten Teil steht das spannungsreiche Verhältnis von Religion und nachmetaphysischem Denken im Vordergrund. Habermas schließt hier unmittelbar an seine weitsichtige Bemerkung von 1988 an, wonach die »Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängen« kann, und erkundet etwa das neue Interesse der Philosophie an der Religion. Den Abschluss bilden Texte über die Rolle der Religion im politischen Kontext einer postsäkularen, liberalen Gesellschaft.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2012Kostbarer Kult
Das nicht festgestellte Denken nicht festgestellter Tiere: Jürgen Habermas erkundet das
Verhältnis von Philosophie und Religion und entdeckt den Ritus als „Quelle der Normativität“
VON MARTIN BAUER
Vor gut einem Vierteljahrhundert veröffentlichte Jürgen Habermas eine erste Sammlung von Aufsätzen unter dem Titel „Nachmetaphysisches Denken“. Damals argumentierte der in Starnberg lebende Sozialphilosoph in doppelter Frontstellung. Zum einen zielten seine Interventionen gegen den Naturalismus, das heißt gegen ein Forschungsprogramm, das die Absicht verfolgt, eine vollständige Beschreibung der Wirklichkeit in physikalistischen Begriffen vorzulegen. Geist sollte restlos in Natur überführt werden. Zum anderen nahm er Versuche aufs Korn, die auf den Schultern des deutschen Idealismus Metaphysik als Subjekttheorie wiederbeleben wollten. Geist sollte als sich selbst reflektierende Subjektivität gegenüber einer reflexionslosen Natur autonomisiert werden. Nun ist der zweite Band erschienen. Doch hat sich zwischenzeitlich der Frontverlauf verschoben. In „Nachmetaphysisches Denken II“ thematisiert Habermas wieder das Selbstverständnis zeitgenössischer Philosophie – jetzt allerdings in ihrem Verhältnis zur religiösen Überlieferung. Auch auf dieser Bühne ergeben sich zwei Schauplätze für notwendige Auseinandersetzungen.
Einerseits nehmen die in den letzten fünf Jahren verfassten Texte Stellung zu Kontroversen um die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit. Hier durchdenkt Habermas Grundfragen einer normativen politischen Theorie. Sie stellen sich mit einer gewissen Dringlichkeit, weil aus dem geschichtlichen Faktum der Säkularisierung moderner Staatsgewalt augenscheinlich keine Säkularisierung der Bürgergesellschaft folgt. Der liberale Verfassungsstaat ist weltanschaulich neutral, „ermächtigt“ seine gläubigen und andersgläubigen Bürger aber dazu, ein in ihrem Sinne „frommes Leben“ zu führen.
In dieser Paradoxie liegt, wie die aktuelle Debatte über die Beschneidung vorführt, Sprengstoff. Können politische Entscheidungen kollektive Verbindlichkeit beanspruchen, wenn die Trennung zwischen Staat und Kirche respektive nichtkirchlichen Religionsgemeinschaften so weit geht, dass religiöse Stimmen von den Aushandlungen ausgeschlossen sind, die Habermas den „demokratischen Prozess“ nennt? Was also darf den gläubigen und andersgläubigen Bürgern zugemutet werden, soweit es um die Übersetzung ihrer „Beiträge“ in den Prozess der politischen Willensbildung geht? Und was müssen umgekehrt die nichtgläubigen Bürger tolerieren, die ihrerseits ein Recht darauf haben, unbehelligt von den Religionsausübungen ihrer Mitbürger zu bleiben? Wie müsste, anders gefragt, ein staatsbürgerliches Ethos aussehen, das eine liberaldemokratische Gesellschaft juristisch nicht erzwingen kann, faktisch aber braucht, sollen weltanschauliche und religiöse Konflikte die soziale Integration nicht unterspülen?
Andererseits beschäftigt Habermas das Problem, was aus der Vitalität der Religion für das philosophische Geschäft folgt. Im 18. Jahrhundert hatte die Philosophie nicht zuletzt in der Absicht, sich als universitäre Disziplin zu etablieren, scharf zwischen Glauben und Wissen unterschieden. Im 19. Jahrhundert wird die Religion gewissermaßen nur noch im Rückspiegel der Philosophie zur Kenntnis genommen – als eine Gestalt des Bewusstseins, deren Tage gezählt sind. Zu derartigen Rigorismen geht Habermas auf Abstand. Dass Glauben und Wissen nur zwei Formen des Für-wahr-Haltens sind, räumt er ein. Doch innerhalb der Gattung des Für-wahr-Haltens sind die Artgrenzen scharf gezogen. So besteht Habermas darauf, dass sich die Philosophie ausschließlich im Feld des Wissens bewegt. Da sie weder über Heilsgewissheiten noch über ein absolutes Wissen verfügt, ist sie unumkehrbar säkular. Mithin handelt es sich beim Philosophieren um eine wissenschaftliche Tätigkeit, die genauso irrtumsanfällig und korrekturbedürftig wie Forschung insgesamt ist.
Freilich bleibt der Status der Philosophie als Wissenschaft umstritten: Eine unkontroverse Methode besitzt sie nicht; auch keinen Gegenstandsbereich, der sich durch eine stabile Grundbegrifflichkeit einzirkeln ließe. Daher fasst Habermas die Differenz in der Einheit von Wissenschaft und Philosophie so, dass er das nachmetaphysische Philosophieren als ein „nicht festgestelltes Denken“ definiert.
Gerade in dieser Bestimmung soll die Philosophie aber weiterhin das Erbe der Aufklärung antreten. Offensiv unbescheiden betraut Habermas sie mit der Aufgabe, „Hüterin der Rationalität“ zu sein. Um diesem Zivilisationsauftrag zu genügen, betreibt das nicht festgestellte Denken eine Kritik der Verständigungsverhältnisse. Es fragt nach den Verkörperungen der Vernunft in sozialen Praktiken, die es gattungsgeschichtlich ermöglicht haben, dass sich die „nicht festgestellten Tiere“, von denen Nietzsche gesprochen hatte, schließlich „miteinander über etwas verständigen“ können.
Diesem Unternehmen, das die Bedingungen und Grenzen rationaler Kommunikation reflektiert, schreibt Habermas eine deutliche Warnung ins Stammbuch. Würde das nicht festgestellte Denken der Religion kategorisch alle Vernunftpotenziale absprechen, säße es einem „säkularistischen“ Missverständnis auf. Es würde nicht nur ignorieren, warum die Religion „aus internen oder vernünftigen Gründen“ in der Weltgesellschaft fortbesteht. Zudem liefe es Gefahr, die in ihrer evolutionären Unwahrscheinlichkeit ebenso prekären wie kostbaren Lernprozesse zu übersehen, aus denen vernünftige Verständigungsverhältnissen hervorgegangen sind. Wer die Religion nicht als eine „Gestalt des Geistes“ anerkennt, verkürzt nach Habermas die Genealogie der Vernunft.
An einer unverkürzten Genealogie muss dem nicht festgestellten Denken aber gelegen sein, will es tatsächlich als die säkulare Hüterin menschlicher Rationalität auftreten. Das ist die dialektische Pointe seines Arguments. Die entsprechende Probe liefert eine der interessantesten Erstveröffentlichungen, die Habermas in sein jüngstes Buch aufgenommen hat, zurückgehend auf seinen Abschlussvortrag zum Münchner Philosophenkongress 2011. Unter vernunftgenealogischem Blickwinkel beschäftigt er sich mit dem „sakralen Komplex“. Darunter wird die für alle sogenannten primitiven Gesellschaften bezeugte Verbindung von mythologischer Weltdeutung und ritueller Gemeindepraxis verstanden. Habermas schlägt vor, im Ritus eine „Quelle der Normativität“ zu identifizieren. Nach dieser Hypothese üben Menschen, die zu ihrer Selbsterhaltung gesellschaftlicher Kooperation bedürfen, sich durch diese Kooperation aber nicht nur vergesellschaften, sondern zugleich auch individuieren, in kultischen Praktiken „Solidarität“ ein. Demnach balanciert der Ritus an einer Schwelle, mit der gattungsgeschichtlich eine neue Stufe symbolisch vermittelter Verständigung betreten wurde, die Spannung zwischen Vereinzelungserfahrung und Vergesellschaftungszwang aus.
Mit der ebenso kühnen wie spekulativen Vermutung positioniert sich Habermas in einer Debatte, die seit mehr als einem Jahrhundert um das Verhältnis von Ritus und Mythos geführt wird. Deutet der Mythos den Ritus, oder setzt rituelles Handeln eine vorliegende mythologische Erzählung in Szene? Die von Habermas vorgelegte Interpretation wird die Religionswissenschaftler und Soziologen herausfordern, die Kultpraktiken etwa mit dem französischen Soziologen Émile Durkheim als kollektive Formen der Sakralisierung sozialer Ordnung verstehen. Doch fordert die vernunftgenealogische Neuinterpretation des Ritus auch das eigene Werk heraus, namentlich die Theorie des kommunikativen Handelns. Augenscheinlich stellt Habermas ein provokatives Gedankenexperiment an: Zur Evolution des Normbewusstseins der menschlichen Gattung könnten Ressourcen gehören, die zwar symbolischer, jedoch nicht per se diskursiver Natur sind. Wäre die Vermutung triftig, folgt aus ihr, dass Sprachkompetenz allein nicht erklärt, warum wir so etwas wie Pflichten empfinden, also einander im sozialen Verkehr mit Erwartungen begegnen, die die Willkür individuellen Handelns einschränken. Die praktische Vernunft hätte eine nichtsprachliche Vorgeschichte in einer archaischen Kommunikationsstufe.
Pflicht ging für Immanuel Kant auf die Achtung vor dem Gesetz zurück. Diesen Respekt hatte Kant für ein nicht weiter ergründbares „Faktum der Vernunft“ gehalten. Den unhistorischen Positivismus der Transzendentalphilosophie hat Habermas stets kritisiert. Heute radikalisiert er diese Kritik bis zu einem bemerkenswerten Punkt. Habermas meint, dass eine vollständige Naturgeschichte des Geistes nicht nur den sprachlich artikulierten Mythos einzubeziehen hat, sondern auch die rituelle Praxis, weil sich in ihr „der ursprüngliche Prozess der Erzeugung von Normativität“ manifestiert. Vor dem Hintergrund dieser Genealogie des Geistes wird deutlich, was die Religion – verstanden als eine Sammelbezeichnung für die großen westlichen und östlichen Weltreligionen – von allen anderen Weltanschauungen unterscheidet. Es ist das Faktum, dass in den gemeinschaftlichen Kultpraktiken „der Ritus“ fortlebt. Dieses „Alleinstellungsmerkmal“ kann der Religion weder die aufgeklärte Moral der gleichen Achtung noch eine Güter- und Tugendethik aristotelischen Zuschnitts streitig machen.
Zu meinen, Habermas empfehle der Gegenwartsphilosophie die Beschäftigung mit Religion, weil er sie auf seine alten Tage persönlich neubewertet, wäre ein oberflächliches Urteil. Ihn treibt die Frage um, ob „eine global gewordene Moderne aus sich selbst heraus die Kraft besitzt, ihre selbstdestruktiven Tendenzen aufzuhalten, also der Zerstörung ihres eigenen normativen Gehalts entgegenzuwirken“. Insofern dient die Durcharbeitung religiöser Bedeutungsgehalte und Kultpraktiken der normativen Bestandssicherung. Zu ihr haben die Finanzmärkte jedenfalls nicht das Geringste beigetragen.
Wer Religion nicht als „Gestalt
des Geistes“ anerkennt, verkürzt
die Genealogie der Vernunft
Sprachkompetenz allein
erklärt nicht, warum wir so etwas
wie Pflichten empfinden
Jürgen Habermas:
Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
335 Seiten, 34,95 Euro.
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Das nicht festgestellte Denken nicht festgestellter Tiere: Jürgen Habermas erkundet das
Verhältnis von Philosophie und Religion und entdeckt den Ritus als „Quelle der Normativität“
VON MARTIN BAUER
Vor gut einem Vierteljahrhundert veröffentlichte Jürgen Habermas eine erste Sammlung von Aufsätzen unter dem Titel „Nachmetaphysisches Denken“. Damals argumentierte der in Starnberg lebende Sozialphilosoph in doppelter Frontstellung. Zum einen zielten seine Interventionen gegen den Naturalismus, das heißt gegen ein Forschungsprogramm, das die Absicht verfolgt, eine vollständige Beschreibung der Wirklichkeit in physikalistischen Begriffen vorzulegen. Geist sollte restlos in Natur überführt werden. Zum anderen nahm er Versuche aufs Korn, die auf den Schultern des deutschen Idealismus Metaphysik als Subjekttheorie wiederbeleben wollten. Geist sollte als sich selbst reflektierende Subjektivität gegenüber einer reflexionslosen Natur autonomisiert werden. Nun ist der zweite Band erschienen. Doch hat sich zwischenzeitlich der Frontverlauf verschoben. In „Nachmetaphysisches Denken II“ thematisiert Habermas wieder das Selbstverständnis zeitgenössischer Philosophie – jetzt allerdings in ihrem Verhältnis zur religiösen Überlieferung. Auch auf dieser Bühne ergeben sich zwei Schauplätze für notwendige Auseinandersetzungen.
Einerseits nehmen die in den letzten fünf Jahren verfassten Texte Stellung zu Kontroversen um die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit. Hier durchdenkt Habermas Grundfragen einer normativen politischen Theorie. Sie stellen sich mit einer gewissen Dringlichkeit, weil aus dem geschichtlichen Faktum der Säkularisierung moderner Staatsgewalt augenscheinlich keine Säkularisierung der Bürgergesellschaft folgt. Der liberale Verfassungsstaat ist weltanschaulich neutral, „ermächtigt“ seine gläubigen und andersgläubigen Bürger aber dazu, ein in ihrem Sinne „frommes Leben“ zu führen.
In dieser Paradoxie liegt, wie die aktuelle Debatte über die Beschneidung vorführt, Sprengstoff. Können politische Entscheidungen kollektive Verbindlichkeit beanspruchen, wenn die Trennung zwischen Staat und Kirche respektive nichtkirchlichen Religionsgemeinschaften so weit geht, dass religiöse Stimmen von den Aushandlungen ausgeschlossen sind, die Habermas den „demokratischen Prozess“ nennt? Was also darf den gläubigen und andersgläubigen Bürgern zugemutet werden, soweit es um die Übersetzung ihrer „Beiträge“ in den Prozess der politischen Willensbildung geht? Und was müssen umgekehrt die nichtgläubigen Bürger tolerieren, die ihrerseits ein Recht darauf haben, unbehelligt von den Religionsausübungen ihrer Mitbürger zu bleiben? Wie müsste, anders gefragt, ein staatsbürgerliches Ethos aussehen, das eine liberaldemokratische Gesellschaft juristisch nicht erzwingen kann, faktisch aber braucht, sollen weltanschauliche und religiöse Konflikte die soziale Integration nicht unterspülen?
Andererseits beschäftigt Habermas das Problem, was aus der Vitalität der Religion für das philosophische Geschäft folgt. Im 18. Jahrhundert hatte die Philosophie nicht zuletzt in der Absicht, sich als universitäre Disziplin zu etablieren, scharf zwischen Glauben und Wissen unterschieden. Im 19. Jahrhundert wird die Religion gewissermaßen nur noch im Rückspiegel der Philosophie zur Kenntnis genommen – als eine Gestalt des Bewusstseins, deren Tage gezählt sind. Zu derartigen Rigorismen geht Habermas auf Abstand. Dass Glauben und Wissen nur zwei Formen des Für-wahr-Haltens sind, räumt er ein. Doch innerhalb der Gattung des Für-wahr-Haltens sind die Artgrenzen scharf gezogen. So besteht Habermas darauf, dass sich die Philosophie ausschließlich im Feld des Wissens bewegt. Da sie weder über Heilsgewissheiten noch über ein absolutes Wissen verfügt, ist sie unumkehrbar säkular. Mithin handelt es sich beim Philosophieren um eine wissenschaftliche Tätigkeit, die genauso irrtumsanfällig und korrekturbedürftig wie Forschung insgesamt ist.
Freilich bleibt der Status der Philosophie als Wissenschaft umstritten: Eine unkontroverse Methode besitzt sie nicht; auch keinen Gegenstandsbereich, der sich durch eine stabile Grundbegrifflichkeit einzirkeln ließe. Daher fasst Habermas die Differenz in der Einheit von Wissenschaft und Philosophie so, dass er das nachmetaphysische Philosophieren als ein „nicht festgestelltes Denken“ definiert.
Gerade in dieser Bestimmung soll die Philosophie aber weiterhin das Erbe der Aufklärung antreten. Offensiv unbescheiden betraut Habermas sie mit der Aufgabe, „Hüterin der Rationalität“ zu sein. Um diesem Zivilisationsauftrag zu genügen, betreibt das nicht festgestellte Denken eine Kritik der Verständigungsverhältnisse. Es fragt nach den Verkörperungen der Vernunft in sozialen Praktiken, die es gattungsgeschichtlich ermöglicht haben, dass sich die „nicht festgestellten Tiere“, von denen Nietzsche gesprochen hatte, schließlich „miteinander über etwas verständigen“ können.
Diesem Unternehmen, das die Bedingungen und Grenzen rationaler Kommunikation reflektiert, schreibt Habermas eine deutliche Warnung ins Stammbuch. Würde das nicht festgestellte Denken der Religion kategorisch alle Vernunftpotenziale absprechen, säße es einem „säkularistischen“ Missverständnis auf. Es würde nicht nur ignorieren, warum die Religion „aus internen oder vernünftigen Gründen“ in der Weltgesellschaft fortbesteht. Zudem liefe es Gefahr, die in ihrer evolutionären Unwahrscheinlichkeit ebenso prekären wie kostbaren Lernprozesse zu übersehen, aus denen vernünftige Verständigungsverhältnissen hervorgegangen sind. Wer die Religion nicht als eine „Gestalt des Geistes“ anerkennt, verkürzt nach Habermas die Genealogie der Vernunft.
An einer unverkürzten Genealogie muss dem nicht festgestellten Denken aber gelegen sein, will es tatsächlich als die säkulare Hüterin menschlicher Rationalität auftreten. Das ist die dialektische Pointe seines Arguments. Die entsprechende Probe liefert eine der interessantesten Erstveröffentlichungen, die Habermas in sein jüngstes Buch aufgenommen hat, zurückgehend auf seinen Abschlussvortrag zum Münchner Philosophenkongress 2011. Unter vernunftgenealogischem Blickwinkel beschäftigt er sich mit dem „sakralen Komplex“. Darunter wird die für alle sogenannten primitiven Gesellschaften bezeugte Verbindung von mythologischer Weltdeutung und ritueller Gemeindepraxis verstanden. Habermas schlägt vor, im Ritus eine „Quelle der Normativität“ zu identifizieren. Nach dieser Hypothese üben Menschen, die zu ihrer Selbsterhaltung gesellschaftlicher Kooperation bedürfen, sich durch diese Kooperation aber nicht nur vergesellschaften, sondern zugleich auch individuieren, in kultischen Praktiken „Solidarität“ ein. Demnach balanciert der Ritus an einer Schwelle, mit der gattungsgeschichtlich eine neue Stufe symbolisch vermittelter Verständigung betreten wurde, die Spannung zwischen Vereinzelungserfahrung und Vergesellschaftungszwang aus.
Mit der ebenso kühnen wie spekulativen Vermutung positioniert sich Habermas in einer Debatte, die seit mehr als einem Jahrhundert um das Verhältnis von Ritus und Mythos geführt wird. Deutet der Mythos den Ritus, oder setzt rituelles Handeln eine vorliegende mythologische Erzählung in Szene? Die von Habermas vorgelegte Interpretation wird die Religionswissenschaftler und Soziologen herausfordern, die Kultpraktiken etwa mit dem französischen Soziologen Émile Durkheim als kollektive Formen der Sakralisierung sozialer Ordnung verstehen. Doch fordert die vernunftgenealogische Neuinterpretation des Ritus auch das eigene Werk heraus, namentlich die Theorie des kommunikativen Handelns. Augenscheinlich stellt Habermas ein provokatives Gedankenexperiment an: Zur Evolution des Normbewusstseins der menschlichen Gattung könnten Ressourcen gehören, die zwar symbolischer, jedoch nicht per se diskursiver Natur sind. Wäre die Vermutung triftig, folgt aus ihr, dass Sprachkompetenz allein nicht erklärt, warum wir so etwas wie Pflichten empfinden, also einander im sozialen Verkehr mit Erwartungen begegnen, die die Willkür individuellen Handelns einschränken. Die praktische Vernunft hätte eine nichtsprachliche Vorgeschichte in einer archaischen Kommunikationsstufe.
Pflicht ging für Immanuel Kant auf die Achtung vor dem Gesetz zurück. Diesen Respekt hatte Kant für ein nicht weiter ergründbares „Faktum der Vernunft“ gehalten. Den unhistorischen Positivismus der Transzendentalphilosophie hat Habermas stets kritisiert. Heute radikalisiert er diese Kritik bis zu einem bemerkenswerten Punkt. Habermas meint, dass eine vollständige Naturgeschichte des Geistes nicht nur den sprachlich artikulierten Mythos einzubeziehen hat, sondern auch die rituelle Praxis, weil sich in ihr „der ursprüngliche Prozess der Erzeugung von Normativität“ manifestiert. Vor dem Hintergrund dieser Genealogie des Geistes wird deutlich, was die Religion – verstanden als eine Sammelbezeichnung für die großen westlichen und östlichen Weltreligionen – von allen anderen Weltanschauungen unterscheidet. Es ist das Faktum, dass in den gemeinschaftlichen Kultpraktiken „der Ritus“ fortlebt. Dieses „Alleinstellungsmerkmal“ kann der Religion weder die aufgeklärte Moral der gleichen Achtung noch eine Güter- und Tugendethik aristotelischen Zuschnitts streitig machen.
Zu meinen, Habermas empfehle der Gegenwartsphilosophie die Beschäftigung mit Religion, weil er sie auf seine alten Tage persönlich neubewertet, wäre ein oberflächliches Urteil. Ihn treibt die Frage um, ob „eine global gewordene Moderne aus sich selbst heraus die Kraft besitzt, ihre selbstdestruktiven Tendenzen aufzuhalten, also der Zerstörung ihres eigenen normativen Gehalts entgegenzuwirken“. Insofern dient die Durcharbeitung religiöser Bedeutungsgehalte und Kultpraktiken der normativen Bestandssicherung. Zu ihr haben die Finanzmärkte jedenfalls nicht das Geringste beigetragen.
Wer Religion nicht als „Gestalt
des Geistes“ anerkennt, verkürzt
die Genealogie der Vernunft
Sprachkompetenz allein
erklärt nicht, warum wir so etwas
wie Pflichten empfinden
Jürgen Habermas:
Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
335 Seiten, 34,95 Euro.
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»Angesichts kulturkämpferischer Gegensätze ... bleibt nur die Hoffnung auf ... reflektierten Glauben und reflektierte Religionskritik. [Dazu trägt] Habermas auf ungewöhnliche Weise bei.« Wolfgang Huber DIE ZEIT 20121213