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Mit seinen neuen Gedichten, entstanden 2022/23, setzt Jürgen Becker ein Schreiben fort, das seine Motive vor allem im Wahrnehmen des Augenblicks, im Erleben des Alltags findet. So offenkundig dieses Schreiben von der Gegenwart bestimmt wird, fortwährend mischt sich ein Früher ein, die Anwesenheit des Vergangenen. Die Sätze, die Gedichte, die dabei entstehen, erzählen zumeist von vertrauten Selbstverständlichkeiten, die doch allesamt ungewiss und vom Verschwinden bedroht sind. Und wo Krisen und Kriege im Alltag spürbar werden, hält der Autor an den Hoffnungen fest. »Hoffen wir auf einen…mehr

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Produktbeschreibung
Mit seinen neuen Gedichten, entstanden 2022/23, setzt Jürgen Becker ein Schreiben fort, das seine Motive vor allem im Wahrnehmen des Augenblicks, im Erleben des Alltags findet. So offenkundig dieses Schreiben von der Gegenwart bestimmt wird, fortwährend mischt sich ein Früher ein, die Anwesenheit des Vergangenen. Die Sätze, die Gedichte, die dabei entstehen, erzählen zumeist von vertrauten Selbstverständlichkeiten, die doch allesamt ungewiss und vom Verschwinden bedroht sind. Und wo Krisen und Kriege im Alltag spürbar werden, hält der Autor an den Hoffnungen fest. »Hoffen wir auf einen trockenen Sommer, auf Heu und Stroh, auf Gas in den Häfen und Kirschen für den Kirschpfannkuchen. Hoffen hat immer Saison ...«

Jürgen Becker schreibt, in einem unverwechselbaren Sound, Selbstgespräche für Zuhörer. Sie können Spuren finden, Zugänge in die eigene Biografie. Seine Kriegs- und Nachkriegskindheit korrespondiert mit den Erinnerungen seiner Generation, seine aktuelle Erfahrung mit den Wahrnehmungen der Zeitgenossen, die nicht mehr so jung sind. »Jeder Tag schreibt mit, und er lässt seine Mitschrift nicht jeden Tag lesen.« Und das heißt auch, dass immer ein Schweigen mitspricht, wo Vergessenes keine Wörter findet, Verdrängtes nicht sprechen will.


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Autorenporträt
Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, zwischen 1939 und 1947, lebte er in Erfurt. Nach Aufenthalten in Osterwieck/Harz und Waldbröl kam er 1950 nach Köln zurück. 1953 Abitur. Nach kurzem, abgebrochenem Studium begann er seine Existenz als freier Schriftsteller; seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden Tätigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete für den WDR und in den Verlagen Rowohlt und Suhrkamp. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks.

Große Aufmerksamkeit fand Jürgen Becker mit seinem ersten Prosabuch Felder (1964); die beiden folgenden Bücher Ränder (1968) und Umgebungen (1970) festigten seinen Ruf als Verfasser experimenteller Literatur. Zugleich wirkte er mit seinen ersten Hörspielen (Bilder, Häuser, Hausfreunde) am Entstehen des »Neuen Hörspiels« mit. In seinem 1971 veröffentlichten Fotobuch Eine Zeit ohne Wörter verschmolz er seine literarische Arbeit mit dem visuellen Medium. Die künstlerischen Grenzüberschreitungen der Avantgarde hatte er 1965 bereits mit dem Band Happenings dokumentiert, einer Gemeinschaftspublikation mit dem Happening-Künstler Wolf Vostell. In den Siebziger- und Achtzigerjahren konzentrierte sich Jürgen Becker auf die Lyrik. Die in dieser Zeit entstandenen Gedichtbände - darunter Das Ende der Landschaftsmalerei (1974), Odenthals Küste (1986), Das Gedicht der wiedervereinigten Landschaft (1988) - platzierte die Kritik in die obersten Ränge der zeitgenössischen Poesie. Gleichzeitig schrieb Jürgen Becker weiterhin Hörspiele und die beiden Prosabücher Erzählen bis Ostende (1980) und Die Türe zum Meer (1983). Dazu korrespondierte er weiterhin mit dem visuellen Medium: Fenster und Stimmen (1982), Frauen mit dem Rücken zum Betrachter (1989), Korrespondenzen mit Landschaft (1996) entstanden nach Collagen seiner Frau, der Malerin Rango Bohne, Geräumtes Gelände (1995) nach Bildern seines Sohnes, des Fotografen Boris Becker. Wende und Wiedervereinigung wirkten entscheidend auf das Schreiben Jürgen Beckers ein. Die Wiederentdeckung der Orte und Landschaften zwischen Elbe und Oder, Rügen und Thüringer Wald motivierten seine Gedichtbände Foxtrott im Erfurter Stadion (1993) und Journal der Wiederholungen (1999),...
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Gustav Seibt liest gebannt die letzten Gedichte von Jürgen Becker. Dass der Autor einmal für seine Langgedichte bekannt war, könnte Seibt fast vergessen beim Lesen, denn in diesem Band zeigt sich Becker von der lakonischen, doch nicht weniger eloquenten Seite, indem er formbewuste, exakt komponierte Minigedichte, mitunter Listengedichte vorlegt, meint Seibt. Dahinter spürt der Rezensent allerdings große Gefühle wie Trauer und eine gewisse Sehnsucht nach Verlorenem. Für Seibt eine (be)rührende Lektüre.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2024

Spechte gegen Meisen
Jürgen Becker geht in die "Nachspielzeit"

Als "Sätze und Gedichte" bezeichnet Jürgen Becker die Texte seines neuen Bandes "Nachspielzeit". Mit dem Titel umkreist der 1932 geborene Autor auch den Tod seiner Frau Rango Bohne, die 2021 gestorben ist. "Ich kann nur sagen, daß ich versuche, / mit der Leere zurande zu kommen, die jeden Morgen / aufs neue beginnt", heißt es zu Beginn des Buchs. "Vielleicht, daß mit der vergehenden Zeit / eine Gewohnheit entsteht, an die man sich gewöhnen kann", schreibt Becker weiter.

Zu dieser Beschäftigung mit dem Alltag gehört auch die lyrische Sprache, die sich an konventionellen Redeweisen orientiert. Beckers Verse, die er auch als "Sätze" versteht, klingen wie Notate aus einem Tagebuch. Sein vorletzter Band, "Die Rückkehr der Gewohnheiten", von 2022 hatte den Untertitel "Journalgedichte". Auch hier stehen alltägliche Gedanken und Beobachtungen im Vordergrund. Bei diesen Erfahrungen handelt es sich ums Rasenmähen, ums Einkaufen im Supermarkt oder um die Frage, ob Äpfel wurmstichig sind.

Becker ist ein Nachfahre von Adalbert Stifter, der in seiner Vorrede zu der Sammlung "Bunte Steine" von 1853 seine Poetik des "sanften Gesetzes" darlegt. Die Milch, die im Topf überkocht, ist mit der Lava vergleichbar, die aus einem Vulkan austritt. Es sind die unscheinbaren Dinge des Alltags, die das Leben der Menschen bestimmen. Am Schluss des Buchs von Jürgen Becker spricht das lyrische Ich von einer "Zeit, die zwischen Biedermeier und Bauhaus steht". Diese Formulierung entspricht dem Programm des Autors, für den einerseits die häuslichen und landschaftlichen Erfahrungen wichtig sind, für den andererseits aber auch der sachliche Ausdruck und die Verständlichkeit der Verse eine bedeutende Rolle spielen.

Beckers Texte sind reizvoll durch die Art, wie er Beobachtungen und Gedanken miteinander verbindet oder kontrastiert. Es sind die Sprünge in der Zeit, die einen Zusammenhang erschaffen - über Jahrzehnte. "Als Charkiw / noch Charkow hieß, ging nach der Scheidung der Eltern / der Ehekrieg weiter. Das rostige Fahrrad, das die Mutter mir / schenkte, hatte sie eigenhändig lackiert . . . na so was / von alter Mühle, höhnte der Vater." Infolge des Kriegs in der Ukraine ist die Stadt zuletzt oft in den Medien gewesen. Becker verknüpft diese Erfahrung mit dem Russlandfeldzug im Zweiten Weltkrieg, mit einer Zeit also, als seine Eltern sich trennten. Die Kunst des Autors liegt im leisen Pathos der Worte, Sätze und Verse. In seinem sachlichen Ton verstecken sich Metaphern und Symbole. Die "Nachspielzeit" ist ein Bild für Vergänglichkeit, ebenso sind es die häufigen Hinweise auf den Spätsommer und den Herbst. Damit hängt auch die doppelte Bedeutung der Blätter zusammen, einerseits im Sinne von Laub, das mit dem Rechen gesammelt wird, andererseits als Seiten in einem Buch. Die Arbeit im Garten ist also vergleichbar mit der poetischen Tätigkeit. Die Sprache des Dichters erinnert durch die mündlichen Formulierungen und den melancholischen Gestus an die "Buckower Elegien" von Bertolt Brecht, wobei die Texte in "Nachspielzeit" kaum zugespitzt sind auf eine Pointe oder eine Auflösung.

Becker ist ein Schriftsteller des Augenblicks, der den Kampf der Meisen mit den Spechten um die Futterkugel beobachtet. Die Auseinandersetzung wird beendet durch plötzlichen Regen. In den darauf folgenden Versen geht es um die gesellschaftlichen Verhältnisse: In Westdeutschland standen die Menschen "Schlange", in der DDR bildeten sich "Wartegemeinschaften". Ausgelöst wird diese Beobachtung durch das altmodische Verb "hamstern", das häufiger verwendet wurde am Anfang der Corona-Krise. So findet sich in "Nachspielzeit" auch ein Text über die Erinnerung an Wörter, deren Bedeutung sich auf einen Gegenstand bezieht, der heute verschwunden ist. Davon werden unter anderem aufgezählt: "die Marke Juno, der Hanomag, / die Dicke Berta, die Vossische Zeitung, / der Warthegau, das Mutterkreuz, die Pferdebahn, / die Zentrums-Partei, der Westwall, die Linie G".

Die Texte des Buchs tragen keine Überschriften, auch ein Inhaltsverzeichnis gibt es nicht, sodass manchmal kaum zu erkennen ist, ob die nächste Seite das Gedicht fortführt oder ein neuer Abschnitt beginnt. Die offenen Übergänge erwecken den Eindruck, als handelte es sich um Seiten aus einem Notizbuch. Diese Methode bietet für Becker die Möglichkeit, Verse und Sätze frei zu montieren. Im Wechsel der Perspektiven liegt die Stärke dieses Autors. Becker spielt zwar auf die literarische Traditionen an, aber er verwendet Ausdrucksweisen, mit denen sich Menschen im Alltag verständigen. Dieser Bezug auf die Lebenspraxis besitzt mitunter einen trivialen Charakter: "Was Sie sagen, klingt reichlich banal, / sagt die Zuhörerin. / Sicher, aber solange es kalt ist, / lasse ich den Pullover an." THOMAS COMBRINK

Jürgen Becker:

"Nachspielzeit".

Sätze und Gedichte.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 112 S., geb., 24,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
…mehr
»[Nachspielzeit] hat lakonische Wucht, die Meisterschaft des Anstrengungslosen und Unaufdringlichen, fast Beiläufigen, wie sie nur einem sehr erfahrenen Lyriker zu Gebote steht. Jürgen Beckers letzter Band zeigt diese Qualitäten Seite für Seite, Zeile für Zeile. Er vollbringt das rätselhafte Wunder von Dichtung, dass man, obwohl man nur hundert Seiten Papier in Händen hält, wochenlang damit glücklich sein kann.« Gustav Seibt Süddeutsche Zeitung 20241203