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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die Kunst des Kneipengesprächs als Comic: "Nachtgestalten" von Jaroslav Rudis und Nicolas Mahler ist nichts Wesentliches fern.
Dunkel war's, der Mond schien helle, tosend leer die Straß', als zwei Typen torkelnd schnelle, schweigend ins Gespräch versanken, sich die Ecken gerade tranken - an ein unverwüstliches Gedicht aus Kinderzeiten lässt "Nachtgestalten" denken, das Gemeinschaftswerk des österreichischen Zeichners Nicolas Mahler und des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Rudis. Der Comic erzählt stimmungsvoll von zwei Kneipengängern. Leuchtet ihnen ein Fenster weißlich in der schwarzen schwarzen Nacht, dann kehren sie ein ins Wirtshaus, um dem Gott des Bieres zu huldigen.
Lang und dünn ist der eine, klein und kappenbewehrt der andere. Eine beachtliche möhrenförmige Nase strebt beiden voran, womit auch schon alles über die Physiognomik gesagt ist. Denn ein Gesicht oder gar ein Augenpaar fehlt den Figuren, nicht einmal der recht umstandslos in Füße mündende Rumpf ist irgendwie unterteilt. Ein Stöpsel und eine Basecap ohne Schirm gehen durch eine dunkle Welt. Immerhin haben die Freunde einander und das Bier.
Wie jedes Obdach auf Erden ist das im Wirtshaus grässlich kurz. Immer wieder erlischt mit einem Mal der Glühbirnenkegel über den beiden, dann zieht der Wirt das Gitter der Eingangstür herunter, und die Straße hat die beiden wieder. Die Schließungen punktieren das Gespräch und schenken Gelegenheiten zu abrupten Themenwechseln. Sie erlösen auch von der Stille, die zwischen zwei Männern durchaus einkehren kann und nicht immer uneingeschränktes Einverständnis bedeutet, eher kommunikatives Beschweigen und - des öfteren - unkommunikative Selbsteinkehr.
Für Jaroslav Rudis, der schon gemeinsam mit dem tschechischen Zeichner Jaromir 99 Comics verfasst hat, muss der Zwang zur Verknappung reizvoll gewesen sein. Als Schriftsteller und Kneipengänger ist der in Berlin und Prag lebende Tscheche, Jahrgang 1972, ein Mann des barocken Humorüberschwangs. Sein jüngster - und erster auf Deutsch verfasster - Roman, "Winterbergs letzte Reise", 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, besteht vornehmlich aus teils tragikomischen Monologen eines Greises, der seine letzte Eisenbahnfahrt durch ein zu Dreivierteln vergangenes, einem Viertel gegenwärtiges Mitteleuropa zwischen Berlin und Sarajevo absolviert.
Nicolas Mahler dagegen ist für Zuspitzungen bekannt. Der Österreicher hat sich furchtlos hochrangiger Klassiker angenommen und nicht nur Thomas Bernhards "Der Weltverbesserer", James Joyce' "Ulysses" oder Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" auf wenigen hundert Comicseiten mit meist bös intelligentem Witz adaptiert.
Mit sicherem Rhythmusgefühl üben Rudis und Mahler die Kunst des männlichen Kneipengesprächs, dem nichts Wesentliches fern ist und nichts Unwesentliches nah genug sein kann. Aus der Verbindung von beidem entsteht der meist gemütliche, auch ein wenig sentimentalische Humor des Bandes. Diesem fehlt glücklicherweise jede Nähe zu gegenwärtigen Männlichkeitsdiskursen, das Toxischste an diesen Mannsbildern ist das in sie fließende Bier. Die beiden erinnern eher an Heinz Erhardt als an David Bowie oder gar Harvey Weinstein. Kaum etwas stört die melancholische Sehnsucht nach Kneipe, Männerfreundschaft und besseren Zeiten. Der lange Stöpsel trauert einer alten Liebe hinterher und der Jugend, als sich die Frauen um ihn rissen. Er möchte in den Wäldern leben wie die Wisente, die nur im Sommer Stuten und Kinder besuchen und wieder gehen, wenn die Zeit gekommen ist. Schön sei diese Wisentwelt ohne Leid und Scheidung! "Aber du magst doch die Natur gar nicht", bemerkt Basecap. Stimmt leider, sagt der Stadtmensch, ebenso wie das Wandern. Er sei nur einmal zum Wandern mitgenommen worden. "Ist das die Geschichte mit dem Hubschrauber?", fragt Basecap, der über die Rolle des Beichtvaters und Stichwortgebers nicht hinauskommt. "Ich habe den Hubschrauber nicht gerufen", sagt Stöpsel stolz, und Basecap lobt dessen Mut: "In die Alpen mit Sommerlatschen . . ." Fünf Jahre musste Stöpsel den Rettungseinsatz abbezahlen, genoss aber das Gespräch mit einem der Sanitäter über die Schlacht bei Austerlitz und das Ende der Geschichte, also nicht dieser Geschichte, sondern der an sich. Darauf Schweigen in der Stadt, ein weißes, nicht wie sonst mattschwarz-kaliblaues Panel lang. Und dann ein zufriedenes "Schön war das".
Die flüchtig-flüssige Verbindung von Menschheitsproblemen mit den eigenen ist das Stilmittel, mit dem Rudis und Mahler noch der Tragik Witz entlocken: Stöpsel kann nicht mit der tschechischen Bahn zu seiner Geliebten fahren, ohne sich zu betrinken, weil die Strecke an einer Zyklon B produzierenden Fabrik vorbeiführt und seine Großeltern mit dem Gift umgebracht worden sind. Alenka aber schätzt die Nüchternheit, was jede Begegnung zuverlässig verhindert.
Im Comic herrscht edelmattes Schwarz vor. Nicolas Mahler zeigt die Stadt als spätexpressionistischen Schattenriss und seine zwei Biersucher mal weiß, mal kaliblau auf kaliblauer Straße. Weiß sind auch die Lichtkegel der Kneipen sowie die meisten Fluchttraum- und Vorstellungsbilder. Deren Ränder fransen aus, sie schweben wie Bildgespenster, während sonst vier, zuweilen auch zwei oder drei Panels auf durchweg mattschwarzen Stegen die Seiten füllen.
Wären Stöpsel und Basecap nicht so strikt reduziert, wäre die Seitenaufteilung rigider und die Farbgebung naiver, könnte es sich auch um einen einige Jahrzehnte älteren Comic handeln. "Nachtgestalten" haftet ein freundlicher Vintage-Geruch an.
JÖRG PLATH
Jaroslav Rudis, Nicolas Mahler: "Nachtgestalten".
Luchterhand Literaturverlag, München 2021.
144 S., geb., 18,- [Euro].
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