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Kathrin Röggla hat sich spezialisiert auf die Literarisierung von Identitätsverlusten. Ihrer neuen Sammlung unheimlicher Kurzprosa ist leider anzumerken, wie sehr das zur Masche gerät.
Berühmt wurde Kathrin Röggla 2004 mit ihrem Jargonprotokoll "Wir schlafen nicht", in dem sie vier Jahre vor der Lehman-Brothers-Pleite und vier Jahre nach dem Platzen der Dotcom-Blase Interviews mit Akteuren der New Economy ästhetisch verfremdete und zu einem Roman zusammenführte, den manche für prophetisch, andere für nachgeschoben hielten. Kathrin Röggla schuf jedenfalls das Bild einer Arbeitswelt, in der das Soziale längst flöten gegangen war und damit das psychologische Erzählen aufgegeben werden konnte. Um überforderte Dienstleister im Managersprech-Korsett geht es seither in jedem Röggla-Buch von "Die Alarmbereiten" bis zu ihren 2013 erschienenen Essays und Reportagen. Und das, was ihr die Kritiker damals vorwarfen, gilt nach wie vor: Die immer gleiche Versuchsanordnung (entfremdete Arbeitswelten, Souveränitätsverlust und Paranoia) trifft auf die immer gleiche Personalequipe (den einfachen Klaus oder Hartmut von nebenan), erzählt im Rhythmus des Algorithmus, gewürzt mit dem spröden Humor der erfahrenen Reporterin.
Dieses Mal begegnet dem Leser in zweiundvierzig Prosastückchen unter anderem ein 1,90 Meter großer Zwerg, der sich in hessischen Wäldern herumtreibt, um auf der Tannenburg einen Rollenspielwettkampf zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Ein gewisser Jan Hundt sieht "ICE-Realität" an sich vorüberziehen, steigt auf dem Weg zu einem Familientreffen an einer nordhessischen Bahnhofsruine aus und sieht auch dort nur Schröcklichkeiten: "Recyclinghöfe, Physiopraxen und Betonflachbauten." Da ist der Riesenzwerg eine willkommene Ablenkung von diesen traurigen Realitäten. Familie, so scheint es, ist auch nur ein Wort von ganz früher. Jedenfalls dringt sie mitsamt den Doppelkopf spielenden Tantchen gar nicht vor ins Herz der Erzählinstanz, falls diese über ein solches überhaupt verfügt und keine kodierte Erzählapparatur ist, die Prosatexte der Geschmacksrichtung "unheimliche Momentaufnahmen" produziert.
Jan Hundt scheint einerseits ein Familientrauma zu haben und andererseits Digitalitis. Die "Geheimnisse der Provinz" gehen einen hässlichen Bund ein mit dem düsteren Mittelalter und dem närrischen Diesseits, in dem auch am Ende dieser Erzählung mit dem mythenschweren Titel "Deutsche Wälder" der "Datenstaubsauger" wütet - und zwar in Gestalt einer Krankenkassenstudie, an der sich Mister Hundt allem Anschein nach beteiligt hat. Und nun? "Als er aus der Gaststätte heraustrat, wünschte er für einen Moment, der Himmel in dieser nordhessischen Provinz wäre voller Kondensstreifen, als wäre ein Verkehrsknotenpunkt verrutscht, eine plötzliche Neuaufteilung des Luftraums vonstattengegangen." Ja, das wäre schön. Doch wozu? Was will uns dieses Bild suggerieren, außer, dass hier ein bedrohlicher Neuanfang etwas bedrohlich Altbewährtes beenden könnte, was einen Blick auf die nicht minder bedrohliche Zukunft ermöglicht? "Sein Familienleben aufgeben, sein Dasein in den Wäldern von Mitteleuropa, er wollte nichts, als einfach ein ganz normaler Städter sein, der Krankenkassenstudien mitmachte und weiter zwischen Aldi-Nord und Aldi-Süd zu unterscheiden verstand." Wie in den meisten anderen Geschichten klingt auch diese bedeutungsverheißend aus, was bei wohlmeinenden Lesern ein gewisses Je-ne-sais-quoi zu erzeugen vermag, bei skeptischeren eher ein: Je-ne-peux-plus!
In der Geschichte davor war es um ein Klassentreffen in der Provinz gegangen, bei dem unklar ist, ob der im Mittelpunkt stehende Hartmut Terge wirklich der Hartmut Terge ist, an den seine Mitschüler sich zu erinnern glauben. "Dein Job macht uns zu schaffen", sagt ein großer, dünner Mann. "Ich meine, überlegt ihr da oben, wie wir vor die Hunde gehen?" Ein Vorwurf, mit dem Hartmut Terge offenbar von Berufs wegen nichts anfangen kann, den er aber zu akzeptieren bereit ist und der in ihm den Entschluss festigt, "dass er zu handeln hatte, und zwar schnell". Um den Plan umzusetzen, zieht sich der Held dieser Erzählung in die Herrentoilette zurück, wird dort von der gedemütigten Klassenlehrerin verfolgt, mit einem "Spray" werwolfmäßig bearbeitet und von seiner "Gegenwart" befreit - "nur noch die Vergangenheit würde ihn jetzt ständig begleiten".
Kathrin Röggla hat sich spezialisiert auf eine in den digitalen Sümpfen situierte Form des Identitätsverlustes. Seine Literarisierung ist ihr aber längst zur Masche geworden. Die Texte verfügen über zu wenig erzählerische Bindekräfte, will heißen psychologische Verstrickung oder philosophische Spekulation, um den Kampf zwischen Idiom und Jargon, Stammbaum und Stammdaten, inneren und äußeren Bilderwelten sinnlich erlebbar zu machen.
In einer Erzählung mit dem Titel "Frühjahrstagung, Herbsttagung" heißt es sinnfällig: ",Und daneben', hatte Frau Efferdingen hinzugefügt, ,stehen Beamte, die alles einzig von den Endergebnissen her betrachten und von den Ausgangsproblematiken keine Ahnung haben.'" Das Problem bei Rögglas Erzählungen ist nun: Wenn ein Problem nur unzureichend und von den Endergebnissen her formuliert wird, kann es auch nur unzureichend von den Ausgangsproblematiken her durchdacht werden. Wie wenig erkenntnisfördernd vage empfundene Bedrohungsszenarien sind, davon wissen wir heute nicht nur angesichts von AfD, Brexit oder Wahlen in Amerika ein Lied zu singen. Auch wenn das alles rein gar nichts mit den politischen Intentionen der Autorin zu tun hat, bleibt nach der Lektüre ihrer Geschichten nicht wirklich ein "unheimliches" Gefühl zurück, sondern ein unfreiwillig ungutes. Ein kleiner, aber vielleicht kein kleinlicher Unterschied.
KATHARINA TEUTSCH
Kathrin Röggla: "Nachtsendung". Erzählungen.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt am Main 2016. 283 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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