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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Cornelia Achenbachs Roman "Nachtwanderung"
Es gibt wohl Situationen, die sich in fast jedem Leben ähnlich abspielen. Beispielsweise in der Jugend: eine ganze Reihe von ersten Malen, Schulabschluss, die große Frage des Danach. Doch auch wenn sich die Lebenswege von Anfang zwanzig an differenzieren, gibt es im Erwachsenendasein sich überschneidende Momente, vor allem die, die auf das gemeinsame Früher zurückgreifen. Klassentreffen zeichnet dies in geballter Form aus. Dort geschieht "Anekdotenstapelei", aber auch der Abgleich der Lebenswege: "Misstrauen liegt in der Luft. Wer geht hier fremd? Wer wählt rechts?"
So jedenfalls beschreibt es die Erzählerin in Cornelia Achenbachs zweitem Roman, "Nachtwanderung". Das Klassentreffen wird hier zum erzählerischen Ausgangspunkt, denn für die beiden Protagonistinnen bedeutet dies ein mögliches Wiedersehen nach neunzehn Jahren, seit Kirsten verschwunden ist und Ines zurückließ in der jugendlichen Kleinstadtlangeweile.
Die beiden Freundinnen waren früher unzertrennlich. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag, so wird es in der ersten Romanhälfte aus der Perspektive von Ines erzählt. Die letzte gemeinsame Schulstunde: Deutsch bei Schröder, Gedichtanalyse, Rilke. Danach ist Kirsten einfach weg, eine Meldung in der Zeitung, Suchaktion der Polizei. Schließlich, drei Tage später, taucht die Freundin wieder auf, allerdings blieb sie aus Ines' Leben verschwunden, wechselt die Schule, und man hört nie wieder von ihr. Kirsten hinterlässt eine Leerstelle bei Ines: Sie ist "die Eine, der sie alles sagen könnte und der sie nichts erklären müsste. Die Eine, die fehlt."
Warum Kirsten verschwand, kann sich Ines nicht erklären, und somit bleiben auch die Lesenden während der ersten Romanhälfte im Dunkeln. Und doch sind da zwei Ereignisse, die in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll erscheinen. Ines' Gedanken kreisen ständig darum und brechen am entscheidenden Punkt ab, als verhinderte ein Trauma die Erinnerung. Diese zwei Ereignisse sind ein Schulfest und die titelgebende Nachtwanderung. Dadurch weist der Roman eine rätselhafte Spannung auf, denn die Erinnerungen selbst, "die wie feine Glassplitter in der Haut sitzen", bleiben der Protagonistin wie den Lesenden verborgen. Erst durch die Perspektive von Kirsten wird erfahrbar, was in den beiden folgenschweren Nächten passiert ist und warum sie daraufhin verschwinden musste.
Neben dem dominierenden Sujet der Freundschaft befasst sich Achenbachs neuer Roman auch mit Themen, die bereits in ihrem Debüt von 2020 angeklungen sind. Ähnlich wie in "Darüber reden wir später" geht es auch jetzt um Ehen, Kinder und Lebensentwürfe im Allgemeinen. Wie Margret, die Hauptfigur in Achenbachs Erstling, stellen die beiden Hauptfiguren in "Nachtwanderung" mitunter ihre Ehen infrage. Zusätzlich haben beide fortwährend den Wunsch, allein, fern von Familie, Ehemann, Kindern und in Ruhe zu sein. Bei Kirsten wird dies immer in Verbindung mit Bildern von Wäldern und Schnee erzählt: Sie hat den "alten Nachtwanderungswunsch", Moos anzusetzen und mit dem Wald zu verwachsen, oder "in ihrem Kopf liegt Schnee".
Neben der schlichten, aber eindrucksstarken Metaphorik ist noch das Floskelhafte des Romans hervorzuheben. In die erlebte Rede der beiden Protagonistinnen mischen sich solche Floskeln, nur um dann mal ironisch-humorvoll gebrochen, mal bitter-wehmütig widerlegt zu werden. Nach einem verheerenden Streit kommen Kirsten und ihr Ehemann wieder bei sich zu Hause an, der Nachbar winkt ihnen, "sie winken zurück, sie sind so ein nettes Paar. Und dieses wunderschöne Haus. Anständige Leute." Die Sprache changiert zwischen ironischer Distanz und gefühlvoller Nahbarkeit, ohne in Kitsch abzurutschen. EMILIA KRÖGER
Cornelia Achenbach: "Nachtwanderung". Roman.
Wunderraum Verlag, München 2022. 282 S., geb., 20,- Euro.
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