Willi Sitte - Künstler, überzeugter Kommunist, Funktionär, Machtmensch. Er gilt als einer der einflussreichsten und umstrittensten Maler der DDR. Aron Boks ist sein Urgroßneffe und hat sich bisher kaum für seinen berühmten Verwandten interessiert. Bis bei einem Familientreffen plötzlich ein Gemälde auftaucht: Die Heilige Familie. Aron beginnt, Fragen zu stellen: Wer war Willi Sitte wirklich, was trieb ihn an?
Das Gemälde wird zum Ausgangspunkt seiner biografischen Recherche, die ihn mit Geschehnissen während und nach dem Zweiten Weltkrieg und besonders mit den Jahren vor und nach der »Wende« konfrontiert. Irgendwann wird ihm klar, dass die Beschäftigung mit seiner Familie und der DDR auch zu einer Beschäftigung mit sich selbst wird. Aron sammelt, fragt nach und fügt Ereignisse zusammen, die Willi Sitte auf seinem Lebensweg prägten. Zu den Zeitzeugen, mit denen er spricht, gehören neben Ingrid Sitte auch Wolf Biermann, Gerhard Wolf und Volker Braun.
Für Aron, der die DDR selbst nicht mehr erlebt hat, zeigt sich der Maler Willi Sitte als Mensch in all seiner Zerrissenheit. Zwischen Ideologie und Idealismus, Ruhm, Macht, Kunst und Anerkennung. Eine Suche, die uns zu den wichtigsten Fragen der jüngsten Vergangenheit Deutschlands führt.
»Eine Spurensuche, bei der Aron Erinnerungen von Zeitzeugen und aktuelle Ereignisse dokumentarisch miteinander verwebt. Dabei herausgekommen ist seine ganz eigene Geschichte. Eine großartige Annäherung an ein Land, das es nicht mehr gibt, aber unsere Gegenwart weiterhin prägt.«
Alexander Kluge
>der DDR< beschäftigt. Chapeau!«
Lukas Rietzschel, Autor des Bestsellers Raumfahrer
»Dieses Buch ist der Versuch, in der Zeit und in einen Kopf zu reisen. Willi Sittes Kopf ist nicht bereisbar, und dass Aron Boks versucht, auch in das Herz zu reisen und in sein eigenes Herz, macht das Buch für mich zu einem allgemeingültigen Buch über Herzreisen. Alle diese Geschichten zusammen, über die DDR, Willi Sitte und die Kunst, sind großer Stoff, mit dem Aron Boks vorsichtig, klug und ehrlich umgeht.«
Kirsten Fuchs, Jugendliteratur-Preisträgerin und Autorin von Mädchenmeute
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Aron Boks begibt sich
in "Nackt in die DDR" auf die Suche nach
seinem prominenten
Urgroßonkel, dem
umstrittenen Maler
Willi Sitte.
Zwei Gründe heben Aron Boks' Buch "Nackt in die DDR" aus dem Fluss der Bücher heraus. Zum einen ist es der Versuch, die Ambivalenzen im Maler- wie im Funktionärsleben von Willi Sitte möglichst gerecht darzustellen, und zum anderen die Annäherung eines Sechsundzwanzigjährigen an die DDR. Als eine Kollegin in seiner Redaktion einen Artikel über die DDR schreibt, fragt sich Boks, ob der Text nicht eine höhere Authentizität besäße, wenn er ihn verfasste. Er recherchiert zwar erst seit ein paar Monaten zu dieser Zeit, aber ist im ostdeutschen Harzstädtchen Wernigerode geboren. Ganz nebenbei erscheint unausgesprochen das Thema kultureller Aneignung. Sie wurde von westdeutschen Historikern und Journalisten bei der Suche nach einem Bild von der DDR ohne Skrupel praktiziert, von manchen bis heute. Nur nannte man diese Übergriffigkeiten gleich nach der Wiedervereinigung noch nicht so.
Warum sich in "Nackt in die DDR" für den Autor das Interesse an der DDR mit dem an Willi Sitte verbindet, ist leicht erklärt: Aron Boks ist Sittes Urgroßneffe. Nun hat Willi Sitte mit seinen "Fleischbergen" und großflächigen Propagandabildern beim Publikum schon in der DDR nicht durchgehend Gefallen produziert, weshalb der Spruch entstand: Lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt. Um das Bild des Präsidenten des Künstlerverbands, dem Willi Sitte vierzehn Jahre lang vorstand, steht es noch um einiges schlechter. Man sah in ihm den Gralshüter des sozialistischen Realismus, ein Amt, das er sich als Mitglied der Volkskammer und des ZK der SED autorisieren ließ. Man hätte freilich sehen können, dass Sittes Bilder nie im Stil eines platten Realismus gemalt waren, sondern eher expressiv und mit dickem Farbauftrag. Realistisch durchaus, aber eher von der Art, die keine Tabus kennt. Sitte lehnte die Idealisierung und Verschönerung der natürlichen Nacktheit ab.
Aron Boks' "Nackt in die DDR" ist Erzählung und Sachbuch zugleich. Der Titel spielt darauf an, dass der Autor bei seiner Recherche den historischen Raum DDR nackt, also so gut wie ohne Vorwissen betrat. Er will wissen, "was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat", der er weder die DDR noch Willi Sitte kennengelernt hat. Das stimmt zuversichtlich, weil es zeigt, dass nachfolgende Generationen an dieser Erzählung mitschreiben wollen. Interessant, dass die Großmutter zur Kronzeugin wird, während die Mutter, die im Jahr der Wiedervereinigung Abitur gemacht hat, sich den Fragen des Sohnes vehement entzieht: "Meine Mutter sagt, es gibt heute nichts mehr zu sagen." Als wiederhole sich das Schweigen nach Krieg und Vertreibung.
Die Materialsammlung, die Boks für sein Sitte-Bild aufbietet, ist imponierend. Fällt ein Begriff aus der DDR-Geschichte - Bitterfelder Weg, das berüchtigte 11. Kulturplenum, die Petition gegen die Ausbürgerung Biermanns von 1976 -, gibt es eine Fußnote. Sitte habe sich "außerordentlich beunruhigt über die eingetretene Situation durch das Auftreten von Wolf Biermann in der BRD" gezeigt. Kein halber Satz zur Verteidigung, dabei hatte Sitte den Sänger mehrfach zu Konzerten in die Hochschule nach Halle eingeladen. Da sich hier eine der Ambivalenzen im Sitte-Bild zeigte, versuchte Boks ein Gespräch mit Wolf Biermann zu bekommen und erhielt von ihm eine souveräne Antwort: "Nun, dein Urgroßonkel war ein großer Maler, ein großer Künstler, aber ein kleiner Mensch."
Aron Boks hat mit der Entdeckung seines Verwandten erst kurz vor dessen hundertstem Geburtstag begonnen, als auch andere nach der Wahrheit über den 2013 gestorbenen Willi Sitte suchten. Vor allem die beiden Kuratoren der großen Retrospektive 2021 in der Moritzburg-Galerie in Halle, Thomas Bauer-Friedrich und Paul Kaiser, besaßen einen Vorsprung. Boks wollte sich aus dem Bannkreis der Kunstwissenschaftler heraushalten und nimmt kein einziges Sitte-Bild oder Foto in sein Buch auf. Er geht anderen Spuren nach. Beispielsweise zu den drei Brüdern von Sitte, alle gläubige Kommunisten nach dem Vorbild des Vaters: Rudolf, Professor für baubezogene Kunst in Dresden; Franz, der vom Glashersteller zum Hersteller von Leuchten werden wollte; Ernstl, der einer LPG vorstand. Der Autor geht der Frage nach, was bei Sitte Überzeugung eines Kommunisten und was Anpassung war. Wann wurde aus einem, der für die Freiheit seiner Kunst kämpfte, der Staatsmaler einer Diktatur?
Es ist für das Sitte-Bild nicht unwichtig, wann der Maler aus der deutschen Wehrmacht in Italien desertierte und sich dem Widerstand anschloss. Obwohl Boks viel Zeit und Kraft aufwendet und in Italien vor Ort recherchiert, gelingt ihm keine klare Antwort. Ist Sitte schon seit Oktober 1944 im Widerstand, oder ist er erst am 2. April 1945 zu den Partisanen übergelaufen? Dass er, der 1946 seine erste Ausstellung in Mailand hatte und dabei gleich alle Bilder verkaufte, dann doch in die sowjetische Zone kam, spricht dafür, dass es ihm mit seinem kommunistischen Glauben ernst war. Dass er später wegen seiner Anleihen bei Picasso und Léger in die Mühlen der Formalismusdebatte kam, war sicher kein Spaß, nahm Sitte aber nichts von seiner Überzeugung. In den Sechzigerjahren ist die Rede von zwei Selbstmordversuchen, hinter denen das anhaltende Missverständnis seiner Kunst stand, aber wohl auch eine unglückliche Liebe.
Zwar verspricht Aron Boks im Prolog, "unvoreingenommen" über Willi Sitte schreiben zu wollen, aber immerhin schreibt er über ein Familienmitglied. Doch er stellt neben den Urgroßonkel immer den Künstler, neben den Künstler immer den Funktionär. Darüber kommt die ganze Zwiespältigkeit und Zerrissenheit Sittes in Boks' Darstellung: Er, der sich in seiner Kunst zu den Arbeitern bekannte, wurde von ihnen am meisten missverstanden. Im Amt des Verbandspräsidenten verstand er es, sich Privilegien zu verschaffen, von denen er bald glaubte, dass sie ihm zustünden - etwa ein italienischer Koch für "sein" Gästehaus.
Ambivalenzen gibt es viele in Aron Boks' "Nackt in die DDR". Weil er nicht nur seinen Urgroßonkel sucht, sondern auch ein Verständnis für die DDR, entgeht ihm nicht der Gedanke, dass der Streit um den Staatskünstler Willi Sitte eine reale und in ihrer Heftigkeit eine Stellvertreterdebatte ist. So wie Christa Wolf es Anfang der Neunzigerjahre in der Literatur erlebte, als ihre Erzählung "Was bleibt" eine deutsch-deutsche Literaturdebatte auslöste, verhält es sich mit Willi Sitte für die bildende Kunst der DDR. Je mehr sie demontiert werden konnte, desto besser fühlten sich die Sieger. Auch davon ist bei Boks zu lesen. MICHAEL HAMETNER
Aron Boks:
"Nackt in die DDR".
Verlag Harper Collins, Hamburg 2023.
400 S., geb., 24,- Euro.
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