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Gammelfleisch, verseuchte Babynahrung, BSE - dies sind nur wenige Beispiele für immer wiederkehrende Schreckensmeldungen über die gegenwärtige Lebensmittelproduktion. Die Verbraucher sind heute kaum noch in der Lage, die Qualität ihrer Nahrungsmittel zu beurteilen, sie müssen deshalb tagtäglich Vertrauen aufbringen. Diese Konstellation ist jedoch kein neuartiges Kennzeichen der jüngsten Zeit, sondern bildete sich bereits in der Industrialisierung heraus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand eine neue Sensibilität gegenüber Nahrungsmittelverfälschungen, die sich in einer breiten…mehr

Produktbeschreibung
Gammelfleisch, verseuchte Babynahrung, BSE - dies sind nur wenige Beispiele für immer wiederkehrende Schreckensmeldungen über die gegenwärtige Lebensmittelproduktion. Die Verbraucher sind heute kaum noch in der Lage, die Qualität ihrer Nahrungsmittel zu beurteilen, sie müssen deshalb tagtäglich Vertrauen aufbringen. Diese Konstellation ist jedoch kein neuartiges Kennzeichen der jüngsten Zeit, sondern bildete sich bereits in der Industrialisierung heraus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand eine neue Sensibilität gegenüber Nahrungsmittelverfälschungen, die sich in einer breiten öffentlichen Debatte niederschlug. Ursächlich war der gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel: Die wachsende Distanz zwischen Verbrauchern und Produzenten, die zunehmend industrialisierte Produktion sowie die unzähligen neuartigen Produkte und Zusatzstoffe erzeugten ein Gefühl der Unsicherheit. Gleichzeitig veränderte der Aufstieg der Ernährungsforschung den Blick auf die Nahrungsmittel.

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Autorenporträt
geboren 19771996-2001 Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Mittleren Geschichte und des Öffentlichen Rechts in Münster2002-2004 Doktorandin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte2006 Promotion zum Dr. phil.2006/2007 wissenschaftliche Volontärin am Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheimseit April 2008 wissenschaftliche Assistentin am Historischen Seminar, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Universität Frankfurt am Main, zugleich freie Kuratorin am Museum für Kommunikation, Frankfurt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2011

Die Fertigsuppe braucht Vertrauen
Vera Hierholzers Studie über die Anfänge industrieller Lebensmittelproduktion erhellt auch heutige Probleme

Mit mulmigem Gefühl streifen die Verbraucher in diesen Tagen durch die Gemüseabteilungen. Seit der Ehec-Ausbruch die Schlagzeilen bestimmt, gilt einmal mehr: "Essen und Trinken sind eine trügerische Selbstverständlichkeit und basieren letztlich auf Vertrauen." Auf diese Formel bringt die Historikerin Vera Hierholzer die grundlegende Problematik der Lebensmittelversorgung in der modernen Welt. In ihrem Buch befasst sich Hierholzer mit der Regulierung der Nahrungsmittelqualität in den Jahrzehnten zwischen 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs.

"Nahrung nach Norm" ist eine - mittlerweile preisgekrönte - historische Forschungsarbeit, mit der es der Autorin gleichzeitig gelingt, aus der Darstellung der Anfänge der industriellen Nahrungsmittelproduktion einen Schlüssel für unsere heutigen Probleme mit Lebensmitteln zu gewinnen. Heraufbeschworen werden dafür die Welt der ersten Kühlschränke und der neu entwickelten Konservendosen, die Zeit, in der kommunale Markthallen und die ersten Filialen von Kaiser's und Tengelmann eröffnet wurden. Knorr und Maggi brachten die ersten Fertigsuppen auf den Markt, der Schokoladenfabrikant Stollwerck machte sich einen Namen, und Dr. Oetker gab sein erstes Schul-Kochbuch heraus.

Bei den Konsumenten von damals löste die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion zwar eine Vertrauenskrise nie gekannten Ausmaßes aus. Doch für uns sind die längst etablierten Marken und die eingeschliffenen Regeln von Werbung und Konsum Teil unserer Identität als Verbraucher. Hierholzer macht deutlich, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt: wie sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine Entwicklung vollzieht, die Grundlage all dessen sein wird, was unser Risikobewusstsein und unsere Vorstellung von Nahrungsqualität noch heute prägt. Hierholzer führt vor Augen, warum unser Vertrauen in Lebensmittel nach wie vor leicht erschütterbar ist. Sie schildert, wie überfordert die Menschen vor mehr als hundert Jahren waren, als sie sich einem anonymer werdenden Lebensmittelmarkt gegenübersahen. Im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft entstanden grundsätzlich neue, unerprobte Versorgungsstrukturen. Auf dem Lande blieb die Selbstversorgung zwar noch für eine gewisse Zeit dominant; bis 1900 erreichte die Kommerzialisierung der Versorgung mit Nahrungsmitteln aber selbst die Kleinstädte.

Bis dahin hatten der personenbezogene Warenverkehr und die standeseigene Aufsicht durch die Zünfte als Gewähr für sichere Nahrungsmittel gegolten. Nach dem Wegfall solcher Strukturen war es von zentraler Bedeutung, neue Formen der Normsetzung und neue Normstrukturen für die Lebensmittelversorgung zu etablieren - unter Beteiligung von Wissenschaft und Recht.

An dieser These entlang entwickelt Hierholzer ein vielschichtiges Bild der Konsumgesellschaft in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts und kommt dabei immer wieder auf das beherrschende Thema ihrer Arbeit zurück: die Frage, wie Vertrauen sich konstituiert und wie es sich angesichts einer gewandelten Welt wiederherstellen lässt. Im Fall der Nahrungsmittelindustrie - wobei "Nahrungsmittel" dem zeitgenössischen Jargon entspricht und erst später durch "Lebensmittel" ersetzt wurde - sind vor allem die Marketingstrategien der Hersteller ein Spiegel der gravierenden Vertrauenskrise, die damals die Diskussion um Lebensmittelsicherheit prägte. Die Bildung von Marken, die Normierung von Produkten, die demonstrative Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern sind nur einige Beispiele von Marketingmaßnahmen, die auch heute noch geläufig sind.

Die veränderten Bedingungen brachten das neue Berufsbild des Nahrungsmittelchemikers und damit viele bis heute schwelende Konflikte zwischen Kontrolleuren und Kontrollierten hervor. Außerdem führten sie auch zu einem neuen Gefühl von Eigenverantwortung bei den Verbrauchern, die Selbsthilfevereine gegen Verfälschung von Nahrungsmitteln gründeten und die Untätigkeit der Behörden anprangerten - sozusagen das "Foodwatch" der Jahrhundertwende.

Während der Dioxin-Krise Anfang dieses Jahres wurde Vera Hierholzer immer wieder als Zeugin dafür bemüht, dass Lebensmittelskandale kein neues Phänomen sind. Ihr Buch sollte gleichsam als Beweis dafür dienen, dass der Eindruck, heute lebe man in einer Zeit, in der sich Lebensmittelskandale häufen, nicht den Tatsachen entspricht.

Doch einen solchen Beweis zu liefern ist nicht die Absicht hinter der Forschungsarbeit der Autorin. Ihr Buch widmet sich nur an wenigen Stellen konkreten Fällen von Lebensmittelskandalen, Panschereien und Betrug im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert - obwohl es durchaus möglich gewesen wäre, eindrucksvolle historische Beispiele aufzuzählen: etwa Schwerspat und Gips im Brot, mit Fuchsin gefärbter Wein, Kunstbutter aus Ochsennierenfett, verdünnte Milch oder Arsen in Gemüsekonserven.

Die Autorin konzentriert sich vielmehr darauf zu erklären, wie die starken Gefühle und Ängste von Lebensmittelkonsumenten angesichts gesellschaftlicher Umbrüche entstehen. Ebenso wie die rasant wachsende Nahrungsmittelindustrie um die Jahrhundertwende die Verbraucher verunsicherte und sie von den Nahrungsmitteln entfremdete, sorgt auch die heutige Landwirtschaft für Unmut, Ängste und Fragen in der Bevölkerung.

Vera Hierholzers Arbeit ist damit fast ein Spiegel der heutigen Lebenswelt und angesichts der gegenwärtigen Ehec-Krise konstruktiver Kommentar zu einer Situation, in der das Vertrauen der deutschen Verbraucher in Lebensmittel eine ziemlich schwere Erschütterung erfährt.

CHRISTINA HUCKLENBROICH.

Vera Hierholzer: "Nahrung nach Norm". Regulierung von Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871 bis 1914.

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010. 399 S., Abb., geb., 57,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Angesichts der Ehec-Fälle kommt Vera Hierholzers Arbeit über die Regulierung von Nahrungsmittelqualität zwischen 1871 und 1914 aktuelle Bedeutung zu, findet Christina Hucklenbroich. Die Autorin, deren Studie mittlerweile mit einem Preis ausgezeichnet wurde, wie die Rezensentin mitteilt, interessiert sich vor allem für die Erschütterung des Vertrauens, die die Menschen gegenüber industriell hergestellten Nahrungsmitteln bereits von Beginn der Industrialisierung erlebten, und dafür, welche Vermarktungsstrategien dem entgegengesetzt wurden, lässt Hucklenbroich wissen. Aus dem Buch kann man nicht nur erfahren, dass bereits Ende des 19. Jahrhunderts Tendenzen zu mehr "Eigenverantwortung" und Vereine zur Aufdeckung von Lebensmittelskandalen entstanden. Die Autorin kann vor allem ein plastisches "Bild der Konsumgesellschaft" der Zeit zeichnen und zeigen, wie Ängste angesichts zunehmend anonymisierter Lebensmittelproduktion entstehen, so die Rezensentin, die die Arbeit als "konstruktiven Kommentar" zur aktuellen Vertrauenskrise wertet.

© Perlentaucher Medien GmbH