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Vera Hierholzers Studie über die Anfänge industrieller Lebensmittelproduktion erhellt auch heutige Probleme
Mit mulmigem Gefühl streifen die Verbraucher in diesen Tagen durch die Gemüseabteilungen. Seit der Ehec-Ausbruch die Schlagzeilen bestimmt, gilt einmal mehr: "Essen und Trinken sind eine trügerische Selbstverständlichkeit und basieren letztlich auf Vertrauen." Auf diese Formel bringt die Historikerin Vera Hierholzer die grundlegende Problematik der Lebensmittelversorgung in der modernen Welt. In ihrem Buch befasst sich Hierholzer mit der Regulierung der Nahrungsmittelqualität in den Jahrzehnten zwischen 1871 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs.
"Nahrung nach Norm" ist eine - mittlerweile preisgekrönte - historische Forschungsarbeit, mit der es der Autorin gleichzeitig gelingt, aus der Darstellung der Anfänge der industriellen Nahrungsmittelproduktion einen Schlüssel für unsere heutigen Probleme mit Lebensmitteln zu gewinnen. Heraufbeschworen werden dafür die Welt der ersten Kühlschränke und der neu entwickelten Konservendosen, die Zeit, in der kommunale Markthallen und die ersten Filialen von Kaiser's und Tengelmann eröffnet wurden. Knorr und Maggi brachten die ersten Fertigsuppen auf den Markt, der Schokoladenfabrikant Stollwerck machte sich einen Namen, und Dr. Oetker gab sein erstes Schul-Kochbuch heraus.
Bei den Konsumenten von damals löste die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion zwar eine Vertrauenskrise nie gekannten Ausmaßes aus. Doch für uns sind die längst etablierten Marken und die eingeschliffenen Regeln von Werbung und Konsum Teil unserer Identität als Verbraucher. Hierholzer macht deutlich, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt: wie sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine Entwicklung vollzieht, die Grundlage all dessen sein wird, was unser Risikobewusstsein und unsere Vorstellung von Nahrungsqualität noch heute prägt. Hierholzer führt vor Augen, warum unser Vertrauen in Lebensmittel nach wie vor leicht erschütterbar ist. Sie schildert, wie überfordert die Menschen vor mehr als hundert Jahren waren, als sie sich einem anonymer werdenden Lebensmittelmarkt gegenübersahen. Im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft entstanden grundsätzlich neue, unerprobte Versorgungsstrukturen. Auf dem Lande blieb die Selbstversorgung zwar noch für eine gewisse Zeit dominant; bis 1900 erreichte die Kommerzialisierung der Versorgung mit Nahrungsmitteln aber selbst die Kleinstädte.
Bis dahin hatten der personenbezogene Warenverkehr und die standeseigene Aufsicht durch die Zünfte als Gewähr für sichere Nahrungsmittel gegolten. Nach dem Wegfall solcher Strukturen war es von zentraler Bedeutung, neue Formen der Normsetzung und neue Normstrukturen für die Lebensmittelversorgung zu etablieren - unter Beteiligung von Wissenschaft und Recht.
An dieser These entlang entwickelt Hierholzer ein vielschichtiges Bild der Konsumgesellschaft in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts und kommt dabei immer wieder auf das beherrschende Thema ihrer Arbeit zurück: die Frage, wie Vertrauen sich konstituiert und wie es sich angesichts einer gewandelten Welt wiederherstellen lässt. Im Fall der Nahrungsmittelindustrie - wobei "Nahrungsmittel" dem zeitgenössischen Jargon entspricht und erst später durch "Lebensmittel" ersetzt wurde - sind vor allem die Marketingstrategien der Hersteller ein Spiegel der gravierenden Vertrauenskrise, die damals die Diskussion um Lebensmittelsicherheit prägte. Die Bildung von Marken, die Normierung von Produkten, die demonstrative Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern sind nur einige Beispiele von Marketingmaßnahmen, die auch heute noch geläufig sind.
Die veränderten Bedingungen brachten das neue Berufsbild des Nahrungsmittelchemikers und damit viele bis heute schwelende Konflikte zwischen Kontrolleuren und Kontrollierten hervor. Außerdem führten sie auch zu einem neuen Gefühl von Eigenverantwortung bei den Verbrauchern, die Selbsthilfevereine gegen Verfälschung von Nahrungsmitteln gründeten und die Untätigkeit der Behörden anprangerten - sozusagen das "Foodwatch" der Jahrhundertwende.
Während der Dioxin-Krise Anfang dieses Jahres wurde Vera Hierholzer immer wieder als Zeugin dafür bemüht, dass Lebensmittelskandale kein neues Phänomen sind. Ihr Buch sollte gleichsam als Beweis dafür dienen, dass der Eindruck, heute lebe man in einer Zeit, in der sich Lebensmittelskandale häufen, nicht den Tatsachen entspricht.
Doch einen solchen Beweis zu liefern ist nicht die Absicht hinter der Forschungsarbeit der Autorin. Ihr Buch widmet sich nur an wenigen Stellen konkreten Fällen von Lebensmittelskandalen, Panschereien und Betrug im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert - obwohl es durchaus möglich gewesen wäre, eindrucksvolle historische Beispiele aufzuzählen: etwa Schwerspat und Gips im Brot, mit Fuchsin gefärbter Wein, Kunstbutter aus Ochsennierenfett, verdünnte Milch oder Arsen in Gemüsekonserven.
Die Autorin konzentriert sich vielmehr darauf zu erklären, wie die starken Gefühle und Ängste von Lebensmittelkonsumenten angesichts gesellschaftlicher Umbrüche entstehen. Ebenso wie die rasant wachsende Nahrungsmittelindustrie um die Jahrhundertwende die Verbraucher verunsicherte und sie von den Nahrungsmitteln entfremdete, sorgt auch die heutige Landwirtschaft für Unmut, Ängste und Fragen in der Bevölkerung.
Vera Hierholzers Arbeit ist damit fast ein Spiegel der heutigen Lebenswelt und angesichts der gegenwärtigen Ehec-Krise konstruktiver Kommentar zu einer Situation, in der das Vertrauen der deutschen Verbraucher in Lebensmittel eine ziemlich schwere Erschütterung erfährt.
CHRISTINA HUCKLENBROICH.
Vera Hierholzer: "Nahrung nach Norm". Regulierung von Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871 bis 1914.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010. 399 S., Abb., geb., 57,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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