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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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Erkundungen afrikanischer Kultur: Nancy Cunards exzentrische Anthologie "Negro" liegt erstmals auf Deutsch in einer Auswahl vor.
Wenn ein Buch heute "Negro" heißt, ist zu vermuten, es handelt sich um ein altes. Um eine Neuauflage oder Neuübersetzung. Tatsächlich ist "Negro" von Nancy Cunard ein altes Buch, es datiert aus dem Jahr 1934 und erschien im englischen Original unter diesem Titel in einer Auflage von tausend Exemplaren. Die Zahl der Leser damals ist unbekannt, es sollen nicht viele gewesen sein. Neunhundert Seiten umfasste das Werk, ein Wackerstein von einem Buch im XL-Format, das dennoch nur ein Torso des eigentlich geplanten geblieben war. Teuer war es auch, und es enthielt, was damals viele Menschen, die sich ein solches Objekt hätten leisten können, nicht besonders interessierte: Erkundungen der Kultur Afrikas und der Afroamerikaner, der Schwarzen in den Vereinigten Staaten oder anderswo in der Diaspora. Ein Großteil der unverkauften Exemplare wurde in London im Bombenhagel der Deutschen zerstört.
Beiträger waren mehr oder weniger berühmte Künstler und Intellektuelle, die Nancy Cunard um Mitarbeit gebeten hatte (und nicht immer bezahlte), Musiker, Schriftstellerinnen, Anthropologen, Soziologen, auch ein Boxer ist darunter, meist schwarze, aber auch einige weiße, unter ihnen das Surrealistenkollektiv um André Breton, das unter der Überschrift "Tödliche Menschenfreundlichkeit" mittat. Und natürlich steuerte auch die Herausgeberin ein paar Texte bei, die sich in gewisser Weise hier ihr eigenes "Afrika" (in Amerika und in Europa) entwarf. Für sie übertrug damals Samuel Beckett insgesamt neunzehn Texte aus dem Französischen ins Englische, und diese Artikel ("Beckett in Black and Red") hat Alan Friedman vor gut zwanzig Jahren als eigenständige Sammlung bei der University of Kentucky Press herausgegeben.
Im Jahr 1970 war bereits eine auf dreißig Texte gekürzte Fassung der gesamten Anthologie erschienen, und nun, weitere fünfzig Jahre später, liegt endlich auch eine deutsche Ausgabe vor. Ein Fotoessay von Olaf Unverzart in der Mitte des Buchs ist eine Zugabe, die das sammlerische Unternehmen von Nancy Cunard in die Gegenwart weitertreibt - mit Aufnahmen schwarzen Lebens in Kuba, Äthiopien, Ruanda und anderen Ländern neben den Vereinigten Staaten. "Later will be fine" ist der Titel, und das könnte auch über vielen der Texte stehen.
Der deutsche Herausgeber und Mitübersetzer Karl Bruckmaier betont, man müsse gar nicht das ganze Buch lesen, sondern könne auch einfach darin blättern und hier und da hineinlesen und schauen, ob man hängenbleibt. Vermutlich ist das tatsächlich die beste Art, sich diesem Buch zu nähern. Denn die editorische Absicht, sollte sie sich in der Ordnung und Komposition der Texte zueinander erfüllen, ließe sich sowieso nur im originalen Maxiformat nachvollziehen, nicht in der gekürzten Ausgabe, in der nicht nur unter den Texten eine Auswahl getroffen wurde, sondern die Texte auch in sich oft noch gekürzt wurden. Dennoch bleibt der Charakter einer exzentrischen Anthologie erhalten, einer stilistisch wie inhaltlich in hohem Maße durchmischten Sammlung von Erzählungen, Meinungen, Gedichten und Gesängen, historischen Abrissen, gesellschaftlichen Beobachtungen, Geschichten von erfahrener Gewalt und auch romantischen Schwärmens.
Berühmt wurde das Buch vermutlich wegen der Beiträger, unter denen sich sehr bekannte Stimmen, etwa W.E.B. du Bois, Langston Hughes und Zora Neale Hurston, finden. Und weil Nancy Cunard eine so extravagante Persönlichkeit war, eine schöne, reiche englische Erbin, die in auffälliger Kleidung mit einem schwarzen Liebhaber durch Paris und London zog und sich für Afrika und alles Afrikanische begeisterte und oft in den Klatschspalten erschien. Dabei wusste sie, "dass die amerikanischen Schwarzen durch die Bank an Afrika komplett desinteressiert sind, sei es an der Vergangenheit oder der Zukunft dieses Kontinents".
Fasziniert beschreibt sie die neuen Tänze, die in Harlem getanzt werden, die Drag-Partys und jene in Privatwohnungen, die dazu dienten, über den Eintrittspreis von einem halben Dollar die Miete zusammenzukriegen. Sie juchzt förmlich, wenn sie von dem "wahren Leben" schwärmt, das "auf der Straße stattfindet": "Dieses wunderbar Ungeschliffene, ist es nicht zu hundert Prozent eingefangen in der Stimme eines Louis Armstrong, die man an jeder Straßenecke aus einem Lautsprecher grollen hört?" Man mag das als naive Überhöhung des Fremden, Unverstandenen problematisch finden, aber es drückt eben auch ein prinzipielles Nichteinverstandensein mit dem weitverbreiteten Rassismus und dem Milieu aus, aus dem Cunard stammte und dessen Mitglieder an den Hebeln der Macht saßen.
Der Mann, mit dem Nancy Cunard zu jener Zeit zusammen war, war der Jazzmusiker Henry Crowder. Er lebte von 1890 bis 1955, und acht dieser Jahre, von 1928 bis 1935, zusammen mit Nancy Cunard. In "Negro" erzählt er von seinen Erlebnissen während der Unruhen, die 1919 nach dem, wie eine Fußnote erklärt, "ungeklärten Todesfall eines Jugendlichen in Chicago" in mehr als dreißig amerikanischen Städten ausbrachen. In der deutschen Übersetzung klingt das so: "Gerade hab ich einen Gig in einem Freudenhaus in Washington, D.C., wo farbige Mädchen für eine rein weiße Kundschaft da sind. Die Puffmutter besitzt einen kleinen weißen Pudel, den ich so gegen Mitternacht immer Gassi führen muss. Diesmal, ich bin vielleicht fünf Minuten draußen, laufen mir drei betrunkene weiße Schlägertypen über den Weg. Der eine verpasst dem Pudel im Vorbeigehen einen scharfen Tritt, dass der durch die Luft fliegt. Klar, dass es jetzt losgeht. Ich greife mir eine Latte, die hier liegt, weil wir uns direkt neben einer Baustelle in die Haare kriegen. Bei dreien vermutlich eine gute Idee, das mit der Latte. Und dem Hundekicker verpasse ich damit gleich mal vorsorglich eins." Schwarzes Amerikanisch ins Deutsche zu bringen ist immer ein Experiment und das Ergebnis Geschmacksache. Erschütternd ist, wie sehr die Beschreibung Crowders an Berichte von heute erinnert, als seien nicht neunzig Jahre vergangen, Kriege gekämpft, Aufstände aufgeflammt und niedergeschlagen worden.
"Negro" ist ein seltsames Buch geblieben, vielleicht wegen der unterschiedlichen Unterdrückungslinien und -systeme, die sich hier mit Aufruhr und Aufbruch kreuzen. Einerseits haben wir es mit einer reichen Erbin zu tun, die ihrem erdrückend konventionellen Elternhaus und einer ebenso erdrückend geplanten Zukunft für sich selbst entflieht, andererseits mit einem weitreichenden Rassismus, grenzüberschreitend auch im Kulturbetrieb. Auf der einen Seite war das Geld, auf der anderen Talent und Phantasie, und dazwischen diese Frau, die ihr Geld dafür benutzte, ein Bild der Welt der Künstler, die sie bewunderte, in deren eigenen Worten zu erschaffen. Sie dachte, daraus würde ein "Jahrhundertwerk". Und in gewisser Weise ist es das auch geworden - denn die Stimmen, die sie versammelt, singen nicht nur das Lied von Unterdrückung und Befreiung, sondern auch das Lied der Moderne, in deren Geist ein solches Unterfangen wie das der Nancy Cunard überhaupt erst möglich wurde.
VERENA LUEKEN
Karl Bruckmaier (Hrsg.): "Nancy Cunards Negro".
Aus dem Englischen von Isabella und Karl Bruckmaier. Mit einem Fotoessay von Olaf Unverzart. Kursbuch Verlag, Hamburg 2020. 277 S., Abb., geb., 25,- [Euro].
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