Als Natascha Wodin 1992 nach Berlin kommt, sucht sie jemanden, der ihr beim Putzen hilft. Sie gibt eine Annonce auf, und am Ende fällt die Wahl auf eine Frau aus der Ukraine, dem Herkunftsland ihrer Mutter, die im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt wurde. Nastja, eine Tiefbauingenieurin, konnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im wirtschaftlichen Chaos ihrer Heimat nicht mehr überleben - ihr letztes Gehalt bekam sie in Form eines Säckchens Reis ausgezahlt. Da sie ihren kleinen Enkelsohn und sich selbst nicht länger ernähren kann, steigt sie, auf etwas Einkommen hoffend, in einen Zug von Kiew nach Berlin. Dort gelingt es ihr, mehrere Putzjobs zu finden, nach getaner Arbeit schläft sie auf dem Sofa ihrer Schwester. Zu spät bemerkt sie, dass ihr Touristenvisum abgelaufen ist. Unversehens schlittert sie in das Leben einer Illegalen, wird Teil der riesigen Dunkelziffer an Untergetauchten im Dickicht der neuen, noch wildwüchsigen deutschen Hauptstadt. Für Natascha Wodin ist es, als würde sie von ihrem Schicksal erneut eingeholt. Im Heimweh dieser Ukrainerin, mit der sie mehr und mehr eine Freundschaft verbindet, erkennt sie das Heimweh ihrer Mutter wieder, die daran früh zerbrochen ist. Jetzt, Jahre später, zeichnet sie mit verhaltener, tief anrührender Poesie das Porträt von Nastja, einer kämpferischen Frau.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Helmut Böttiger erkennt in Natascha Wodins Roman ein empathisches wie vielschichtiges Gesellschaftsporträt und das Porträt einer Frau aus der Ukraine, die durch die Umstände um ihre Lebensleistung gebracht wird. Die Sehnsucht und den Schmerz der Protagonistin vermittelt ihm der aus der Perspektive einer anderen Frau mit Migrationsgeschichte erzählende Text überzeugend. Was an der Geschichte autobiografisch ist, interessiert Böttiger dabei weniger als die "aufregende Psycho- und Milieustudie" aus einem eher unbekannten Berlin und die "atmosphärische" Beschreibung einer sowjetischen Vergangenheit. Dass sich mit Herkunft und Vergangenheit nicht abschließen lässt, vermittelt ihm der Roman auf eindringliche Weise.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.2021Plötzlich illegal
Natascha Wodin zählt "Nastjas Tränen"
Es sollte ein besonderer Abend werden, der Auftakt zu einer neuen und intensiveren Phase in der erprobten Freundschaft zwischen zwei Frauen mittleren Alters. Die eine, die Ukrainerin Nastja, hatte bei der anderen, der ukrainischstämmigen deutschen Erzählerin des Romans, schon einige Zeit geputzt. Nun hatte Nastja nach dem Tod ihres deutschen Mannes die Berliner Wohnung verloren, und ihre alleinstehende Freundin, die sie schon zuvor bei Behördengängen und anderem unterstützt hatte, war auf den Gedanken gekommen, Nastja ein Zimmer ihrer Behausung anzubieten, schließlich war die zierliche Ukrainerin "alles andere als ein raumgreifender Mensch".
Doch der Einzugsabend endet beinahe im Fiasko. Das "typisch deutsche Essen", Rindsrouladen mit Rotkohl und Klößen, das die Erzählerin nicht ohne Hintergedanken gekocht hat - "ich wollte ihr eine Freude machen und sie zugleich auf das deutsch-ukrainische Leben einstimmen, das wir von nun an miteinander führen würden" -, findet bei Nastja nicht den erhofften Anklang. Im Gegenteil: "Das schmeckt mir nicht", sagt sie. Und zwar "in einem kalten, abweisenden Ton, den ich noch nie von ihr gehört hatte".
Es gibt wesentlich turbulentere Situationen in Natascha Wodins Roman "Nastjas Tränen", der soeben erschienen ist, erzählte Zeiten, die geprägt sind von Armut und Hunger, Verrat, Demütigung und Verzweiflung, auch von Trotz und Gegenwehr. Bei ihrer Ankunft in Deutschland bald nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blickt sie auf eine gescheiterte Ehe zurück und auf eine qualvolle Zeit in der vom kalten Wind des Kapitalismus durchgeschüttelten Ukraine. In Deutschland wagt sie kaum, zu ihren Putzstellen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, weil sie in jeder Fahrkartenkontrolle auch die ihres Aufenthaltsstatus vermutet und eine Abschiebung in die Ukraine befürchtet. Und auch die Ehe mit dem abgründigen Deutschen Achim, geschlossen, um in Berlin bleiben zu dürfen, erweist sich aufgrund des labilen Charakters dieses Ehemannes als desaströs.
Und trotzdem steht dieser unspektakuläre Moment des Abendessens unübersehbar im Zentrum der Geschichte. Woher kommt plötzlich dieser "abweisende Ton" Nastjas, was lässt die Frau, die so viel klaglos ertragen hat, plötzlich so aggressiv werden? Was genau schmeckt ihr nicht?
Natascha Wodin, die für den ihrer ukrainischen Mutter gewidmeten Roman "Sie kam aus Mariupol" (F.A.Z. vom 18. März 2017) zu Recht gefeiert worden ist, erzählt von jener Nastja, indem sie sich auf das stützt, was sie von ihrer Freundin selbst gehört hat, und auf ihre Erlebnisse mit der Frau, die in ihrem Willen, das eigene Leben in Berlin zu meistern und außerdem noch ihre halbe Familie in der Ukraine zu unterstützen, eine immer wieder aufscheinende Härte entwickeln muss. Neben diesem Bericht aber steht ein anderer, der die Erzählerin selbst betrifft. Sie beobachtet und befragt ihr eigenes Verhalten Nastja gegenüber ebenso diskret wie unabweisbar, so dass es auch für die Leser nicht schwer ist, Parallelen zwischen den Lebensläufen zu ziehen und, mehr noch, die Projektionen zu erkennen, die von der Seite der Erzählerin auf Nastja gerichtet werden: Was erhofft sie sich von der Freundschaft zu einer Frau, die so unangreifbar erscheint und in Tränen ausbricht, als sie Schellackplatten mit ukrainischer Musik hört?
"Ich wollte nichts mehr zu tun haben mit dem Osten, der mich kraft meiner Geburt seit jeher verfolgte", sagt die Erzählerin einmal. Und malt sich zugleich aus, mit Nastja ein "deutsch-ukrainisches Leben" zu führen, in der Wohnung einen "west-östlichen Divan" zu etablieren, so wie es mit einer anderen Berliner Freundin gelingt, der lebhaften Russin Lena. Die Widersprüche, die sie in Nastjas Verhalten zu spüren bekommt, sind auch ihr selbst nicht fremd, so viel ahnt man. Mit sicherem Gespür für literarische Erfordernisse belässt es der Roman dabei und verzichtet darauf, Nastjas Beweggründe weiter auszuleuchten. Bis hin zur bitteren Pointe, dass Nastja am Ende in der Ukraine als Witwe eines Deutschen kein Aufenthaltsrecht mehr hat. TILMAN SPRECKELSEN
Natascha Wodin: "Nastjas Tränen". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 176 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Natascha Wodin zählt "Nastjas Tränen"
Es sollte ein besonderer Abend werden, der Auftakt zu einer neuen und intensiveren Phase in der erprobten Freundschaft zwischen zwei Frauen mittleren Alters. Die eine, die Ukrainerin Nastja, hatte bei der anderen, der ukrainischstämmigen deutschen Erzählerin des Romans, schon einige Zeit geputzt. Nun hatte Nastja nach dem Tod ihres deutschen Mannes die Berliner Wohnung verloren, und ihre alleinstehende Freundin, die sie schon zuvor bei Behördengängen und anderem unterstützt hatte, war auf den Gedanken gekommen, Nastja ein Zimmer ihrer Behausung anzubieten, schließlich war die zierliche Ukrainerin "alles andere als ein raumgreifender Mensch".
Doch der Einzugsabend endet beinahe im Fiasko. Das "typisch deutsche Essen", Rindsrouladen mit Rotkohl und Klößen, das die Erzählerin nicht ohne Hintergedanken gekocht hat - "ich wollte ihr eine Freude machen und sie zugleich auf das deutsch-ukrainische Leben einstimmen, das wir von nun an miteinander führen würden" -, findet bei Nastja nicht den erhofften Anklang. Im Gegenteil: "Das schmeckt mir nicht", sagt sie. Und zwar "in einem kalten, abweisenden Ton, den ich noch nie von ihr gehört hatte".
Es gibt wesentlich turbulentere Situationen in Natascha Wodins Roman "Nastjas Tränen", der soeben erschienen ist, erzählte Zeiten, die geprägt sind von Armut und Hunger, Verrat, Demütigung und Verzweiflung, auch von Trotz und Gegenwehr. Bei ihrer Ankunft in Deutschland bald nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion blickt sie auf eine gescheiterte Ehe zurück und auf eine qualvolle Zeit in der vom kalten Wind des Kapitalismus durchgeschüttelten Ukraine. In Deutschland wagt sie kaum, zu ihren Putzstellen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren, weil sie in jeder Fahrkartenkontrolle auch die ihres Aufenthaltsstatus vermutet und eine Abschiebung in die Ukraine befürchtet. Und auch die Ehe mit dem abgründigen Deutschen Achim, geschlossen, um in Berlin bleiben zu dürfen, erweist sich aufgrund des labilen Charakters dieses Ehemannes als desaströs.
Und trotzdem steht dieser unspektakuläre Moment des Abendessens unübersehbar im Zentrum der Geschichte. Woher kommt plötzlich dieser "abweisende Ton" Nastjas, was lässt die Frau, die so viel klaglos ertragen hat, plötzlich so aggressiv werden? Was genau schmeckt ihr nicht?
Natascha Wodin, die für den ihrer ukrainischen Mutter gewidmeten Roman "Sie kam aus Mariupol" (F.A.Z. vom 18. März 2017) zu Recht gefeiert worden ist, erzählt von jener Nastja, indem sie sich auf das stützt, was sie von ihrer Freundin selbst gehört hat, und auf ihre Erlebnisse mit der Frau, die in ihrem Willen, das eigene Leben in Berlin zu meistern und außerdem noch ihre halbe Familie in der Ukraine zu unterstützen, eine immer wieder aufscheinende Härte entwickeln muss. Neben diesem Bericht aber steht ein anderer, der die Erzählerin selbst betrifft. Sie beobachtet und befragt ihr eigenes Verhalten Nastja gegenüber ebenso diskret wie unabweisbar, so dass es auch für die Leser nicht schwer ist, Parallelen zwischen den Lebensläufen zu ziehen und, mehr noch, die Projektionen zu erkennen, die von der Seite der Erzählerin auf Nastja gerichtet werden: Was erhofft sie sich von der Freundschaft zu einer Frau, die so unangreifbar erscheint und in Tränen ausbricht, als sie Schellackplatten mit ukrainischer Musik hört?
"Ich wollte nichts mehr zu tun haben mit dem Osten, der mich kraft meiner Geburt seit jeher verfolgte", sagt die Erzählerin einmal. Und malt sich zugleich aus, mit Nastja ein "deutsch-ukrainisches Leben" zu führen, in der Wohnung einen "west-östlichen Divan" zu etablieren, so wie es mit einer anderen Berliner Freundin gelingt, der lebhaften Russin Lena. Die Widersprüche, die sie in Nastjas Verhalten zu spüren bekommt, sind auch ihr selbst nicht fremd, so viel ahnt man. Mit sicherem Gespür für literarische Erfordernisse belässt es der Roman dabei und verzichtet darauf, Nastjas Beweggründe weiter auszuleuchten. Bis hin zur bitteren Pointe, dass Nastja am Ende in der Ukraine als Witwe eines Deutschen kein Aufenthaltsrecht mehr hat. TILMAN SPRECKELSEN
Natascha Wodin: "Nastjas Tränen". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021. 176 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.09.2021Im Schleudergang der Zeitgeschichte
Eine Frau sucht eine Putzhilfe und findet eine Ukrainerin, wie ihre eigene Mutter: Natascha Wodins Roman „Nastjas Tränen“
Die „slawische Mentalität“ hat etwas Gespenstisches, und Zeit ihres Lebens sah sich Natascha Wodin mit ihr konfrontiert. Als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Hitlerdeutschland geboren, standen ihre Herkunft und die damit verbundenen inneren Konflikte immer im Zentrum ihrer Texte. In Wodins bewegendem Buch „Sie kam aus Mariupol“ diagnostizierte die Autorin den unergründlichen, abweisenden Ausdruck in den Augen ihrer Mutter, die sich in den Fünfzigerjahren umbrachte, als „Heimweh“: als das Gebundensein an eine Welt, vor der sie zwar fliehen wollte, die sie aber in Deutschland fremd bleiben ließ. Denselben Ausdruck erkennt die Ich-Erzählerin nun fünfzig Jahre später in den Augen der Ukrainerin Nastja.
Es spielt keine Rolle, ab welchem Zeitpunkt die Autorin den Bereich engerer biografischer Erfahrungen verlässt und in Fiktionalisierungen übergeht. „Nastjas Tränen“ liest sich wie eine dokumentarische Geschichte, aber in ihr steckt eine aufregende Psycho- und Milieustudie. Die Erzählerin möchte eine Putzfrau einstellen, doch als sie Nastja sieht, ist ihr klar: Dies ist die erste Ukrainerin nach ihrer Mutter, die ihr nach Jahrzehnten begegnet. Plötzlich ist sie mit etwas konfrontiert, das sie eigentlich für immer hinter sich lassen wollte: das Schwanken zwischen Ost und West, die als unheilvoll empfundene Nähe zu slawischen Weltsichten, die dem westlichen Leben verführerisch und verderblich in die Quere kommen können.
Nastja ist eine jugendlich wirkende, intelligente Person, und sie löst widersprüchliche Gefühle aus. Die Ich-Erzählerin tritt mit ihrer Stimme zurück und beschreibt in atmosphärischen Skizzen die sowjetische Vergangenheit ihrer Putzfrau. Da studiert Nastja Bauingenieurwesen in Kiew und verliebt sich in den Medizinstudenten Roman. Eine Zeit lang leben die beiden in einem ausrangierten Güterwagen, und die verschiedensten Eindrücke überlagern sich: die Probleme, etwas zu essen zu ergattern, die zermürbende Wohnsituation, aber auch die Motorradfahrten auf die Krim zu den Eltern Romans, die für Nastja zum Sinnbild ihrer Sehnsüchte werden.
Als die Ukraine ein selbständiger Staat wird, zerbrechen alle Strukturen. Im neuen Wild-Ost-Kapitalismus führen einige Nutznießer des Systems die staatlichen Betriebe und Immobilien skrupellos in ihren Privatbesitz über. Nastja, die leitende Tiefbauingenieurin, bekommt von der Staatskasse monatelang ihr Gehalt nicht mehr ausgezahlt. Als letzten Lohn erhält sie, nach 25 Jahren Dienst, einen Sack Reis. Es herrscht Rechtlosigkeit, das Überleben wird zu einem tagtäglichen Kampf. Da erscheint der „Westen“ auch für Nastja als eine verzweifelte Chance.
Es ist eine zeitgenössische, osteuropäische Odyssee, die nun beginnt, und selten hat man so nah verfolgen können, wie eine gut ausgebildete und pflichtbewusste Frau wie Nastja in den Schleudergang der Zeitgeschichte gerät. Sie ist auf die kriminellen ukrainischen Netzwerke angewiesen und landet als Putzfrau bei der Oligarchengattin Marina Iwanowna, die in einem neureich aufgemotzten Altbau in der Nähe des Kurfürstendamms wohnt und sie schamlos ausbeutet. Doch Nastja gelingt es, auch bei deutschen Familien zu putzen, und bald kommt sie mit der Erzählerin in Berührung. Als der Passfälscherring auffliegt, der Nadja eine gefälschte ukrainisch-jüdische Identität besorgt hatte, und sie Deutschland verlassen muss, spürt die Verfasserin „die letzte Chance, meiner Verwicklung in ihre Geschichte zu entgehen“. Sie möchte nichts mit jener „stillen slawischen Volksdemut“ zu tun haben, die Nastja von ihren Ahnen und Urahnen in die Wiege gelegt worden sei, als Teil der Geschichte eines „seit jeher geknechteten Landes“. Aber sie kümmert sich um Nastja, und es gelingt ihr, deren Abschiebung zu verhindern und eine sogenannte „Fiktionsbescheinigung“ zu ergattern, die ihr eine Zeit lang das Aufenthaltsrecht ermöglicht.
Das bürokratisch schillernde Wort „Fiktionsbescheinigung“ wird von der Erzählerin nach allen Seiten hin befragt und in ihre eigene ästhetische Arbeit überführt. Es gibt wunderbare Passagen, in denen die westliche Welt mit Nastjas Augen wahrgenommen wird, Bevölkerung und Freizeitpraktiken des Prenzlauer Bergs erscheinen wie eine Zirkusvorstellung mit irren Kostümen. Und obwohl ihr die deutschen Familien, bei denen sie putzt, wie Inseln der Humanität erscheinen, und obwohl sie verdutzt registriert, dass die Leute unbeschwert in den Cafés sitzen und offenkundig nicht einem ständigen Kampf ausgesetzt sind wie in ihrer Heimat – etwas in Nastja weigert sich, Deutsch zu lernen, als würde sie „Verrat begehen“ an einer Welt, „die für immer die ihre bleiben würde“.
Eine bizarre Konstellation entsteht, als Nastja eine Heiratsannonce aufgibt, um in Berlin keine Illegale mehr sein zu müssen. Sie verliebt sich in den Kranführer Achim, weil er sie mit seiner Harley-Davidson ausführt – eine Erinnerung an die Ausflüge auf die Krim mit ihrem früheren Mann. Das Bildungsgefälle zwischen der Bauingenieurin, die ihre Bücher in der Staatsbibliothek leiht, und dem deutschen Rocker mit seinen Pornoheften erweist sich als beträchtlich, außerdem entpuppt sich Achim als Heiratsschwindler. Bald lebt er von dem Geld, das sie verdient.
Als Achim schließlich stirbt, verknäuelt sich der Knoten noch. Nastja, deren Unerschütterlichkeit die Erzählerin in den Bann zieht, wohnt nun mit in deren Wohnung. Die Ukrainerin ist „glücklich, wenn sie gebraucht“ wird, und macht viel für ihre Freundin. Doch als es einmal ein festlich gemeintes deutsches Essen gibt, kommt es fast zum Eklat. Nastja schmeckt es nicht, und der eiserne Vorhang, der beiseitegeschoben schien, ist für die Erzählerin plötzlich wieder da. Die Illusion der Gemeinsamkeit zerbricht. Die Erzählerin muss erkennen, dass sie für Nastja viel mehr Deutsche ist als Ukrainerin. Und Nastja hält unbeirrbar an ihren Gewohnheiten fest. Ihr reicht auch hier nur ein „Eckchen“ in der Wohnung, sie streift durch die Stadt, ruhelos wie eine „Straßenkatze“, und sie ist viel lieber unter Leuten als allein. Als sie im Zug nach Kiew einmal ein Einzelabteil zugewiesen bekommt, sehnt sie sich danach, wie die Passagiere in den anderen Abteilen „in einer Ritze zwischen zwei Transportkisten“ zu schlafen „süß eingebettet in die Schicksalsgemeinschaft der Reisenden“.
Mit solch ungebundenen Bildern schließt der Roman, in dem „meine Mutter Regie geführt hatte“. „Nastjas Tränen“ ist eine Auseinandersetzung mit der Herkunft, die kein Ende finden kann und die in ihrer ganzen Sehnsucht und ihrem ganzen Schmerz überraschende Formen annimmt. Aber was daraus entsteht, ist ein einfühlsames, vielschichtiges Charakter- und Gesellschaftsporträt, dessen politische Bedeutung nie näher kommentiert wird, aber in jeder Zeile vibriert.
HELMUT BÖTTIGER
In der Ukraine ist sie
eine Ingenieurin,
in Berlin eine Illegale
Natascha Wodin: Nastjas Tränen. Roman. Rowohlt, Hamburg 2021. 192 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine Frau sucht eine Putzhilfe und findet eine Ukrainerin, wie ihre eigene Mutter: Natascha Wodins Roman „Nastjas Tränen“
Die „slawische Mentalität“ hat etwas Gespenstisches, und Zeit ihres Lebens sah sich Natascha Wodin mit ihr konfrontiert. Als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Hitlerdeutschland geboren, standen ihre Herkunft und die damit verbundenen inneren Konflikte immer im Zentrum ihrer Texte. In Wodins bewegendem Buch „Sie kam aus Mariupol“ diagnostizierte die Autorin den unergründlichen, abweisenden Ausdruck in den Augen ihrer Mutter, die sich in den Fünfzigerjahren umbrachte, als „Heimweh“: als das Gebundensein an eine Welt, vor der sie zwar fliehen wollte, die sie aber in Deutschland fremd bleiben ließ. Denselben Ausdruck erkennt die Ich-Erzählerin nun fünfzig Jahre später in den Augen der Ukrainerin Nastja.
Es spielt keine Rolle, ab welchem Zeitpunkt die Autorin den Bereich engerer biografischer Erfahrungen verlässt und in Fiktionalisierungen übergeht. „Nastjas Tränen“ liest sich wie eine dokumentarische Geschichte, aber in ihr steckt eine aufregende Psycho- und Milieustudie. Die Erzählerin möchte eine Putzfrau einstellen, doch als sie Nastja sieht, ist ihr klar: Dies ist die erste Ukrainerin nach ihrer Mutter, die ihr nach Jahrzehnten begegnet. Plötzlich ist sie mit etwas konfrontiert, das sie eigentlich für immer hinter sich lassen wollte: das Schwanken zwischen Ost und West, die als unheilvoll empfundene Nähe zu slawischen Weltsichten, die dem westlichen Leben verführerisch und verderblich in die Quere kommen können.
Nastja ist eine jugendlich wirkende, intelligente Person, und sie löst widersprüchliche Gefühle aus. Die Ich-Erzählerin tritt mit ihrer Stimme zurück und beschreibt in atmosphärischen Skizzen die sowjetische Vergangenheit ihrer Putzfrau. Da studiert Nastja Bauingenieurwesen in Kiew und verliebt sich in den Medizinstudenten Roman. Eine Zeit lang leben die beiden in einem ausrangierten Güterwagen, und die verschiedensten Eindrücke überlagern sich: die Probleme, etwas zu essen zu ergattern, die zermürbende Wohnsituation, aber auch die Motorradfahrten auf die Krim zu den Eltern Romans, die für Nastja zum Sinnbild ihrer Sehnsüchte werden.
Als die Ukraine ein selbständiger Staat wird, zerbrechen alle Strukturen. Im neuen Wild-Ost-Kapitalismus führen einige Nutznießer des Systems die staatlichen Betriebe und Immobilien skrupellos in ihren Privatbesitz über. Nastja, die leitende Tiefbauingenieurin, bekommt von der Staatskasse monatelang ihr Gehalt nicht mehr ausgezahlt. Als letzten Lohn erhält sie, nach 25 Jahren Dienst, einen Sack Reis. Es herrscht Rechtlosigkeit, das Überleben wird zu einem tagtäglichen Kampf. Da erscheint der „Westen“ auch für Nastja als eine verzweifelte Chance.
Es ist eine zeitgenössische, osteuropäische Odyssee, die nun beginnt, und selten hat man so nah verfolgen können, wie eine gut ausgebildete und pflichtbewusste Frau wie Nastja in den Schleudergang der Zeitgeschichte gerät. Sie ist auf die kriminellen ukrainischen Netzwerke angewiesen und landet als Putzfrau bei der Oligarchengattin Marina Iwanowna, die in einem neureich aufgemotzten Altbau in der Nähe des Kurfürstendamms wohnt und sie schamlos ausbeutet. Doch Nastja gelingt es, auch bei deutschen Familien zu putzen, und bald kommt sie mit der Erzählerin in Berührung. Als der Passfälscherring auffliegt, der Nadja eine gefälschte ukrainisch-jüdische Identität besorgt hatte, und sie Deutschland verlassen muss, spürt die Verfasserin „die letzte Chance, meiner Verwicklung in ihre Geschichte zu entgehen“. Sie möchte nichts mit jener „stillen slawischen Volksdemut“ zu tun haben, die Nastja von ihren Ahnen und Urahnen in die Wiege gelegt worden sei, als Teil der Geschichte eines „seit jeher geknechteten Landes“. Aber sie kümmert sich um Nastja, und es gelingt ihr, deren Abschiebung zu verhindern und eine sogenannte „Fiktionsbescheinigung“ zu ergattern, die ihr eine Zeit lang das Aufenthaltsrecht ermöglicht.
Das bürokratisch schillernde Wort „Fiktionsbescheinigung“ wird von der Erzählerin nach allen Seiten hin befragt und in ihre eigene ästhetische Arbeit überführt. Es gibt wunderbare Passagen, in denen die westliche Welt mit Nastjas Augen wahrgenommen wird, Bevölkerung und Freizeitpraktiken des Prenzlauer Bergs erscheinen wie eine Zirkusvorstellung mit irren Kostümen. Und obwohl ihr die deutschen Familien, bei denen sie putzt, wie Inseln der Humanität erscheinen, und obwohl sie verdutzt registriert, dass die Leute unbeschwert in den Cafés sitzen und offenkundig nicht einem ständigen Kampf ausgesetzt sind wie in ihrer Heimat – etwas in Nastja weigert sich, Deutsch zu lernen, als würde sie „Verrat begehen“ an einer Welt, „die für immer die ihre bleiben würde“.
Eine bizarre Konstellation entsteht, als Nastja eine Heiratsannonce aufgibt, um in Berlin keine Illegale mehr sein zu müssen. Sie verliebt sich in den Kranführer Achim, weil er sie mit seiner Harley-Davidson ausführt – eine Erinnerung an die Ausflüge auf die Krim mit ihrem früheren Mann. Das Bildungsgefälle zwischen der Bauingenieurin, die ihre Bücher in der Staatsbibliothek leiht, und dem deutschen Rocker mit seinen Pornoheften erweist sich als beträchtlich, außerdem entpuppt sich Achim als Heiratsschwindler. Bald lebt er von dem Geld, das sie verdient.
Als Achim schließlich stirbt, verknäuelt sich der Knoten noch. Nastja, deren Unerschütterlichkeit die Erzählerin in den Bann zieht, wohnt nun mit in deren Wohnung. Die Ukrainerin ist „glücklich, wenn sie gebraucht“ wird, und macht viel für ihre Freundin. Doch als es einmal ein festlich gemeintes deutsches Essen gibt, kommt es fast zum Eklat. Nastja schmeckt es nicht, und der eiserne Vorhang, der beiseitegeschoben schien, ist für die Erzählerin plötzlich wieder da. Die Illusion der Gemeinsamkeit zerbricht. Die Erzählerin muss erkennen, dass sie für Nastja viel mehr Deutsche ist als Ukrainerin. Und Nastja hält unbeirrbar an ihren Gewohnheiten fest. Ihr reicht auch hier nur ein „Eckchen“ in der Wohnung, sie streift durch die Stadt, ruhelos wie eine „Straßenkatze“, und sie ist viel lieber unter Leuten als allein. Als sie im Zug nach Kiew einmal ein Einzelabteil zugewiesen bekommt, sehnt sie sich danach, wie die Passagiere in den anderen Abteilen „in einer Ritze zwischen zwei Transportkisten“ zu schlafen „süß eingebettet in die Schicksalsgemeinschaft der Reisenden“.
Mit solch ungebundenen Bildern schließt der Roman, in dem „meine Mutter Regie geführt hatte“. „Nastjas Tränen“ ist eine Auseinandersetzung mit der Herkunft, die kein Ende finden kann und die in ihrer ganzen Sehnsucht und ihrem ganzen Schmerz überraschende Formen annimmt. Aber was daraus entsteht, ist ein einfühlsames, vielschichtiges Charakter- und Gesellschaftsporträt, dessen politische Bedeutung nie näher kommentiert wird, aber in jeder Zeile vibriert.
HELMUT BÖTTIGER
In der Ukraine ist sie
eine Ingenieurin,
in Berlin eine Illegale
Natascha Wodin: Nastjas Tränen. Roman. Rowohlt, Hamburg 2021. 192 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Was in Natascha Wodins west-östliches Kraftfeld gerät, wird zu großer Literatur. Stefan Kister Stuttgarter Zeitung 20210921
Im Schleudergang der Zeitgeschichte
Eine Frau sucht eine Putzhilfe und findet eine Ukrainerin, wie ihre eigene Mutter: Natascha Wodins Roman „Nastjas Tränen“
Die „slawische Mentalität“ hat etwas Gespenstisches, und Zeit ihres Lebens sah sich Natascha Wodin mit ihr konfrontiert. Als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Hitlerdeutschland geboren, standen ihre Herkunft und die damit verbundenen inneren Konflikte immer im Zentrum ihrer Texte. In Wodins bewegendem Buch „Sie kam aus Mariupol“ diagnostizierte die Autorin den unergründlichen, abweisenden Ausdruck in den Augen ihrer Mutter, die sich in den Fünfzigerjahren umbrachte, als „Heimweh“: als das Gebundensein an eine Welt, vor der sie zwar fliehen wollte, die sie aber in Deutschland fremd bleiben ließ. Denselben Ausdruck erkennt die Ich-Erzählerin nun fünfzig Jahre später in den Augen der Ukrainerin Nastja.
Es spielt keine Rolle, ab welchem Zeitpunkt die Autorin den Bereich engerer biografischer Erfahrungen verlässt und in Fiktionalisierungen übergeht. „Nastjas Tränen“ liest sich wie eine dokumentarische Geschichte, aber in ihr steckt eine aufregende Psycho- und Milieustudie. Die Erzählerin möchte eine Putzfrau einstellen, doch als sie Nastja sieht, ist ihr klar: Dies ist die erste Ukrainerin nach ihrer Mutter, die ihr nach Jahrzehnten begegnet. Plötzlich ist sie mit etwas konfrontiert, das sie eigentlich für immer hinter sich lassen wollte: das Schwanken zwischen Ost und West, die als unheilvoll empfundene Nähe zu slawischen Weltsichten, die dem westlichen Leben verführerisch und verderblich in die Quere kommen können.
Nastja ist eine jugendlich wirkende, intelligente Person, und sie löst widersprüchliche Gefühle aus. Die Ich-Erzählerin tritt mit ihrer Stimme zurück und beschreibt in atmosphärischen Skizzen die sowjetische Vergangenheit ihrer Putzfrau. Da studiert Nastja Bauingenieurwesen in Kiew und verliebt sich in den Medizinstudenten Roman. Eine Zeit lang leben die beiden in einem ausrangierten Güterwagen, und die verschiedensten Eindrücke überlagern sich: die Probleme, etwas zu essen zu ergattern, die zermürbende Wohnsituation, aber auch die Motorradfahrten auf die Krim zu den Eltern Romans, die für Nastja zum Sinnbild ihrer Sehnsüchte werden.
Als die Ukraine ein selbständiger Staat wird, zerbrechen alle Strukturen. Im neuen Wild-Ost-Kapitalismus führen einige Nutznießer des Systems die staatlichen Betriebe und Immobilien skrupellos in ihren Privatbesitz über. Nastja, die leitende Tiefbauingenieurin, bekommt von der Staatskasse monatelang ihr Gehalt nicht mehr ausgezahlt. Als letzten Lohn erhält sie, nach 25 Jahren Dienst, einen Sack Reis. Es herrscht Rechtlosigkeit, das Überleben wird zu einem tagtäglichen Kampf. Da erscheint der „Westen“ auch für Nastja als eine verzweifelte Chance.
Es ist eine zeitgenössische, osteuropäische Odyssee, die nun beginnt, und selten hat man so nah verfolgen können, wie eine gut ausgebildete und pflichtbewusste Frau wie Nastja in den Schleudergang der Zeitgeschichte gerät. Sie ist auf die kriminellen ukrainischen Netzwerke angewiesen und landet als Putzfrau bei der Oligarchengattin Marina Iwanowna, die in einem neureich aufgemotzten Altbau in der Nähe des Kurfürstendamms wohnt und sie schamlos ausbeutet. Doch Nastja gelingt es, auch bei deutschen Familien zu putzen, und bald kommt sie mit der Erzählerin in Berührung. Als der Passfälscherring auffliegt, der Nadja eine gefälschte ukrainisch-jüdische Identität besorgt hatte, und sie Deutschland verlassen muss, spürt die Verfasserin „die letzte Chance, meiner Verwicklung in ihre Geschichte zu entgehen“. Sie möchte nichts mit jener „stillen slawischen Volksdemut“ zu tun haben, die Nastja von ihren Ahnen und Urahnen in die Wiege gelegt worden sei, als Teil der Geschichte eines „seit jeher geknechteten Landes“. Aber sie kümmert sich um Nastja, und es gelingt ihr, deren Abschiebung zu verhindern und eine sogenannte „Fiktionsbescheinigung“ zu ergattern, die ihr eine Zeit lang das Aufenthaltsrecht ermöglicht.
Das bürokratisch schillernde Wort „Fiktionsbescheinigung“ wird von der Erzählerin nach allen Seiten hin befragt und in ihre eigene ästhetische Arbeit überführt. Es gibt wunderbare Passagen, in denen die westliche Welt mit Nastjas Augen wahrgenommen wird, Bevölkerung und Freizeitpraktiken des Prenzlauer Bergs erscheinen wie eine Zirkusvorstellung mit irren Kostümen. Und obwohl ihr die deutschen Familien, bei denen sie putzt, wie Inseln der Humanität erscheinen, und obwohl sie verdutzt registriert, dass die Leute unbeschwert in den Cafés sitzen und offenkundig nicht einem ständigen Kampf ausgesetzt sind wie in ihrer Heimat – etwas in Nastja weigert sich, Deutsch zu lernen, als würde sie „Verrat begehen“ an einer Welt, „die für immer die ihre bleiben würde“.
Eine bizarre Konstellation entsteht, als Nastja eine Heiratsannonce aufgibt, um in Berlin keine Illegale mehr sein zu müssen. Sie verliebt sich in den Kranführer Achim, weil er sie mit seiner Harley-Davidson ausführt – eine Erinnerung an die Ausflüge auf die Krim mit ihrem früheren Mann. Das Bildungsgefälle zwischen der Bauingenieurin, die ihre Bücher in der Staatsbibliothek leiht, und dem deutschen Rocker mit seinen Pornoheften erweist sich als beträchtlich, außerdem entpuppt sich Achim als Heiratsschwindler. Bald lebt er von dem Geld, das sie verdient.
Als Achim schließlich stirbt, verknäuelt sich der Knoten noch. Nastja, deren Unerschütterlichkeit die Erzählerin in den Bann zieht, wohnt nun mit in deren Wohnung. Die Ukrainerin ist „glücklich, wenn sie gebraucht“ wird, und macht viel für ihre Freundin. Doch als es einmal ein festlich gemeintes deutsches Essen gibt, kommt es fast zum Eklat. Nastja schmeckt es nicht, und der eiserne Vorhang, der beiseitegeschoben schien, ist für die Erzählerin plötzlich wieder da. Die Illusion der Gemeinsamkeit zerbricht. Die Erzählerin muss erkennen, dass sie für Nastja viel mehr Deutsche ist als Ukrainerin. Und Nastja hält unbeirrbar an ihren Gewohnheiten fest. Ihr reicht auch hier nur ein „Eckchen“ in der Wohnung, sie streift durch die Stadt, ruhelos wie eine „Straßenkatze“, und sie ist viel lieber unter Leuten als allein. Als sie im Zug nach Kiew einmal ein Einzelabteil zugewiesen bekommt, sehnt sie sich danach, wie die Passagiere in den anderen Abteilen „in einer Ritze zwischen zwei Transportkisten“ zu schlafen „süß eingebettet in die Schicksalsgemeinschaft der Reisenden“.
Mit solch ungebundenen Bildern schließt der Roman, in dem „meine Mutter Regie geführt hatte“. „Nastjas Tränen“ ist eine Auseinandersetzung mit der Herkunft, die kein Ende finden kann und die in ihrer ganzen Sehnsucht und ihrem ganzen Schmerz überraschende Formen annimmt. Aber was daraus entsteht, ist ein einfühlsames, vielschichtiges Charakter- und Gesellschaftsporträt, dessen politische Bedeutung nie näher kommentiert wird, aber in jeder Zeile vibriert.
HELMUT BÖTTIGER
In der Ukraine ist sie
eine Ingenieurin,
in Berlin eine Illegale
Natascha Wodin: Nastjas Tränen. Roman. Rowohlt, Hamburg 2021. 192 Seiten, 22 Euro.
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Eine Frau sucht eine Putzhilfe und findet eine Ukrainerin, wie ihre eigene Mutter: Natascha Wodins Roman „Nastjas Tränen“
Die „slawische Mentalität“ hat etwas Gespenstisches, und Zeit ihres Lebens sah sich Natascha Wodin mit ihr konfrontiert. Als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Hitlerdeutschland geboren, standen ihre Herkunft und die damit verbundenen inneren Konflikte immer im Zentrum ihrer Texte. In Wodins bewegendem Buch „Sie kam aus Mariupol“ diagnostizierte die Autorin den unergründlichen, abweisenden Ausdruck in den Augen ihrer Mutter, die sich in den Fünfzigerjahren umbrachte, als „Heimweh“: als das Gebundensein an eine Welt, vor der sie zwar fliehen wollte, die sie aber in Deutschland fremd bleiben ließ. Denselben Ausdruck erkennt die Ich-Erzählerin nun fünfzig Jahre später in den Augen der Ukrainerin Nastja.
Es spielt keine Rolle, ab welchem Zeitpunkt die Autorin den Bereich engerer biografischer Erfahrungen verlässt und in Fiktionalisierungen übergeht. „Nastjas Tränen“ liest sich wie eine dokumentarische Geschichte, aber in ihr steckt eine aufregende Psycho- und Milieustudie. Die Erzählerin möchte eine Putzfrau einstellen, doch als sie Nastja sieht, ist ihr klar: Dies ist die erste Ukrainerin nach ihrer Mutter, die ihr nach Jahrzehnten begegnet. Plötzlich ist sie mit etwas konfrontiert, das sie eigentlich für immer hinter sich lassen wollte: das Schwanken zwischen Ost und West, die als unheilvoll empfundene Nähe zu slawischen Weltsichten, die dem westlichen Leben verführerisch und verderblich in die Quere kommen können.
Nastja ist eine jugendlich wirkende, intelligente Person, und sie löst widersprüchliche Gefühle aus. Die Ich-Erzählerin tritt mit ihrer Stimme zurück und beschreibt in atmosphärischen Skizzen die sowjetische Vergangenheit ihrer Putzfrau. Da studiert Nastja Bauingenieurwesen in Kiew und verliebt sich in den Medizinstudenten Roman. Eine Zeit lang leben die beiden in einem ausrangierten Güterwagen, und die verschiedensten Eindrücke überlagern sich: die Probleme, etwas zu essen zu ergattern, die zermürbende Wohnsituation, aber auch die Motorradfahrten auf die Krim zu den Eltern Romans, die für Nastja zum Sinnbild ihrer Sehnsüchte werden.
Als die Ukraine ein selbständiger Staat wird, zerbrechen alle Strukturen. Im neuen Wild-Ost-Kapitalismus führen einige Nutznießer des Systems die staatlichen Betriebe und Immobilien skrupellos in ihren Privatbesitz über. Nastja, die leitende Tiefbauingenieurin, bekommt von der Staatskasse monatelang ihr Gehalt nicht mehr ausgezahlt. Als letzten Lohn erhält sie, nach 25 Jahren Dienst, einen Sack Reis. Es herrscht Rechtlosigkeit, das Überleben wird zu einem tagtäglichen Kampf. Da erscheint der „Westen“ auch für Nastja als eine verzweifelte Chance.
Es ist eine zeitgenössische, osteuropäische Odyssee, die nun beginnt, und selten hat man so nah verfolgen können, wie eine gut ausgebildete und pflichtbewusste Frau wie Nastja in den Schleudergang der Zeitgeschichte gerät. Sie ist auf die kriminellen ukrainischen Netzwerke angewiesen und landet als Putzfrau bei der Oligarchengattin Marina Iwanowna, die in einem neureich aufgemotzten Altbau in der Nähe des Kurfürstendamms wohnt und sie schamlos ausbeutet. Doch Nastja gelingt es, auch bei deutschen Familien zu putzen, und bald kommt sie mit der Erzählerin in Berührung. Als der Passfälscherring auffliegt, der Nadja eine gefälschte ukrainisch-jüdische Identität besorgt hatte, und sie Deutschland verlassen muss, spürt die Verfasserin „die letzte Chance, meiner Verwicklung in ihre Geschichte zu entgehen“. Sie möchte nichts mit jener „stillen slawischen Volksdemut“ zu tun haben, die Nastja von ihren Ahnen und Urahnen in die Wiege gelegt worden sei, als Teil der Geschichte eines „seit jeher geknechteten Landes“. Aber sie kümmert sich um Nastja, und es gelingt ihr, deren Abschiebung zu verhindern und eine sogenannte „Fiktionsbescheinigung“ zu ergattern, die ihr eine Zeit lang das Aufenthaltsrecht ermöglicht.
Das bürokratisch schillernde Wort „Fiktionsbescheinigung“ wird von der Erzählerin nach allen Seiten hin befragt und in ihre eigene ästhetische Arbeit überführt. Es gibt wunderbare Passagen, in denen die westliche Welt mit Nastjas Augen wahrgenommen wird, Bevölkerung und Freizeitpraktiken des Prenzlauer Bergs erscheinen wie eine Zirkusvorstellung mit irren Kostümen. Und obwohl ihr die deutschen Familien, bei denen sie putzt, wie Inseln der Humanität erscheinen, und obwohl sie verdutzt registriert, dass die Leute unbeschwert in den Cafés sitzen und offenkundig nicht einem ständigen Kampf ausgesetzt sind wie in ihrer Heimat – etwas in Nastja weigert sich, Deutsch zu lernen, als würde sie „Verrat begehen“ an einer Welt, „die für immer die ihre bleiben würde“.
Eine bizarre Konstellation entsteht, als Nastja eine Heiratsannonce aufgibt, um in Berlin keine Illegale mehr sein zu müssen. Sie verliebt sich in den Kranführer Achim, weil er sie mit seiner Harley-Davidson ausführt – eine Erinnerung an die Ausflüge auf die Krim mit ihrem früheren Mann. Das Bildungsgefälle zwischen der Bauingenieurin, die ihre Bücher in der Staatsbibliothek leiht, und dem deutschen Rocker mit seinen Pornoheften erweist sich als beträchtlich, außerdem entpuppt sich Achim als Heiratsschwindler. Bald lebt er von dem Geld, das sie verdient.
Als Achim schließlich stirbt, verknäuelt sich der Knoten noch. Nastja, deren Unerschütterlichkeit die Erzählerin in den Bann zieht, wohnt nun mit in deren Wohnung. Die Ukrainerin ist „glücklich, wenn sie gebraucht“ wird, und macht viel für ihre Freundin. Doch als es einmal ein festlich gemeintes deutsches Essen gibt, kommt es fast zum Eklat. Nastja schmeckt es nicht, und der eiserne Vorhang, der beiseitegeschoben schien, ist für die Erzählerin plötzlich wieder da. Die Illusion der Gemeinsamkeit zerbricht. Die Erzählerin muss erkennen, dass sie für Nastja viel mehr Deutsche ist als Ukrainerin. Und Nastja hält unbeirrbar an ihren Gewohnheiten fest. Ihr reicht auch hier nur ein „Eckchen“ in der Wohnung, sie streift durch die Stadt, ruhelos wie eine „Straßenkatze“, und sie ist viel lieber unter Leuten als allein. Als sie im Zug nach Kiew einmal ein Einzelabteil zugewiesen bekommt, sehnt sie sich danach, wie die Passagiere in den anderen Abteilen „in einer Ritze zwischen zwei Transportkisten“ zu schlafen „süß eingebettet in die Schicksalsgemeinschaft der Reisenden“.
Mit solch ungebundenen Bildern schließt der Roman, in dem „meine Mutter Regie geführt hatte“. „Nastjas Tränen“ ist eine Auseinandersetzung mit der Herkunft, die kein Ende finden kann und die in ihrer ganzen Sehnsucht und ihrem ganzen Schmerz überraschende Formen annimmt. Aber was daraus entsteht, ist ein einfühlsames, vielschichtiges Charakter- und Gesellschaftsporträt, dessen politische Bedeutung nie näher kommentiert wird, aber in jeder Zeile vibriert.
HELMUT BÖTTIGER
In der Ukraine ist sie
eine Ingenieurin,
in Berlin eine Illegale
Natascha Wodin: Nastjas Tränen. Roman. Rowohlt, Hamburg 2021. 192 Seiten, 22 Euro.
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»Martina Gedeck ist eine begnadete Sprecherin für genau solchen Stoff. Sie kann sich zurücknehmen, ohne an Präsenz zu verlieren. Ihr Vortrag ist ruhig und eindringlich und unterstreicht die beeindruckende sprachliche Kraft dieses Romans.« Martin Maria Schwarz BÜCHERmagazin 20211001