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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Klaus von Dohnanyi sucht mit einer Streitschrift die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland
"Erkenne die Lage, rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen." Am Anfang steht Gottfried Benn bei Klaus von Dohnanyi. Am Anfang steht bei ihm die Inventur der Gegenwart. Es geht um eine Gegenwart, für die weder Deutschland noch Europa angemessen gerüstet sind - im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht um eine Gegenwart, in der weder Deutschland noch Europa machtpolitisch mithalten können mit den Vereinigten Staaten, Russland oder China.
Diese Analyse wird von vielen geteilt - im Westen wie im Osten. Aber was folgt daraus für den heutigen Beobachter Dohnanyi, der für Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit zentrale Funktionen übernommen hatte - als Staatsminister im Auswärtigen Amt und Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, als Bundeswissenschaftsminister und Erster Bürgermeister Hamburgs?
Wohltuend wirken zwei Ansätze Dohnanyis: Zum einen ruft er dazu auf, die eigene Lage, die eigenen Kräfte und Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Und da ebendiese in seinen Augen begrenzt sind, plädiert er zum anderen für eine Fokussierung auf das, was jetzt wichtig sei: Sicherheit - wobei er diese nicht eng, sondern umfassend definiert: äußere, wirtschaftliche, soziale und demokratische.
Wohltuend wirken auch Ansätze, mit denen Dohnanyi derartige Sicherheit erreichen will. Als größte unmittelbare Gefahr für Deutschland bezeichnet er die Folgen des Klimawandels. Auch hier rät er zu Realismus: Man solle heute damit rechnen, dass schon die Begrenzung des weltweiten Anstiegs der Erwärmung der Erdatmosphäre bei nur 1,5 Grad ein sehr ehrgeiziges und möglicherweise nicht mehr zu erreichendes Ziel sei.
Entsprechenden Vorrang sowohl politisch als auch in den öffentlichen Haushalten Deutschlands und der Europäischen Union will Dohnanyi eingeräumt sehen für den Katastrophenschutz, die Organisation des Gesundheitswesens und die langfristigen Planungen der deutschen und europäischen Infrastruktur in den nächsten Jahren. Treffend schreibt er der Europäischen Kommission ins Stammbuch: "Die Menschen lesen zwar vom ,Green Deal', von Europas Zielen des Klimaschutzes bis in die Jahre 2035 und 2050 - die Menschen leben aber heute, und sie erfahren schon heute die Folgen des Klimawandels." Sie benötigten heute und morgen Schutz und Hilfe.
Eng verbunden mit dem Klimawandel ist auch für Dohnanyi die Migration nach Europa. Hier bezweifelt er überaus realistisch, dass diese Frage lösbar sei, indem alle Mitgliedstaaten der EU sich zur anteilsmäßigen Aufnahme von Flüchtlingen bereit erklären. Zwar bleibt es auch in seinen Augen richtig, sich weiterhin auf die Lösung der Migrationsfrage in den Herkunftsländern zu konzentrieren, aber dieser Ansatz wird nach Dohnanyis nüchterner Einschätzung nur sehr langfristig wirken. Daher sieht er das Problem der Verteilung von Migranten in der EU nur dann als lösbar an, wenn es zugleich einen glaubwürdigen Ansatz für die Sicherung der Außengrenzen gibt.
Weniger wohltuend hingegen wirken Ansätze, mit denen Dohnanyi die Herausforderungen in der klassischen Sicherheitspolitik adressiert. Grundsätzlich ist es zwar weiterhin richtig, einem erweiterten Sicherheitsbegriff zu folgen und daraus abzuleiten, sich von einer Dominanz militärischer Sicherheitsüberlegungen zu lösen. Aber gerade Berlin aufzufordern, in der transatlantischen Allianz für einen solchen Weg zu werben, wirkt irritierend. Ist es nicht Deutschland, das bereits bei der militärischen Sicherheit große Defizite aufweist? Und basiert nicht eine "moderne, zeitgemäße Sicherheitsstrategie", wie Dohnanyi sie fordert, heute erneut auf einem militärischen Potential, das Abschreckung ermöglicht? Wie wenig davon in Europa übrig ist, erleben NATO und EU seit Jahren an ihren östlichen Grenzen - und dies nicht erst seit Russlands Überfall auf die Ukraine.
Zweifellos bleibt es ebenfalls richtig, dass eine aktive Entspannungspolitik gegenüber Russland langfristig notwendiger denn je ist - allerdings erst bei einer ebenfalls langfristig erfolgreichen Eindämmung der russischen Aggression gegen den Westen - und dass dabei das wirtschaftliche Potential des Westens auch weiterhin positiv eingebracht werden kann - umso mehr in einem durch die eigene Aggression ökonomisch stark geschwächten Russland. Aber ob es sich auf dem Weg dorthin als hilfreich erweisen würde, die Sanktionen gegenüber Moskau aufzuheben, da sie nach dem Urteil von Dohnanyi wenig bewirkt haben, ist schon allein deshalb zu bezweifeln, da wirklich schmerzhafte Sanktionen wie ein totales Embargo von Gas, Öl und Kohle aus Russland bislang nicht verhängt wurden - und zwar genau aus dem Interesse des Westens heraus, das auch Dohnanyi formuliert: eine "nachdrückliche Entspannung gegenüber Russland" - irgendwann nach dem Ende des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Es ist nur leider der Kreml, der eine solche Entspannung derzeit verhindert - durch sein brutales Agieren in seiner Nachbarschaft.
Angesichts der aktuellen Nachrichtenlage im Russlandkonflikt dann auch noch als Ziel auszugeben, Europa müsse am Ende eine allianzneutrale Position beziehen, da es durch militärische Kraft nicht wirklich gesichert werden könne, widerspricht nicht nur Dohnanyis Feststellung zuvor, die NATO sei auch konventionell ein Grund für russische Zurückhaltung in Europa - die sich allerdings auf das Bündnisgebiet der transatlantischen Allianz beschränkt. Dohnanyis Schlussfolgerung, wer sich selbst gegenüber einem Stärkeren nicht mehr wirkungsvoll verteidigen könne, für den sei es immer sicherer, sich nicht einzumischen in Konflikte der Größeren und sich auch nicht durch eine Allianz zu binden, vergisst zum einen, dass gerade die Geschichte Europas lehrt, machtpolitisch lieber Subjekt als Objekt sein zu wollen. Zum anderen eignet sich die Rolle Spaniens, Schwedens und der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, die Dohnanyi zum Vorbild für ein Verhalten Europas im heutigen Machtkampf zwischen Amerika, China und Russland stilisiert, nicht für die geopolitische Komplexität im 21. Jahrhundert - zumal Spanien unter Franco mit einer Infanteriedivision an Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion teilnahm.
Und schließlich China: Hier verhält es sich bei Dohnanyi ähnlich wie bei seinem Blick auf Russland. Peking und Moskau werden vor allem als Getriebene dargestellt: Die Politik des Westens nach dem Ende des Kalten Krieges hat nach Dohnanyis Darstellung nicht nur dazu geführt, dass "heute sogar das christlich-europäische Russland aus seinen europäischen Interessen vertrieben und an die Seite seines früher eher feindlichen Nachbarn China gedrängt" worden sei.
Auch China erscheint als Projektionsfläche westlicher Politik - nicht zuletzt von Amerikas Machterhaltung, Geopolitik und Wirtschaftsinteressen. Umso mehr mahnt er, es sei nicht im Interesse Deutschlands und der EU, den USA auf ihrem "gefährlichen Weg in eine geopolitische Konfrontation mit China" zu folgen.
Seine These, China sei für Europa militärisch bisher in keiner Weise bedrohlich, lässt in ihrer Absolutheit außen vor, wie abhängig nicht zuletzt Deutschlands Wirtschaft von sicheren Seewegen von Asien nach Europa ist. Diese Sicherheit gefährden Chinas maritime Expansionspolitik gegenüber seinen asiatischen Nachbarn und seine starke Aufrüstung zur inzwischen größten Marine der Welt. Und so sollte die Fortsetzung des Zitats von Gottfried Benn, das bei Dohnanyi am Anfang steht, auch seinem bewusst als Streitschrift verfassten Buch empfohlen sein: "Vollende nicht deine Persönlichkeit, sondern die einzelnen deiner Werke." THOMAS SPECKMANN
Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche.
Siedler Verlag, München 2022. 238 S., 22,00 Euro.
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