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Die Nation ist der erfolgreichste Exportartikel Europas und die am meisten
unterschätzte Ideologie der Moderne: George Orwell und Rabindranath Tagore über Nationalismus
VON GUSTAV SEIBT
George Orwell, der vor siebzig Jahren im Alter von 47 starb, hat ein schmales Werk hinterlassen, das der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige der wichtigsten Stichworte lieferte. Die totalitäre Gleichheit, bei der immer einige noch gleicher sein müssen als die gleichgeschaltete Masse, bleibt eine schlagende Formel. „Die Farm der Tiere“ wurde damit zur wirksamsten politischen Fabel unserer Zeit. „1984“, der Titel von Orwells realistischer Dystopie, wurde zur Chiffre totaler Überwachung und Steuerung und zugleich des Widerstands dagegen. Inzwischen wirkt der dort entworfene Apparat fast harmlos schwergängig. Das Potenzial der Orwell'schen Fantasie hat sich durch die Digitalisierung grenzenlos erweitert.
Dass Orwell 1945 auch einen Essay zum Nationalismus verfasste, der bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurde, mag da wie ein großes Versprechen klingen. Der weltweite Rechtsruck hat auch nationalistischen Affekten neuen Auftrieb gegeben. Der langfristige Hintergrund dafür ist das Ende der Blockkonfrontation vor dreißig Jahren, das zahlreiche alt-neue Nationalstaaten aus dem Permafrost des Kalten Kriegs entließ.
Globalisierung und unerfüllte Hoffnungen auf eine neue Weltordnung verschaffen der Nation mit starkem Staat und klaren Grenzen neue Attraktivität. Begleitende Ideologien, vor allem geschichtsrevisionistischer Natur, florieren. Selbst in Deutschland finden sie bei einem radikalisierten Teil der Gesellschaft Anklang.
Doch um den gebräuchlichen Begriff von Nationalismus geht es Orwell gar nicht. Genauer: Dieses konventionelle Verständnis von Nationalismus ist bei ihm nur ein Spezialfall einer übergreifenden Phänomenologie. Orwell beschreibt keine politische Form, sondern eine Geisteshaltung, keine Theorie, sondern eine Mentalität, eine zum Habitus gewordene Ideologie. Der Inhalt ist dabei fast gleichgültig. Es geht um Identifikation – besser Überidentifikation – des einzelnen, der damit aufhört, ein einzelner zu sein, mit einer größeren, überindividuellen „Sache“.
Die Spielarten nationalistischen Denkens, die Orwell aufzählt, reichen vom politischen Katholizismus bis zum Kommunismus, vom Zionismus bis zum Faschismus, vom Klassendenken bis zum Rassismus. Kommunistische Teilsekten zählen ebenso dazu wie politisierte Weltreligionen. Außerdem erwähnt er „negative“ Nationalismen, die sich in Hass und Ablehnung entfalten, darunter am prominentesten den Antisemitismus, aber auch allerlei Formen des zwischennationalen Hasses, beispielsweise im britisch-irischen Verhältnis. Die starke Feindfixierung gehört nun auch zu den Topoi des konventionellen Nationalismus-Begriffs.
Alle diese Denkschemata einen die Kennzeichen von Obsessivität (die Welt wird auf einen Punkt hin gelesen), Instabilität (der mentale Nationalist fühlt sich permanent angegriffen) und Gleichgültigkeit gegenüber der Realität (heute würde man sagen: dem Faktischen). Schuld haben immer die anderen, richtig liegt immer die eigene Seite. Die Welt ist nach Freund-Feind-Schemata in Kategorien „konkurrierenden Prestiges“ geteilt, wo es um Sieg und Niederlage geht. Ein agonale Machtgeschichte bestimmt das Schicksal. Schade, dass Orwell Carl Schmitt nicht gekannt zu haben scheint.
Armin Nassehi, dessen Nachwort das Beste aus Orwells Überlegungen destilliert, beschreibt sie als scharfsinniges Diagnoseinstrument gegenwärtiger Debattenkultur. Heute sind Formen der Unbedingtheit und Realitätsverweigerung wieder allgegenwärtig. Im visionärsten Passus beschreibt Orwell eine Reizbarkeit, die derzeit aus kleinsten Anlässen riesige Erregungswellen (die bekannten „shitstorms“) generiert: „Es muss nur ein bestimmter Ton getroffen oder an einen sensiblen Punkt gerührt werden (...), und die unvoreingenommenste und sanftmütigste Person verwandelt sich mit einem Mal in einen brutalen Parteigänger, der gegenüber seinem Widersacher ,punkten’ will und dem es egal ist, wie viele Lügen er erzählt und wie vielen logischen Irrtümern er dabei aufsitzt.“
Wer hätte in den letzten Jahren solche Verwandlungen ins Rhinozeros-hafte (um Eugène Ionesco zu zitieren) nicht vielfach an sich und anderen erlebt! Nassehi erinnert in diesem Zusammenhang übrigens auch an militante Formen des apokalyptisch gestimmten Klimaprotests und an Rechthabereien im „urbanen linksliberalen Milieu“. Damit dürfte er absichtsvoll eine Probe aufs Exempel solcher Überlegungen provozieren. Angeblich hätten wir zu wenig „Thymos“ – Stolz, Zorn, Kampfbereitschaft – hieß es vor ein paar Jahren. Mittlerweile darf man von thymotischer Überversorgung sprechen. Das ist Orwells Thema.
Er weiß, dass die Krankheit, die er beschreibt, vor allem von Intellektuellen ausgeht. Sie ist eine Abirrung des Denkens. Die Antwort darauf ist bei ihm ein moralischer Appell zu Affekthemmung, Selbstzügelung und Abkühlung, die Übung, wenigsten zu erwägen, dass der bekämpfte Andere einen berechtigten Punkt haben könnte. Das ist eine Ethik für Demokraten, die zugestehen, dass es nicht aufs Rechthaben ankommt, sondern auf die Hegung der Konflikte.
Wie sinnvoll ist es, diese Pathologien mit dem Begriff des „Nationalismus“ zu verbinden? Die Übertragung lässt sich rechtfertigen, wenn „Nation“ hier als prononcierter Ausdruck für das jeweils „Eigene“ verstanden wird, das mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, als Teil der Person oder gar der „Identität“. Das ist ein voluntaristischer Do-it-yourself-Nationalismus, der sich mit beliebigen Inhalten verbinden kann. Oder, wie es der von Orwell sehr missgünstig und ungerecht porträtierte Gilbert K. Chesterton einmal formulierte: Wer nicht mehr an Gott glaubt, glaubt an alles Mögliche.
Doch diese begriffliche Überdehnung verharmlost das historische Phänomen des neuzeitlichen Nationalismus. Dieser entwickelt sich, wie eine breite Forschung gezeigt hat, in integrierten Machtstaaten. Er findet im Alten Testament das Modell eines mit Gott verbündeten Volks, dem dieser Gott ein Territorium zugewiesen hat. Dieses „Volk“ wird zu einer „vorgestellten Gemeinschaft“, wie Benedict Anderson schlagend analysierte. Dabei sind Geschichtserzählungen, Mythen, Symbole, öffentlicher Unterricht, ein „Stil“, eine Nationalsprache mit Nationalliteratur ebenso unentbehrlich wie Eisenbahnsysteme und allgemeine Wehrpflicht. Kurzum: Der moderne Nationalismus dient der Integration großer Gesellschaften zu rational organisierten Staaten, riesigen Machtmaschinen und Wirtschaftsräumen.
Als politisch-soziale Organisationsform hat die Nation die Welt erobert. Sie wurde zum erfolgreichsten politischen Exportartikel Europas. Wie wenig selbstverständlich, wie verstörend das ist, kann man sich mit einer Sicht von außen klar machen. Die Vorträge des indischen Dichters und Philosophen Rabindranath Tagore zum Nationalismus aus dem Jahr 1916 laden zu diesem Blickwechsel ein. Tagore, Literaturnobelpreisträger von 1913, war einst eine weltberühmte Figur. Heute ist sein Ruhm verblasst, umso verdienstvoller ist die elegant übersetzte, schön gestaltete Neuausgabe von Joachim Kalka im Berenberg Verlag.
„Eine Nation, im Sinne der politischen und wirtschaftlichen Vereinigung eines Volkes, ist das Aussehen, das eine Bevölkerung annimmt, wenn sie für einen mechanischen Zweck organisiert wird“, definiert Tagore. Er meint damit das Übergreifen der politischen Sphäre der Selbstbehauptung und der wirtschaftlichen Sphäre der Profitmaximierung auf die ganze Gesellschaft, bis hinein in die Geschlechterbeziehungen. So führe der Nationalismus durch seinen kämpferischen Geist zu einer dramatischen Vermännlichung der Gesellschaft. Die Nation ist, so eine weitere Formulierung Tagores „der organisierte Eigennutz eines Volkes“, „jener Zug an ihm, der am wenigsten menschlich und geistig ist“. Mit ungeheurer Wucht haben diese politischen Machtmaschinen – Riesenapparate von historisch ungekannter Gewaltsamkeit und Effizienz – den Globus nicht nur erobert, sondern ihm auch ihre eigenen Organisationsweisen aufgeprägt. Wer den welthistorischen Schock nacherleben will, mit dem Europa als Raum konkurrierender Nationalismen die planetarische Gesellschaft umgekrempelt hat, der sollte neben Orwells Essay Tagores Vorträge heranziehen.
Und wer sich damit gewappnet hat, wird auch die Abgrenzung des Nationalismus vom „Patriotismus“, die Orwell ebenso wie viele heutige Kommentatoren kategorisch zieht, nicht überzeugend finden. Dieser sei lediglich defensiv, meint Orwell, und scheint das harmlos zu finden, weil es nicht mehr um Vorherrschaft und Imperialismus geht. Doch heutige Formen solcher Abwehr sind kaum weniger destruktiv – etwa fremdenfeindlich und rassistisch – als der frühere expansive Nationalismus. Das Sieg-oder-Niederlage-Spiel hat sich nur vom globalen Schauplatz auf die häusliche Provinzbühne verlagert. Die politische Totalorganisation dient inzwischen nicht mehr der Expansion, sondern der Wohlstandswahrung in Sozialstaaten. Ein zugespitzter, aufs Heimische verengter Patriotismus, wird womöglich noch giftiger, weil es statt Eroberungskriegen Bürgerkriege provozieren kann, gegen innere Feinde.
Orwell ist radikaler Individualist. Seine Konzentration auf intellektuelle Mentalitäten verleugnet die unentbehrlichen Elemente politischer und gesellschaftlicher Integration, die Nation und Nationalismus anboten. Der moderne Nationalstaat ist gleichursprünglich mit der Demokratie, der Konstruktion eines Volkswillens, das macht ihn so abgründig.
Die Nation muss als vorgestellte Gemeinschaft zwar nicht zwangsläufig nationalistisch sein, denn republikanisches Bewusstsein lässt sich auch bürgerrechtlich und verfassungspatriotisch ausgestalten. Doch macht Orwell es sich mit der Pathologisierung des Nationalismus am Ende zu leicht. Isaiah Berlin, ein anderer liberaler Denker, nannte den Nationalismus die am meisten unterschätzte moderne Ideologie. George Orwells Essay ist ein Dokument dieser Unterschätzung.
George Orwell: Über Nationalismus. Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Wirthensohn. Nachwort von Armin Nassehi. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2020. 64 Seiten, 8,00 Euro.
Rabindranath Tagore: Nationalismus. Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Vorwort von Pankaj Mishra. Berenberg Verlag, Berlin 2019. 119 Seiten, 22,00 Euro.
Erregungswellen aus kleinen
Anlässen: Orwell sah
auch den „Shitstorm“ voraus
Als politisch-soziale
Organisationsform hat die Nation
die Welt erobert
Orwells Unterscheidung zwischen
Patriotismus und Nationalismus
ist wenig überzeugend
Eine Nation „ist das Aussehen, das eine Bevölkerung annimmt, wenn sie
für einen mechanischen Zweck organisiert wird“: Rabindranath Tagore und George Orwell.
Fotos:imago/United Archives/imago/Leemage
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Sichtung nach hundert Jahren: Ein Band mit Rabindranath Tagores Vorträgen über Nationalismus
Rabindranath Tagore (1861 bis 1941), "Indiens Nationaldichter", wie ihn sein Übersetzer und Biograph Martin Kämpchen vor zwei Jahren in dieser Zeitung genannt hat, war Poet, Dramatiker, Autor von Romanen und Kurzgeschichten, Essayist, Maler und Komponist populärer Lieder, dazu Philanthrop, Erzieher, Schul- und Universitätsgründer - ein Mann von überwältigender Vielseitigkeit. Durch den Literaturnobelpreis, den er 1913 als erster Asiate bekam, wurde er zu einer globalen Berühmtheit und Kultfigur, an Ausstrahlung beinahe seinem Freund und Antipoden Mohandas Karamchand Gandhi vergleichbar, dessen ehrende Bezeichnung als "Mahatma" ("Große Seele") auf Tagore zurückgeht. In allen Erdteilen wurde Tagore gelesen und bewundert. Seine Reisen führten ihn nach Großbritannien, quer durch den europäischen Kontinent, nach Argentinien, Japan, China, Südostasien, nach Iran und in den Irak und fünfmal in die Vereinigten Staaten.
Im Mai 1916 fährt Tagore über Japan dorthin und kehrt auf demselben Weg Anfang 1917 nach Indien zurück. Sein Agent hätte ein unverfänglich schöngeistiges Vortragsprogramm bevorzugt. Doch Tagore, bei aller Kunst der situativen Selbstdarstellung ein wahrheitsliebender Denker mit einer Botschaft, will über "Nationalismus" sprechen. Seine drei Vorträge erscheinen 1917 bei Macmillan in London und New York, bereits ein Jahr später in deutscher Übertragung. Jetzt hat Joachim Kalka sie neu übersetzt.
Tagore hat feine Antennen für politische und kulturelle Verschiebungen und Umschwünge. 1916 kämpfen die Militärapparate der Kolonialmächte auf europäischen Schauplätzen; in den Vereinigten Staaten beginnt die Debatte um einen möglichen Eintritt in den Krieg; Japan hat 1915 ein Protektorat über China erzwingen wollen und ist nur vorerst gescheitert; Indien wurde von seinen britischen Herren in den Krieg gezogen und erwartet nun politische Zugeständnisse.
In dieser Lage wählt Tagore eine mittlere Argumentationshöhe zwischen Gegenwartsdiagnose und überzeitlichen Weisheiten, wie sie das westliche Publikum von einer Prophetenfigur mit wallendem Bart und orientalischen Roben erwartet. Seine Botschaft ist im Grunde einfach: Nationalismus ist ein relativ neuartiges Übel, das aus dem Westen kommt. Es äußert sich in der Umorganisation von Staaten zu National-Staaten, die als aggressive Apparate und Machtmaschinen zwangsläufig übereinander herfallen müssen. Der Nationalismus wird Europa ruinieren. Asien muss sich hüten, diese "Abstraktion des Egoismus" von den Europäern zu übernehmen, auch wenn Japan in seinem Überlegenheitsrausch gerade dabei ist, ebendies zu tun.
Amerika allerdings ist noch unverbraucht und nicht infiziert und hat den moralischen Bankrott Europas vermieden; es ist "dazu bestimmt, die westliche Zivilisation vor dem Osten zu rechtfertigen". Präsident Woodrow Wilson hätte dem zustimmen können, wäre allerdings mit der pazifistischen Fluchtlinie von Tagores Überlegungen nicht einverstanden gewesen. Tagores Komplimente an die Vereinigten Staaten enden dort, wo er den Wahn des weißen Amerikas anprangert, seine "Überlegenheit anderen Rassen gegenüber sicherzustellen".
Eine lehrbuchreife und durchsystematisierte "Nationalismustheorie" wird man von Rabindranath Tagore nicht erwarten können. Derlei gab es damals noch nicht. Auch bedient er keine allzu offensichtlichen Erwartungen. Er mutet seinem amerikanischen und japanischen Publikum keine breitflächige Demontage des britischen Kolonialismus in Indien zu; andere indische Autoren taten dies gleichzeitig mit erheblichem Erfolg. Wenn er die spirituellen Ressourcen des Ostens dem Materialismus des Westens gegenüberstellt, polt er die Hierarchie der Zivilisationen nicht einfach um. Von einer generellen Überlegenheit des Ostens ist nicht die Rede, auch wenn Tagore die sozial-religiöse Ordnung Indiens dem machtstaatlichen Primat des Politischen vorzieht, den er als Kern des westlichen Zivilisationsmodells ausmacht. Die Kultur des Westens, die Tagore vorzüglich kennt, wird nicht pauschal verworfen. "Ich spreche nur dann bitter von der westlichen Zivilisation, wenn mir bewusst wird, dass sie das in sie gesetzte Vertrauen verrät und ihren eigenen Zweck sabotiert."
Ein antikolonialer Nationalismus begann sich in Indien und anderen Teilen Asiens im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts gerade erst herauszubilden. Tagore bringt keineswegs einen defensiven und legitimen Nationalismus der unterdrückten Kolonialvölker gegen den offensiven und illegitimen Nationalismus der imperialen Mächte in Stellung. Später hat er bei aller Anerkennung von Gandhis politischer Führung im indischen Unabhängigkeitskampf dem Mahatma in taktischen Fragen häufig widersprochen und dessen antimodernistische Anwandlungen kritisiert. Zum Beispiel sah Tagore die Industrialisierung Indiens mit mehr Zuversicht als Gandhi. Für indische Nationalisten ist er bis heute ein unsicherer Kantonist geblieben. Schon Ende 1916 schmiedeten indische Revolutionäre in Kalifornien ein Mordkomplott gegen ihn. Heutige Hindu-Nationalisten können sich auf diesen großherzigen Verfechter des Religionsfriedens nicht berufen.
Die spätere Entwicklung Japans vom Vorkämpfer asiatischer Selbstbefreiung zur repressiven Imperialmacht hat Tagore als einer der Ersten vorausgeahnt und seine japanischen Hörer davor gewarnt, neben den guten auch die schlechten Eigenarten des Westens zu übernehmen. Konkurrenz, so mahnt er, sei in der Staatenwelt stets verderblicher als Kooperation. Freiheit sei ein hohes Gut, doch nicht jeder, der sich politisch frei fühle, sei dies auch in einem moralischen Sinne. Dazu müssten die "Leidenschaften", allen voran Macht- und Profitgier, gezügelt werden.
Manches bei Tagore klingt nach Bußpredigt und daher neuerdings wieder vertraut. "Jedes Individuum ist heute aufgerufen, sich und seine Umgebung auf eine neue Ära vorzubereiten, in welcher der Mensch seine Seele in der geistigen Einheit aller Menschen finden wird." Das lässt sich mehr als ein Jahrhundert später leicht in die Sprache globaler Verantwortungsethik übersetzen. An anderen Stellen zeigt sich der Idealist als kühler Analytiker. Nationen, wie heute üblich, als "imagined communities" zu verstehen ist nicht bedeutend tiefschürfender als Tagores Einsicht in der Mitte des Ersten Weltkriegs, dass sie Konformität produzierende Menschenmanufakturen sind. Tagore sieht die psychologischen Hinter- und Abgründe der Idee der Nation. "Unter ihrem bedeutenden Einfluss kann das ganze Volk einem systematischen Programm des aggressivsten Egoismus folgen, ohne sich im mindesten der moralischen Perversion dieses Vorgangs bewusst zu sein."
Die Zukunft sollte Tagores Sorgen bestätigen. Am 7. Mai 1941, seinem achtzigsten Geburtstag, zog der Weise Bilanz. Er wandte sich ab von Europa und den Briten (nicht aber von seinen englischen Freunden), sah den Triumph des "Dämons der Barbarei" und erwartete dennoch eine Erneuerung der Humanität jenseits des Machtdenkens, vielleicht aus dem Osten kommend. Drei Monate später ist er gestorben.
JÜRGEN OSTERHAMMEL
Rabindranath Tagore:
"Nationalismus".
Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Mit einem Vorwort von Pankaj Mishra. Berenberg Verlag, Berlin 2019. 120 S., geb., 22,- [Euro].
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