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Neue Einordnungen über Marx' ökologisches Denken
Karl Marx kommt spät zur Ökologie. Am Anfang seiner politischen Ökonomie stehen die Auseinandersetzungen mit Entfremdung, der Verdinglichung der Arbeit, des Beziehungsverlusts vom Arbeiter zu seiner Tätigkeit. Das Ding wird zur Ware, der Warenwert determiniert das gesellschaftliche Handeln, der Arbeiter erleidet einen Freiheitsverlust. Am Anfang steht bei Marx auch ein ausgeprägter Optimismus, was den technischen Fortschritt betrifft: bezogen auf die Möglichkeiten einer "Unterjochung" der Natur durch die Technik, auch einer nahezu unbegrenzten Erhöhung der landwirtschaftlichen Ernten, um die wachsende Bevölkerung von Industriestaaten wie England ernähren zu können.
Wie Marx spätestens in den 1860er Jahren zunehmend die "Grenzen der Natur" sieht und die Erkenntnisse in seine Theorien einfügt, zeigt die Dissertation des Soziologen Kohei Saito. Schon seit gut 15 Jahren gibt es Forschungsarbeiten, die sich mit den lange zuvor vernachlässigten ökologischen Aspekten in Marx' Denken befassen. Saito systematisiert sie und verknüpft sie mit Marx' Kapitaltheorien. Bezug nimmt Marx immer wieder auf die Lektüre der Schriften des epochemachenden deutschen Chemikers Justus von Liebig, der einen ähnlichen Wandel durchlebt hat: von anscheinend grenzenlosem Fortschrittsoptimismus in den 1840er und 1850er Jahren hin zu einer skeptischen Wahrnehmung der industrialisierten Landwirtschaft.
Bei Liebig wandelt sich das Paradigma unendlicher Erntemöglichkeiten - düngte der Bauer nur genug - zu einer kritischen Sicht, die sich im Begriff des "Raubbaus" an der Natur verdichtet. Die Mangelernährung der Böden rückt in den Fokus. Von Liebig adaptiert Marx den Begriff des (gestörten) Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur. Die Urbanisierung infolge der Industrialisierung trenne die Menschen vom Acker, mache ihre Fäkalien als Dünger unbrauchbar und mache den (imperialistisch organisierten) Import von Guano- und anderem Dünger notwendig.
So kumulieren sich Erwägungen über Ökologie, Imperialismus und bürgerlichen Kapitalismus zu einem Krisenszenario, das zur Überlebensfrage für die Menschheit erklärt wird. An den zeitgenössischen Beispielen der Fälle schwindender Bodenfruchtbarkeit in amerikanischen Farmen und auch Irlands, wo in Zeiten einer tödlichen Nahrungsknappheit zugleich die Bodenrenten steigen, macht Marx die angebliche Unfähigkeit des kapitalistischen Systems fest, die Massen zu ernähren und zugleich die natürlichen Grundlagen zu erhalten.
Kohei Saito dokumentiert anhand von Briefwechseln und Exzerptauszügen, wie akribisch Marx sich mit naturwissenschaftlichen Schriften seiner Zeit befasste. Der Fokus auf die Landwirtschaft diente dazu, Belege für die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus zu finden, die seinen Theorien entsprachen. Der "Communismus" werde die wahrhafte Auflösung des kapitalistischen Grundkonflikts zwischen Mensch und Natur bringen. Heute weiß man über die nicht minder atemberaubende Natur-Vernutzung, die sozialistische Systeme mit sich brachten, und der bürgerliche Kapitalismus nährt die Menschheit besser und billiger denn je. Noch - würde Saito mit Karl Marx sagen.
JAN GROSSARTH
Kohei Saito: Natur gegen Kapital. Marx' Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus. Frankfurt 2016, Campus, 328 Seiten, 39,95 Euro.
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