Die Natura des Mittelalters ist eine Traumerscheinung. So ist die Beschäftigung mit diesem Thema auch aus einem Seminar über "Traum und Traumdeutung im Mittelalter" hervorgegangen. Etwas von dieser Entrückung hat sich über die Jahre erhalten, von der Spannung dieser Figur zwischen Traum und Empirie, zwischen Himmel und Erde, sei es während des Studiums
in den illustren Handschriftenlesesälen oder bei der Arbeit in Familie und Beruf. Die für den Druck gekürzte Arbeit wurde 1995 vom Fachbereich Kulturgeschichte und Kulturkunde der Universität Hamburg als Dissertation angenommen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.1998Göttliche Muttermilch trinkt der Gelehrte
Im Mittelalter entblößte sich die Natur nur zwischen Buchdeckeln: Mechtild Modersohn öffnet den Giftschrank
Es fällt immer schwerer, die Grenzlinie zwischen Mittelalter und Neuzeit exakt zu bestimmen. Vielleicht setzt sich demnächst die Ansicht durch, die entscheidende Zäsur habe nicht das fünfzehnte oder das sechzehnte Jahrhundert, also nicht die Renaissance, der Humanismus oder die Reformation, sondern das zwölfte Jahrhundert mit seiner Entdeckung des Menschen und der Natur gebracht.
Die Arbeit von Mechtild Modersohn dringt weit vor in das Niemandsland zwischen Literatur-, Philosophie- und Kunstgeschichte, aber sie vermeidet die Diskussion geschichtsphilosophischer Allgemeinheiten. Sie hält sich an unbestreitbare Details: Aus der gesamten Antike gibt es nur eine einzige Darstellung der Natura; seit dem zwölften Jahrhundert gibt es deren viele. Wie schon Ernst Robert Curtius gezeigt hat, bilden Bernardus Silvestris aus Tours und Alanus aus Lille die geschichtliche Wasserscheide: Seitdem konnte man im christlichen Mittelalter von der "Göttin Natur" reden. Und man konnte sie abbilden. Vor allem in Handschriften mit den Texten des Alanus, der davon spricht, Natura schaffe einen neuen Menschen - hier wird die Natur zu einer mythischen Figur. Wir sehen sie als göttliche Schmiedin, die auf dem Amboß Menschen formt, einen homo novus.
Die Natura klagt über den Verfall der natürlichen Ordnung, besonders über die gleichgeschlechtliche Liebe, die "Sünde wider die Natur". Auch dies ließ sich abbilden. Aber auch in philosophischen Büchern wird Natura als Göttin oder Quasi-Göttin abgebildet. Besonders ergiebig sind die Handschriften mit dem Text des Rosenromans. Jetzt sind wir im dreizehnten Jahrhundert; wir stehen im Zeitalter der Hochgotik und der Blüte der Scholastik, aber die kirchliche Aufsicht hat nicht verhindert, daß etwa 160 illustrierte Handschriften des Rosenromans erhalten sind; die Studie von Modersohn untersucht davon nicht weniger als 120. Sie macht darauf aufmerksam, daß Natura ihre göttliche Rolle nur zwischen Buchdeckeln entfalten konnte. Öffentliche Darstellungen sind nicht bekannt, außer Manuskripten ist daher nur ein einziges Emailkästchen zu behandeln, das sogenannte Artes-liberales-Kästchen im Victoria & Albert Museum, London, aus dem letzten Viertel des zwölften Jahrhunderts, das vielleicht mit Johannes von Salisbury in Verbindung stand. Hier reicht Natura der Wissenschaft, scientia, nährend ihre Brust.
Die Lektüre dieses Buches läßt sich vergnüglich gestalten: Man gehe vom opulenten Tafelteil zum nüchtern-akribischen Text, dem eine Hamburger Dissertation zugrunde liegt. Zuerst sehen wir in einer Buchillustration des elften Jahrhunderts die Natur als etwas, das überwunden werden muß. Sie liegt gebunden am Boden; der Mensch soll über sie hinaussteigen. Und dann sehen wir, wie Natura um 1265 eine Krone und ein Blütenszepter bekommt. Zuerst hatte sie ihre Beichte in einem Kirchenraum abgelegt, um 1360 tritt sie in die freie Landschaft, 1496 hat sie sich emanzipiert; sie zeigt uns die Brüste, die alles auf der Erde nähren (Natura lactans) - und das in wissenschaftlichen Büchern, in Lehrbüchern der Medizin und in der "Physik" des Aristoteles. Natura wird zur Schöpferin und zur Mutter der Wissenschaften.
Diese substantielle Natura, sagt die Autorin zu Recht, personifiziert "umstrittene philosophische Positionen und ist Teil des Autonomieprozesses der Philosophie. Sie steht für ,ein anderes Mittelalter', für die Brüche im christlichen Weltbild." Modersohn verfolgt den Werdegang der erstarkenden Natura; sie verweilt zuerst bei Alanus von Lille und dessen "Klage der Natur" (um 1160/70), in der Natura im Traum erscheint: Natur als "Herrin der Welt". Einen weiteren Schwerpunkt bilden Brunetto Latini, der Lehrer Dantes, und schließlich der Rosenroman (Guillaume de Lorris, um 1230, fortgesetzt von Jean de Meun, um 1270) - ein Buch, das wegen seiner Naturverehrung und seines Amoralismus der Häresie verdächtigt wurde. Der Kanzler der Universität Paris, Jean Gerson, rief noch 150 Jahre nach seiner Entstehung dazu auf, es zu verbrennen: Au feu, bonnes gens, au feu!
Modersohns Buch ist vor allem eine detaillierte Studie zu den Illustrationen des Rosenromans, verfolgt aber die Wirkung der Hauptmotive teilweise bis in die Gegenwart. Es enthält als höchst brauchbaren Anhang einen Katalog der illuminierten Handschriften des Rosenromans. Dies Verzeichnis ist präzis gearbeitet und ein Anreiz zu weiterer Forschung; der Laie kann sich der Bilder erfreuen, die Natura abbilden, wie sie dem Nus, dem Genius, klagend beichtet, wie sie dann aber als Frau aktiv wird und in ihrer Schmiede Menschen formt.
Eine "Göttin Natura" paßt nicht in das uniform-bigotte Bild, das wir gewöhnlich vom Mittelalter haben; sie wurde auch von frommen Eiferern bekämpft, aber es gab Möglichkeiten der Adaption. Auch die Personifizierung des Genius ist ein ungewöhnlicher Vorgang; Modersohn deutet diese Figur, Le Goff folgend, als den Patron oder Inbegriff des Intellektuellen im Mittelalter, sie erwähnt antike Skulpturen als Vorlagen; ich würde eher an die neuplatonische Hierarchie von Gott - Intelligentia - Natura denken, die der Liber de causis verbürgte und auch von den orthodoxesten Scholastikern in Anspruch genommen worden ist. Die Autorin betont denn auch: "Wir befinden uns nicht auf häretischem Boden, zumindest nicht aus der Sicht des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts." Die Verehrung der Natur wird als Kniefall dargestellt: "Durch diesen Kniefall entstand Neues: bei Brunetto Latini die volkssprachliche Enzyklopädie, bei Jean de Meun die volkssprachliche Philosophie, bei Guillaume de Machaut die vertonte volkssprachliche Dichtung und die Ars nova seiner Musik."
Dieses Buch berührt diskret und immer detailliert, aber in klarer Diktion eine Reihe übergeordneter Themen wie die Geschichte des Naturbegriffs, das Verhältnis von Naturselbständigkeit und christlichem Denken, das Verhältnis von Tod und Natur, auch die Rolle der Astrologie. Es greift ein in die Diskussion um Übernahme antiker Gottheiten oder mittelalterliche Neuschöpfung im Felde der Mythologie. Es illustriert die Philosophiegeschichte, stellt es doch das Autonomiebestreben mittelalterlicher Philosophen und die Entwicklung einer eigenen philosophischen Ikonologie dar und bezieht sie auf die soziale, politische und intellektuelle Verselbständigung der mittelalterlichen Laien. Indem die Natura selbst Künstlerin ist, verschwindet der Gegensatz von Natur und Kunst. Gott, die Natur und der Künstler schaffen in gemeinsamer Kreativität.
Bemerkenswert ist folgendes Detail: Fast alle vorgestellten Natura-Motive haben das Mittelalter nicht überlebt. Wie kommt das? Mit dieser Frage ließe sich die Analyse des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts neu beginnen. Natürlich war der Topos falsch, die Renaissance habe die Natur entdeckt. Sowohl das zwölfte als auch das siebzehnte Jahrhundert haben die Natur entdeckt, nur auf entgegengesetzte Weise, das fünfzehnte Jahrhundert war kein radikaler Neubeginn, aber es hat mit der Zentralperspektive, dem die spätmittelalterliche Mathematisierung der Natur vorgearbeitet hatte, ebenfalls neue Natur-Wege beschritten; nur hatte es - anders als das siebzehnte Jahrhundert - die Mathematisierung auf die Eindrücke des unbewaffneten Auges bezogen. Danach erst haben Teleskop und Mikroskop die Göttin Natura konsequenter vertrieben, als es die theologische Dogmatik und die klerikale Zensur im Mittelalter je vermocht hätten. KURT FLASCH
Mechtild Modersohn: "Natura als Göttin im Mittelalter". Ikonographische Studien zu Darstellungen der personifizierten Natur. Akademie Verlag, Berlin 1997. 382 S., 186 Abb., geb., 148,- DM.
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Im Mittelalter entblößte sich die Natur nur zwischen Buchdeckeln: Mechtild Modersohn öffnet den Giftschrank
Es fällt immer schwerer, die Grenzlinie zwischen Mittelalter und Neuzeit exakt zu bestimmen. Vielleicht setzt sich demnächst die Ansicht durch, die entscheidende Zäsur habe nicht das fünfzehnte oder das sechzehnte Jahrhundert, also nicht die Renaissance, der Humanismus oder die Reformation, sondern das zwölfte Jahrhundert mit seiner Entdeckung des Menschen und der Natur gebracht.
Die Arbeit von Mechtild Modersohn dringt weit vor in das Niemandsland zwischen Literatur-, Philosophie- und Kunstgeschichte, aber sie vermeidet die Diskussion geschichtsphilosophischer Allgemeinheiten. Sie hält sich an unbestreitbare Details: Aus der gesamten Antike gibt es nur eine einzige Darstellung der Natura; seit dem zwölften Jahrhundert gibt es deren viele. Wie schon Ernst Robert Curtius gezeigt hat, bilden Bernardus Silvestris aus Tours und Alanus aus Lille die geschichtliche Wasserscheide: Seitdem konnte man im christlichen Mittelalter von der "Göttin Natur" reden. Und man konnte sie abbilden. Vor allem in Handschriften mit den Texten des Alanus, der davon spricht, Natura schaffe einen neuen Menschen - hier wird die Natur zu einer mythischen Figur. Wir sehen sie als göttliche Schmiedin, die auf dem Amboß Menschen formt, einen homo novus.
Die Natura klagt über den Verfall der natürlichen Ordnung, besonders über die gleichgeschlechtliche Liebe, die "Sünde wider die Natur". Auch dies ließ sich abbilden. Aber auch in philosophischen Büchern wird Natura als Göttin oder Quasi-Göttin abgebildet. Besonders ergiebig sind die Handschriften mit dem Text des Rosenromans. Jetzt sind wir im dreizehnten Jahrhundert; wir stehen im Zeitalter der Hochgotik und der Blüte der Scholastik, aber die kirchliche Aufsicht hat nicht verhindert, daß etwa 160 illustrierte Handschriften des Rosenromans erhalten sind; die Studie von Modersohn untersucht davon nicht weniger als 120. Sie macht darauf aufmerksam, daß Natura ihre göttliche Rolle nur zwischen Buchdeckeln entfalten konnte. Öffentliche Darstellungen sind nicht bekannt, außer Manuskripten ist daher nur ein einziges Emailkästchen zu behandeln, das sogenannte Artes-liberales-Kästchen im Victoria & Albert Museum, London, aus dem letzten Viertel des zwölften Jahrhunderts, das vielleicht mit Johannes von Salisbury in Verbindung stand. Hier reicht Natura der Wissenschaft, scientia, nährend ihre Brust.
Die Lektüre dieses Buches läßt sich vergnüglich gestalten: Man gehe vom opulenten Tafelteil zum nüchtern-akribischen Text, dem eine Hamburger Dissertation zugrunde liegt. Zuerst sehen wir in einer Buchillustration des elften Jahrhunderts die Natur als etwas, das überwunden werden muß. Sie liegt gebunden am Boden; der Mensch soll über sie hinaussteigen. Und dann sehen wir, wie Natura um 1265 eine Krone und ein Blütenszepter bekommt. Zuerst hatte sie ihre Beichte in einem Kirchenraum abgelegt, um 1360 tritt sie in die freie Landschaft, 1496 hat sie sich emanzipiert; sie zeigt uns die Brüste, die alles auf der Erde nähren (Natura lactans) - und das in wissenschaftlichen Büchern, in Lehrbüchern der Medizin und in der "Physik" des Aristoteles. Natura wird zur Schöpferin und zur Mutter der Wissenschaften.
Diese substantielle Natura, sagt die Autorin zu Recht, personifiziert "umstrittene philosophische Positionen und ist Teil des Autonomieprozesses der Philosophie. Sie steht für ,ein anderes Mittelalter', für die Brüche im christlichen Weltbild." Modersohn verfolgt den Werdegang der erstarkenden Natura; sie verweilt zuerst bei Alanus von Lille und dessen "Klage der Natur" (um 1160/70), in der Natura im Traum erscheint: Natur als "Herrin der Welt". Einen weiteren Schwerpunkt bilden Brunetto Latini, der Lehrer Dantes, und schließlich der Rosenroman (Guillaume de Lorris, um 1230, fortgesetzt von Jean de Meun, um 1270) - ein Buch, das wegen seiner Naturverehrung und seines Amoralismus der Häresie verdächtigt wurde. Der Kanzler der Universität Paris, Jean Gerson, rief noch 150 Jahre nach seiner Entstehung dazu auf, es zu verbrennen: Au feu, bonnes gens, au feu!
Modersohns Buch ist vor allem eine detaillierte Studie zu den Illustrationen des Rosenromans, verfolgt aber die Wirkung der Hauptmotive teilweise bis in die Gegenwart. Es enthält als höchst brauchbaren Anhang einen Katalog der illuminierten Handschriften des Rosenromans. Dies Verzeichnis ist präzis gearbeitet und ein Anreiz zu weiterer Forschung; der Laie kann sich der Bilder erfreuen, die Natura abbilden, wie sie dem Nus, dem Genius, klagend beichtet, wie sie dann aber als Frau aktiv wird und in ihrer Schmiede Menschen formt.
Eine "Göttin Natura" paßt nicht in das uniform-bigotte Bild, das wir gewöhnlich vom Mittelalter haben; sie wurde auch von frommen Eiferern bekämpft, aber es gab Möglichkeiten der Adaption. Auch die Personifizierung des Genius ist ein ungewöhnlicher Vorgang; Modersohn deutet diese Figur, Le Goff folgend, als den Patron oder Inbegriff des Intellektuellen im Mittelalter, sie erwähnt antike Skulpturen als Vorlagen; ich würde eher an die neuplatonische Hierarchie von Gott - Intelligentia - Natura denken, die der Liber de causis verbürgte und auch von den orthodoxesten Scholastikern in Anspruch genommen worden ist. Die Autorin betont denn auch: "Wir befinden uns nicht auf häretischem Boden, zumindest nicht aus der Sicht des zwölften bis vierzehnten Jahrhunderts." Die Verehrung der Natur wird als Kniefall dargestellt: "Durch diesen Kniefall entstand Neues: bei Brunetto Latini die volkssprachliche Enzyklopädie, bei Jean de Meun die volkssprachliche Philosophie, bei Guillaume de Machaut die vertonte volkssprachliche Dichtung und die Ars nova seiner Musik."
Dieses Buch berührt diskret und immer detailliert, aber in klarer Diktion eine Reihe übergeordneter Themen wie die Geschichte des Naturbegriffs, das Verhältnis von Naturselbständigkeit und christlichem Denken, das Verhältnis von Tod und Natur, auch die Rolle der Astrologie. Es greift ein in die Diskussion um Übernahme antiker Gottheiten oder mittelalterliche Neuschöpfung im Felde der Mythologie. Es illustriert die Philosophiegeschichte, stellt es doch das Autonomiebestreben mittelalterlicher Philosophen und die Entwicklung einer eigenen philosophischen Ikonologie dar und bezieht sie auf die soziale, politische und intellektuelle Verselbständigung der mittelalterlichen Laien. Indem die Natura selbst Künstlerin ist, verschwindet der Gegensatz von Natur und Kunst. Gott, die Natur und der Künstler schaffen in gemeinsamer Kreativität.
Bemerkenswert ist folgendes Detail: Fast alle vorgestellten Natura-Motive haben das Mittelalter nicht überlebt. Wie kommt das? Mit dieser Frage ließe sich die Analyse des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts neu beginnen. Natürlich war der Topos falsch, die Renaissance habe die Natur entdeckt. Sowohl das zwölfte als auch das siebzehnte Jahrhundert haben die Natur entdeckt, nur auf entgegengesetzte Weise, das fünfzehnte Jahrhundert war kein radikaler Neubeginn, aber es hat mit der Zentralperspektive, dem die spätmittelalterliche Mathematisierung der Natur vorgearbeitet hatte, ebenfalls neue Natur-Wege beschritten; nur hatte es - anders als das siebzehnte Jahrhundert - die Mathematisierung auf die Eindrücke des unbewaffneten Auges bezogen. Danach erst haben Teleskop und Mikroskop die Göttin Natura konsequenter vertrieben, als es die theologische Dogmatik und die klerikale Zensur im Mittelalter je vermocht hätten. KURT FLASCH
Mechtild Modersohn: "Natura als Göttin im Mittelalter". Ikonographische Studien zu Darstellungen der personifizierten Natur. Akademie Verlag, Berlin 1997. 382 S., 186 Abb., geb., 148,- DM.
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