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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Buch über Russlands Oppositionsführer will mit westlichem Schwarz-Weiß-Denken aufräumen
Die Geschichte von Russlands berühmtestem Oppositionellen taugt eigentlich für einen packenden Kriminalroman. Alexej Nawalnyj, Sohn einer Buchhalterin und eines Offiziers, schreibt sich den Kampf gegen Korruption auf die Fahnen. Er ist scheinbar furchtlos, eckt schnell bei den Mächtigen an, macht mit rassistischen Aussagen von sich reden, bewirbt sich um den Bürgermeisterposten in Moskau. Dann schüttet ihm jemand Säure ins Gesicht, schließlich folgt der schlimmste Angriff auf ihn im August vergangenen Jahres: die Vergiftung mit dem Kampfstoff Nowitschok, die Nawalnyj knapp überlebt.
"Haben Sie keine Angst?", sind denn auch die vier Worte, mit denen die Autoren ihr Buch über den Oppositionellen beginnen: "Nawalny. Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft". Zugerufen hat die Frage Nawalnyj einer der vielen Journalisten an Bord, als Nawalnyj im Januar 2021 das Flugzeug zurück nach Russland bestieg. Wenige Stunden später wurde er in Moskau festgenommen und sitzt bis heute in Haft. Doch Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet und Ben Noble haben keinen Krimi geschrieben, sondern ein Sachbuch. Ein ziemlich nüchternes noch dazu. Umso wertvoller ist dessen Beitrag zu der mitunter hitzigen Debatte um die Figur Nawalnyj. Durch den knapp überlebten Giftanschlag rückte er endgültig international in den Fokus - und damit auch seine nationalistischen Eskapaden in den 2000er-Jahren, häufig jedoch ohne Einordnung.
Das Schwarz-Weiß-Denken, das oft mit dem westlichen Blick auf Russland einhergehe, "diese teils ideologische, teil naive Sichtweise", stoße bei der Beschäftigung mit Nawalnyj schnell an seine Grenzen, schreiben die drei Autoren. "Die Menschen sind nicht zu Unrecht verwirrt." Nawalnyj sei eine komplexe Persönlichkeit: Ein Liberaler, der nationalistische Erklärungen abgegeben habe, ein russischer Patriot, der zu internationalen Sanktionen gegen russische Behörden aufrufe, ein bekennender Demokrat, der seine Bewegung mit starker Hand führe.
Und so nähern sich die Politikwissenschaftler Dollbaum, Lallouet und Noble aus Deutschland, Frankreich und England ihm über drei Bilder Nawalnyjs: den Antikorruptionskämpfer, den Politiker und den Straßenaktivisten. Die detaillierten Beschreibungen reichen von den frühen Anfängen - dem Kleinaktionär, der auf Hauptversammlungen die Vorstandschefs von Unternehmen mit unbequemen Fragen in Verlegenheit brachte und die Ungereimtheiten auf seinem Blog niederschrieb - bis zu Nawalnyjs Rückkehr nach Russland, seiner Festnahme und der Frage, welche Rolle er in Zukunft spielen wird.
Zwar geht es im Kern immer um die Person Nawalnyj. Doch der Leser erfährt ebenso viel über die liberale Opposition in Russland und ihre Streitereien, über die weitverbreitete Korruption und deren Bedeutung für die Machtstrukturen. Der jüngste große Coup des Oppositionsführers war die Recherche zu Wladimir Putins Palast am Schwarzen Meer, die inzwischen fast 120 Millionen Mal bei Youtube angeklickt wurde und auf die der russische Präsident wenigsten insofern reagieren musste, dass er den Besitz des Palasts bestritt. Und so wechseln die Autoren nach den drei thematischen Einzelbetrachtungen des Oppositionellen mit dem nächsten Kapitel auch die Perspektive. Nawalnyj sei zur "wichtigsten politischen Gegenmacht des Landes geworden - und sein zweitwichtigster Politiker, auch wenn Peskow [Putins Sprecher] das niemals zugeben würde". Immer unverhohlener autoritär sei der Kreml deswegen auch im Laufe der Jahre aufgetreten.
Getroffen haben die Autoren den russischen Oppositionsführer nicht. Als die Idee für das Buch im Frühjahr entwickelt wurde, erzählte Dollbaum im Gespräch mit der F.A.Z., habe Nawalnyj schon im Gefängnis gesessen. Die Einblicke in seine mittlerweile als "extremistisch" eingestufte und zerschlagene Stiftung zum Kampf gegen Korruption stammen aus Gesprächen mit Mitstreitern. Doch es hätte den detaillierten Schilderungen von Nawalnyjs Aufstieg zuweilen gutgetan, mehr persönliche Eindrücke von dessen "Volten" und "Widersprüchen" aus seinem Umfeld zu hören. Denn, so schreiben die Autoren selbst: "Auch wenn es letztlich nicht immer um Nawalny geht, hat er das Drängen der Menschen auf Veränderung immer wieder vereinigt und gelenkt." Er sei seine "alternativlose Alternative".
Die Autoren schreiben gleich zu Beginn, der "Kampf Gut gegen Böse", den viele Kommentatoren herbeigeschrieben hätten, gerate im Fall Nawalnyj schnell an seine Grenzen. Doch auch in ihrem sorgfältig recherchierten und ausgewogenen Buch wird deutlich, wo ihre Sympathien liegen. Sie kommen aber glücklicherweise ohne Überhöhungen aus, bieten stattdessen fundierte Einordnungen und den Kontext, der für ein vollständiges Bild dieser schillernden Figur nötig ist. SOFIA DREISBACH
Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet, Ben Noble: Nawalny. Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2021. 288 S., 20,- Euro.
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