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Tobias Roth porträtiert Neapel mit Texten der Renaissance
Renaissance in Neapel - das ist die Kirche Sant'Angelo a Nilo, das Triumphtor am Castel Nuovo, die Porta Capuana, das sind Paläste und Monumente der damals drittgrößten Stadt Europas, in der Alfonso d'Aragona, der von 1442 bis 1458 regiert, mit einem urbanen Erneuerungsprogramm tatsächlich eine Art Wiedergeburt einleitet. Aber es ist nicht nur die Architektur, sondern mehr noch das Buch, das, weniger sichtbar und gut erhalten, zur Blüte kommt. Der, so sein sprechender Beiname, "Magnanimo" gründet eine Hofbibliothek, um die er Dichter und Philosophen, Humanisten und Historiker schart. "Liber sum", lautet sein doppelsinniger Wahlspruch.
Der Renaissanceforscher Tobias Roth lenkt den Blick auf dieses wenig bekannte Kapitel und hebt es mit einer kenntnisreich komponierten Anthologie, die sich zum Stadtporträt fügt, ans Licht. Ein berühmter Florentiner, der vom dreizehnten bis siebenundzwanzigsten Lebensjahr in Neapel zu Hause war und zum poetischen Leitstern wurde, dient als Türöffner: Giovanni Boccaccios Brief an einen befreundeten Spross der Bankiersfamilie Bardi ist, im neapolitanischen Dialekt verfasst, als doppelbödiges Experiment angelegt, das mit Paradoxien jongliert und wortspielerisch die Sprachebenen wechselt. Roth, der die Auswahl auch übersetzt hat, stellt ihn erstmals auf Deutsch vor.
Mehr als die Hälfte der zwölf Autoren, die folgen, sind den einschlägigen Literaturgeschichten keine Erwähnung wert. Stadtlob und Herrscherlob, Lyrik, auch solche, die Obszönitäten in feine Distichen kleidet, Episoden, Anekdoten, Auszüge aus Chroniken und Abhandlungen, Reflexionen über die Göttin Fortuna und die Bestialität, ein Augenzeugenbericht über die Feuerschlünde von Pozzuoli, Epigramme und Sonette aus dem Kerker, Gelegenheits- und Widmungsgedichte, Liebes- und Klagelieder, Schäferroman und Eklogen belegen die klassische Gelehrsamkeit und vielstimmige Vitalität der "Metropole in der Mitte des Mittelmeers". Die Novelle ist die vorherrschende Gattung.
Dem "Novellino" des Masuccio Salernitano, der 1476 postum zum Bestseller wurde und 1559 auf den ersten Index kam, ist eine bissige Satire auf den korrumpierten Klerus entnommen: "Die Unterhose des heiligen Griffone" erzählt von einem lüsternen Mönch, der das Kleidungsstück im Bett seiner verheirateten Geliebten liegen lässt, woraufhin diese, von ihrem Gatten zur Rede gestellt, es zur Reliquie erklärt - ein derb-komisches Tausch- und Täuschungstheater, wie es Antonio De Curtis alias Totò hätte aufgreifen oder Luciano De Crescenzo hätte fortschreiben können.
Roth bettet die Texte in ausführliche Kommentare und bestimmt die machtpolitischen und kulturgeschichtlichen Konstanten, zwischen Anjou und Aragón, Buchdruck und Akademien, neulateinischer und volkssprachlicher Dichtungstradition. Eine Entdeckung macht er mit Laura Terracina, die zwischen 1548 und 1567 acht Lyrikbände veröffentlicht und feministische Töne anschlägt: "Ich will sprechen, doch die Stimme stockt vor Wut, / denn ich kämpfe allein für unser Geschlecht. / Schon länger spornen mich Begehren und Glut / zur Rache, doch sie ist mir nicht so recht / gestattet gegen jene, die, dumm aufs Blut, / nur allzu oft über Frauen schlecht sprechen", schreibt sie in den "Discorsi", die es auf siebzehn Nachauflagen bringen, und appelliert an die Frauen: "Werft die Nadel fort, um dann begierig nur / auf Arbeit mit Feder und Blatt zu sinnen. Dann steigt euer Ruhm nicht weniger empor / als der jener, die mich so sehr verstimmen."
Der Band ist schön gestaltet und ausgestattet. Um sich als "literarischer Reiseführer" empfehlen zu können, fehlt aber eine Karte: An der Kapelle, die Giovanni Pontano gegenüber seinem (1926 abgerissenen) Stadthaus in der Via dei Tribunali an die Kirche Santa Maria Maggiore alla Pietrasanta baute, führt jeder Neapel-Besuch vorbei, doch wie findet der Leser die kleine Kirche, die Jacopo Sannazaro in der Nähe seiner Villa Mergellina am Hang des Posillipo errichtete? Nach dem Panorama, das er in dem Folianten "Welt der Renaissance" (F.A.Z. vom 23. Oktober 2020) entfaltet, stellt Roth die Ausprägungen der Epoche in einzelnen Städten vor. Neapel hat, der Verlagspate verpflichtet, den Vortritt; Florenz, Rom und Venedig sind angekündigt. ANDREAS ROSSMANN
Tobias Roth (Hrsg.): "Welt der Renaissance: Neapel".
Galiani Verlag, Berlin 2023. 208 S., Abb., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Renaissance-Forscher Tobias Roth
stellt ein Buch über Neapel vor
Laura Bacio Terracina ist zweifelsfrei zornig. „Ich will sprechen, doch die Stimme stockt vor Wut, / denn ich kämpfe allein für unser Geschlecht. / Schon länger spornen mich Begehren und Glut / zur Rache, doch sie ist mir nicht so recht / gestattet gegen jene, die, dumm aufs Blut, / nur allzu oft über Frauen schlecht sprechen“, schreibt die mit Abstand auflagenstärkste Dichterin ihrer Zeit in den „Discorsi“ an die „Feinde der Frauen“.
Die um 1519 geborene Schriftstellerin, über die man wenig Gesichertes weiß, ist die einzige Frau unter den dreizehn Autoren, die der Münchner Lyriker und Literaturwissenschaftler Tobias Roth in seinem neuen Buch vorstellt. 2020 hatte er den grandiosen, 640 Seiten starken Folianten „Welt der Renaissance“ (Galiani) veröffentlicht und darin 68 Schriftsteller vorgestellt, deren Texte er aus dem Italienischen oder Lateinischen übersetzt hatte. Jetzt konzentriert er sich auf einzelne Städte, um die stilistische Bandbreite der oft fast vergessenen Autoren dieser Epoche zu dokumentieren. Neapel ist der erste Band dieser Reihe gewidmet, denn dort spielte sich laut Roth die Renaissance hauptsächlich in der Literatur ab. Als Folgebände sind Florenz, Rom und Venedig bereits angekündigt.
Wieder bietet Roth spannende Entdeckungen, darunter Giovanni Boccaccios doppeldeutigen Brief an einen Freund aus der Bankiersfamilie Bardi, den ältesten erhaltenen Beleg einer Prosa im Neapolitaner Dialekt. Der später so berühmte Autor des „Il Decamerone“, 1313 in Florenz geboren, zog als 14-Jähriger mit seinem Vater nach Neapel, lebte dort bis 1340 und schrieb dort auch jenen Brief, ein amüsantes Spiel mit verschiedenen Sprachebenen. Wie gewohnt liefert Roth auch autobiografische Skizzen, kommentiert die Texte kenntnisreich, ordnet sie in die jeweilige Machtpolitik ein.
Erschütternd sind die Sonette, die Giovanni Antonio Petrucci, um 1456 geboren und im August 1486 verhaftet, aus dem Kerker schreibt. 83 Sonette dichtete er, bis er im Dezember hingerichtet wurde, düster gestimmte Verse, in denen er über Vergänglichkeit und Verhängnis nachsinnt. „Mag mir die grausame Fortuna allen / Besitz und alle Güter, allen Stand / entrissen haben mit ihrer schnellen Hand, / und auf mich gießen ihre bittren Gallen“, so fühlte sich Petrucci bei allem Leid doch nicht allein, blieben ihm doch seine Bildung und die „Schätze seines Geistes“. Denn die, so schrieb er, „vermag aus meinem Herzen kein / Verhängnis zu reißen und Fortuna bleibt / hier machtlos und so kann ich selig sein.“
SABINE REITHMAIER
Welt der Renaissance: Neapel, Hrsg. Tobias Roth, Galiani Verlag. Buchvorstellung am Donnerstag, 28. September, 19.30 Uhr, Literatur Moths, Rumfordstr. 48, li-mo.com
Tobias Roth.
Foto: Axel Gundermann
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