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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Moderne zur Auswahl: Sven Hillenkamp versucht eine Zeitdiagnose und landet mit ihr wortreich im Ungefähren
Wer die Gegenwart in zeitdiagnostischer Absicht verstehen will, bedient sich in der Regel eines theoretischen Apparats, der dazu Begriffe und Modelle stellt. So reden die Schüler Michel Foucaults von Diskursen und Dispositiven, jene Ulrich Becks von reflexiver oder zweiter Moderne, andere analysieren den "neuen" Kapitalismus, den Postkapitalismus oder die Postdemokratie. Unzufrieden mit diesen Ansätzen, sucht der Schriftsteller und Philosoph Sven Hillenkamp in seinem Buch nach alternativen Kategorien, um die Gegenwart auf den Begriff zu bringen. Was ihm in den überkommenen Modellen fehlt, ist vor allem die Dimension der menschlichen Erfahrung, deren Leidensformen aus dem Blick gerieten, wenn nur von Märkten, Diskursen oder Medien die Rede ist.
Damit die menschliche Erfahrung zur Sprache kommt, entwickelt Hillenkamp ein Vokabular, das eigentümlich quer steht zu den akademisch geadelten Großtheorien. Was ist etwa die "negative" Moderne, die dem Buch als Titel dient? Sie soll keine Epoche markieren, die einer "positiven" Moderne gefolgt sei, sondern sei ihr "später" Zwilling, der sie nun unausweichlich begleitet. Wo die "positive" Moderne, wie es einigermaßen undeutlich heißt, für "Füllung und Überfüllung, Überdeterminierung, Überstrukturierung und Überflutung" steht, da steht die negative Moderne nun für "Wertlosigkeit, Strukturlosigkeit, Unfähigkeit, Möglichkeit, Bezugslosigkeit". Die der negativen Moderne ausgesetzten Subjekte "stürzen", sie verlieren den Boden, ihre Zeit "verbreit", sie könnten vieles tun und tun doch nichts, sie glauben, nichts erreicht zu haben, sind ein Niemand, "nicht interessant, nicht attraktiv, nicht liebenswert".
Hillenkamp veranschaulicht diese Thesen gelegentlich an Arbeitslosen, Rentnern, Flüchtlingen, Kranken, Selbständigen, jungen Menschen oder auch, freilich auf eher peinliche Weise, an selbstmörderischen Literaturgenies wie Sylvia Plath und Anne Sexton. Was eint diese disparaten Gruppen? Sie sind in den Augen Hillenkamps in gewisser Weise frei, sogar radikal frei, aber ihr Leben verharre im Konjunktiv, sie sehen überall Möglichkeiten, aber keinen Weg zu deren Realisierung. Das Mögliche, so wird Hillenkamp sagen, bleibt "nur als ein Mögliches anwesend", es entzieht sich, entfernt sich in der Zeit, die dadurch jede Struktur verliert. Und weil die Verwirklichung des Möglichen nicht am Subjekt hängt, ist es in seiner scheinbaren Freiheit doch unfrei. So entleere sich das Selbst just in dem Augenblick, da es ganz auf sich zurückgeworfen wird, und stürze ins "Nichts der Zeit", ins "Nichts des Anderen", ins "Nichts des Wertes" - das ist die "reale Erfahrung", die das Buch wortreich artikulieren will.
Leider nur bleibt die Sprache, in der Hillenkamp die uns vertrauten und doch angeblich unangemessen verstandenen Erfahrungen auf den Punkt bringen will, anstrengend, verliert sie nicht selten im Vagen, gerät häufig auch zum Unsinn. So geht Hillenkamp etwa davon aus, dass die Sehnsucht der Deutschen des Dritten Reichs auf die Anerkennung durch Führerpersönlichkeiten ging. Ihr Werben um die Gunst von Oberabschnittsleitern, SS-Standartenjunkern, Reichsverwesern und schließlich um die Gunst Adolf Hitlers habe eine Parallele in unserem Werben um die Gunst von Redakteuren, Intendanten, Galeristen, Verlegern, Lesern, Zuschauern, um die Gunst von Mama und Papa, Tom und Julia oder, "schlicht und wahrheitsgetreu", um die Gunst eines jeden Du. Selbst wenn man einräumt, dass das "spätmoderne" Subjekt seinen Wert wesentlich durch die Anerkennung anderer erhält (oder eben nicht), ist es doch wenig plausibel, an diesem Punkt keine weiteren Differenzierungen einzuführen. Julia ist nicht Hitler, und Papa ist nicht Goebbels, wenn Julia mich verstößt, bin ich unglücklich, wen Hitler "verstieß", der war im Zweifelsfall tot.
So bleibt Hillenkamp, obwohl er doch Erfahrung "auslegen" will, oberflächlich und verliert sich oft in selbstverliebten Sprachspielen, ohne dass man wüsste, wozu nun die Kategorie der negativen Moderne wirklich brauchbar sein soll. Sicher, es mag Erfahrungen der totalen Zeitverbreiung oder der massiv erlittenen Struktur- und Wertlosigkeit geben. Aber hat uns eine Sprache für die Erfahrungen der Arbeitslosen, der Alten, der Jungen oder der Kranken gefehlt? Wir haben die Literatur, das sieht Hillenkamp selbst, wir haben die Reportagen Barbara Ehrenreichs oder Bourdieus Studie über "Das Elend der Welt". Und ist es überhaupt sinnvoll, die Erfahrungen dieser unterschiedlichen Gruppen über einen Kamm zu scheren, sie gar zum Signum eines wie immer verstandenen Epochenbegriffs zu machen?
Hillenkamps Buch vermag dies nicht zu zeigen, auch weil der Begriff der "positiven" Moderne als Folie oder eben "Zwilling" der negativen Moderne verschwommen bleibt. Man weiß nie so genau, was gemeint ist, und wenn es einmal konkreter wird, wenn etwa Rassismus, Nationalismus oder Islamismus als Kennzeichen der positiven Moderne genannt werden, dann erschließt sich nicht recht, inwieweit Erfahrungen der Wert- oder Bezuglosigkeit sinnvoll ihre andere Seite sind. Zwischen Überdeterminiertheit und Unterdeterminiertheit scheint es keine Alternativen zu geben, das aber erfasst weder die Theorielandschaft angemessen noch die Wirklichkeit, in der wir leben.
MARTIN HARTMANN.
Sven Hillenkamp: "Negative Moderne". Strukturen der Freiheit und der Sturz ins Nichts.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016. 384 S., geb., 24,95 [Euro].
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